127. Deutscher Ärztetag in der Ruhrmetropole Essen

Das Folkwang Kammerorchester Essen spielte zum Auftakt des 127. Deutschen Ärztetags in der Essener Philharmonie.

Mit dem traditionellen Bergmannsmarsch „Steigerlied“ sowie klassischer Musik von Beethoven und Mozart, dargeboten vom „Folkwang Kammer­orchester Essen“, wurde am 16. Mai 2023 der 127. Deutsche Ärztetag (DÄT) in Essen eröffnet. Mehrere spannende Schwerpunktthemen standen im Fokus des viertägigen Kongresses in der ehemals größten Bergbaustadt des Kontinents: Unter dem Titel „Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“ befasste sich das Ärzte­parlament mit dem aktuellen Verständnis und der Rolle des ärztlichen Berufsbildes. Außerdem beriet der DÄT, wie die Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen zukünftig noch besser gefördert werden kann. Die Abgeordneten fassten während der Hauptversammlung der Bundesärztekammer (BÄK) auch mehrere wegweisende Beschlüsse. So forderte der DÄT eine zügige Reform der Approbationsordnung für Ärztinnen und Ärzte, eine nationale ­Reserve für versorgungsrelevante Arzneimittel, einen Praxischeck von Gesundheitsreformen durch den Gesetzgeber und eine bundesweite Strategie zur Gesundheitsbildung an Schulen.



Abbildung 1: Dr. Gerald Quitterer; Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) im Gespräch mit Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt und Gesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach (von rechts).

Glück auf!

In der imposanten Essener Philharmonie begrüßte Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, die versammelten Abgeordneten und Gäste mit einem herzlichen „Glück auf!“, dem deutschen Bergmannsgruß. In seiner Rede erinnerte Henke an den 69. DÄT 1966 in Essen, der die Grundlagen für die Einführung von Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen gelegt und damit zum Siegeszug der präventiven Medizin in Deutschland beigetragen habe. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Alterung der Gesellschaft, eines Ansteigens von Krankheiten wie Demenz und Krebs, weitverbreiteter ungesunder Ernährung sowie Millionen von Deutschen, die von Suchtmitteln wie Alkohol und Nikotin abhängig seien, komme der ärztlichen Prävention sowie der Gesundheitsförderung heute eine besonders ­hohe Bedeutung zu. Denn diese könne „abmildern, vermeiden, entgegenwirken, persönliches Leiden mindern sowie direkt und indirekt Kosten und Personalressourcen reduzieren“. In diesem ­Zusammenhang forderte Henke mehr Präventionskampagnen – insbesondere in den Schulen – und trat den aktuellen Plänen der Bundesregierung zur Legalisierung von Cannabis entschieden entgegen. Damit werde dem Kinder- und Jugendschutz ein Bärendienst erwiesen.

Anschließend betrat Karl-Josef Laumann, Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW), das Podium. Als entscheidende Herausforderung für das Gesundheitssystem identifizierte Laumann den gegenwärtigen Fachkräftemangel in der Medizin, der aufgrund des demografischen Wandels in den kommenden Jahren noch weiter ansteigen werde. Um diesem zu begegnen, werde NRW unter anderem bis 2025 an der Medizinischen Fakultät der Universität Bielefeld 300 zusätzliche Studienplätze für Humanmedizin schaffen. Kritisch beurteilte der Minister die Zunahme ­investorenbetriebener Medizinischer Versorgungszentren (iMVZ) in NRW, da diese primär darauf ausgerichtet seien, Rendite zu erwirtschaften. Patientinnen und Patienten müssten sich aber darauf verlassen können, medizinischen Rat zu erhalten, der nicht von finanziellen Interessen geprägt ist. Außerdem plädierte Laumann für eine Stärkung der ärztlichen Freiberuflichkeit und berichtete über die Reform der nordrhein-westfälischen Krankenhausplanung. Diese orientiere sich in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland nicht mehr an der Bettenanzahl, sondern an Leistungs­bereichen und -gruppen. Über die Transformation der Ruhr-Metropole von einer Bergmannstadt zur „grünen Hauptstadt“ Deutschlands sprach Thomas Kufen, Oberbürgermeister der Stadt Essen, in seinem Grußwort. Während des 69. DÄT sei Essen noch von Luftverschmutzung und Lärm geprägt gewesen. Heute werde das Stadtbild von weitläufigen Parks und Grünflächen dominiert. Gleichzeitig sei Essen 2010 zur Kulturhauptstadt Europas ernannt worden und habe damit die Zeiten als „Waffenschmiede des Deutschen Reichs“ hinter sich gelassen. Auch im Gesundheitssystem habe eine Transformation stattgefunden. Essen sei mit 48.000 Beschäftigten im Gesundheitssektor heute ein starker Medizinstandort, an dem internationale Spitzenforschung stattfinde. „Unsere Universitätsmedizin gehört zur Champions League. Besser man bleibt gesund, aber wenn Sie krank werden, dann in Essen“, so Kufen.

Reinhardt fordert Novelle der GOÄ

„Herr Minister, Sie haben zweifellos eine Vision von der Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens. Altkanzler Helmut Schmidt hat dazu einmal gesagt: Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. In diesem Sinne heiße ich Sie herzlich willkommen auf dem Deutschen Ärztetag“, erklärte Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der BÄK, in seiner Grundsatzrede, in der er Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach, scharf angriff.

So forderte Reinhardt Lauterbach dazu auf, seine „ideologiegetriebene“ Blockadehaltung gegenüber der von der BÄK seit vielen Jahren geforderten Reform der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) aufzugeben und diese endlich auf den Weg zu bringen. Als Verordnungsgeber sei er in der Pflicht, eine transparente und rechtssichere Abrechnung privatärztlicher Leistungen auf der Grundlage einer stets aktuellen Gebührenordnung sicherzustellen. „Die Geduld der Ärztinnen und Ärzte in Deutschland ist zu Ende“, sagte Reinhardt. Manche Ärzte sähen aktuell nur noch den Weg, die überfällige Novelle der GOÄ vor dem Verwaltungsgericht durchzusetzen. Dabei sicherte er ihnen die Unterstützung der BÄK zu.

Darüber hinaus habe er den Eindruck, dass der Minister wenig Interesse an der Sicherung und Förderung der wirtschaftlich selbstständigen vertragsärztlichen Praxen habe. Denn wenn die Politik den ambulanten Sektor in den Blick nehme, dann um zu kürzen und zu streichen. So sei der Wegfall der Neupatientenregelung ein ­Affront gegenüber den Ärzten gewesen, die in der Pandemie herausragendes geleistet hätten und tagtäglich bis an die Belastungsgrenze gegangen seien. „Anstatt diesen Einsatz zu würdigen, zum Beispiel durch einen Bonus für Medizinische Fachangestellte, wie ihn auch Pflegekräfte erhalten haben, wird der Rotstift angesetzt“. Und während man es den Ärzten in der ambulanten Versorgung immer schwerer mache, plane man gleichzeitig den Aufbau von teuren Parallelstrukturen – etwa von Gesundheitskiosken oder Gemeindeschwestern, die nur neue Schnittstellen- und Abstimmungsprobleme verursachen würden.

Mehr Einbezug ärztlicher Expertise sei auch und gerade bei der geplanten Krankenhaus­reform notwendig. Reinhardt unterstütze zwar die Ziele der vom Bund geplanten Novelle: „Auch wir fordern seit langem, dass die Bundesregierung die Krankenhausplanung und insbesondere auch die Krankenhausvergütung neu aufstellt: Die Fallpauschalen heutiger Prägung führen zu ökonomischen Fehlanreizen und extremer ­Arbeitsverdichtung auf den Stationen. Das kann so nicht bleiben!“ Es sei aber notwendig, den Ländern ausreichend Spielraum zu geben, um die Reform auf ihre ­regionalen Bedürfnisse auszurichten. Außerdem müsse bei der Novelle eine enge Verzahnung mit dem ambulanten vertragsärztlichen Bereich mitgedacht werden.

Besonders kritisierte der BÄK-Präsident in seiner Rede viel zu kurze Fristsetzungen für schriftliche Stellungnahmen bei Gesetz­gebungsverfahren. Mitunter gewähre das Bundesgesundheitsministerium der BÄK nur wenige Stunden Zeit, um Gesetzentwürfe zu analysieren und zu kommentieren. „Dabei handelt es sich um umfangreiche und komplexe Gesetze und Verordnungen, die zu prüfen und zu bewerten mindestens Tage, wenn nicht Wochen in Anspruch nehmen würde“. Darunter hätten auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages zu leiden, denn auch sie würden von der Regierung oftmals erst „fünf vor zwölf“ informiert. Dieses Vorgehen sei „demokratiegefährdend“ und „eine nicht mehr länger hinnehmbare Dehnung unseres Rechtsstaates“.

Ebenfalls forderte Reinhardt eine praxis­nähere Digitalisierung des Gesundheitssystems sowie die Vorlage des angekündigten Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Regulierung von investorengeführten MVZ noch vor diesem Sommer.

Lauterbach: Brauchen 5.000 zusätzliche Humanmedizin-Studienplätze

Lauterbach begann seinen Vortrag mit einem Exkurs über seine Teilnahme am Gesundheitsminister-Treffen der G7-Länder in Japan, wo er sich auch über die zerstörerischen Folgen des Zweiten Weltkriegs für das Land informiert habe. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine appellierte der Minister, dass Moskau diesen rasch beenden müsse, um der Bevölkerung beider Länder weiteres Leid zu ersparen.

In Japan, dem Land mit der ältesten Bevölkerung der Welt, habe Lauterbach auch die Folgen einer alternden Gesellschaft für das Gesundheitssystem eines Landes aus erster Hand gesehen. Dort werde heute deutlich mehr pflegerisches und ärztliches Personal benötigt als in früheren Zeiten. Darauf müsse sich angesichts der demografischen Entwicklung auch die Bundesrepublik vorbereiten. Beifall erhielt der Minister in diesem Zusammenhang für seine Forderung nach einer Aufstockung der Humanmedizinstudienplätze in Deutschland. „Ich werde mich dafür einsetzen, die Zahl der Studienplätze um 5.000 zu erhöhen“, so Lauterbach.

Darüber hinaus werde die Bundesregierung ­Bürokratie im Gesundheitswesen abbauen und der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin entgegentreten. Aktuell arbeite er deshalb an einer stärkeren Regulierung von iMVZ ­sowie an der Behebung von Lieferengpässen bei Arzneimitteln, etwa durch eine stärkere Förderung europäischer Medikamentenhersteller. Hinsichtlich seiner Pläne zur Neugestaltung der Krankenhauslandschaft kündigte der Minister an, die ärztliche Selbstverwaltung werde „noch sehr viele Gelegenheiten“ bekommen, sich einzubringen. In jedem Fall sei es unerlässlich, die Fallpauschalen zurückzufahren und stattdessen eine Vorsorgevergütung einzuführen.

Den Hausärztinnen und Hausärzten stellte Lauterbach außerdem eine Entbudgetierung von Leistungen in Aussicht. Auf die Forderung von Reinhardt nach einer Reform der GOÄ ging der Minister in seiner Rede dagegen nicht ein. Dafür lud er die BÄK ein, gemeinsam an den verschiedenen „Baustellen“ im Gesundheitswesen mitzuarbeiten, die von seinen Vorgängern hinterlassen worden seien. Reinhardt nahm diese Einladung an.



Abbildung 2: Die Abgeordneten aus Bayern zum 127. Deutschen Ärztetag mit Dr. Gerald Quitterer, Präsident der BLÄK.

Erste Plenarsitzung – ein Beschlussmarathon

Traditionell richtete der amtierende Präsident der World Medical Association (WMA), Dr. Osahon Enabulele, ein Grußwort an die 250 Delegierten und die Gäste des 127. DÄT. Zahlreiche internationale Delegationen, beispielsweise aus Albanien, Japan oder der Ukraine, ließen sich die Eröffnung und die erste Plenarsitzung nicht entgehen. Doch dann ging es sogleich in medias res, standen doch wichtige gesundheitspolitische Weichenstellungen an. Die Aussprache zur Rede des Präsidenten und zum Leitantrag unter ­Tagesordnungspunkt I „Gesundheits-, Sozial- und ärztliche Berufspolitik“ brachte gleich zu Beginn eine wahre Antragsflut und einen Beschlussmarathon ein. Themen wie Cannabis-Legalisierung oder Arzneimittel-Lieferengpässe bargen einfach viel Zündstoff. So hat der 127. DÄT beispielsweise den Gesetzgeber aufgefordert, wichtige Reformen im Gesundheitswesen jetzt umzusetzen. Das Land brauche eine ganzheitliche und nachhaltig ausgerichtete Gesundheitspolitik, in deren „konzeptionelle Ausgestaltung der medizinisch-fachliche Sachverstand und das Versorgungswissen“ der Ärzteschaft einbezogen werden müssten. Nur die Partizipation der Akteure aus der Versorgung ermögliche praxistaugliche und planvolle Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit. In fast allen Ressorts der Bundesregierung werden durch politische Entscheidungen, aber auch durch das Ausbleiben politischer Entscheidungen, die gesundheitlichen Belange der Menschen tangiert. Beispielhaft zu nennen seien neben der originären Gesundheitspolitik unter anderem die Umwelt-, Bau-, Arbeits-, Bildungs- und Verbraucherschutzpolitik. Der DÄT 2023 schlug im Sinne des Ansatzes „Health in All Policies“ ­(HiAP) die Einrichtung eines ressortübergreifenden Deutschen Gesundheitsrats unter Beteiligung der BÄK und weiterer Vertreter der Selbstverwaltung sowie der Wissenschaft vor. Auch bei Reformen innerhalb des Regelungsbereichs des V. Sozialgesetzbuchs (SGB V) seien ganzheitliche Ansätze statt Sektorendenken zielführend. Ein weiterer Beschluss hatte die Krankenhausreform zum Inhalt. Die Ärzteschaft unterstützt das Ziel einer grundlegenden Reform von Krankenhausplanung und -vergütung. Deutschland brauche eine gut strukturierte, resiliente Krankenhauslandschaft. Dazu seien eine gestaltende Krankenhausplanung und ein echter Neustart bei der Vergütungs­systematik und der Investitionsfinanzierung erforderlich. Die Bedeutung einer starken ambulanten Versorgung für das gesamte Gesundheitssystem betonte ein weiterer Beschluss. Die Coronapandemie habe die fundamentale Rolle der ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verdeutlicht. Es sei umso empörender, dass den in den Arztpraxen und medizinischen Versorgungszentren (MVZ) tätigen Medizinischen Fachangestellten von staatlicher Seite eine Würdigung ihres unermüdlichen Engagements in der Pandemie verweigert und eine Bonuszahlung, wie sie andere Berufsgruppen erhalten haben, bis heute vorenthalten werde. Ein schwerer Fehler, der korrigiert werden müsse, sei auch die Abschaffung der Neupatientenregelung gewesen. Auch eine Reform der Notfallversorgung sei überfällig. Das künftige System der Akut- und Notfallversorgung müsse stimmige, patientenorientierte und durch Ärzte koordinierte verbindliche Versorgungs­pfade vorgeben. Es sei richtig, dass nach den Empfehlungen der Regierungskommission dabei im Wesentlichen auf die Vernetzung der prinzipiell funktionierenden und praxistauglichen Strukturen gesetzt werden solle. Die Schaffung von neuen Versorgungsbereichen oder Doppelstrukturen wäre hingegen kontraproduktiv. Unabdingbar sei die Einbeziehung des Rettungsdienstes in einen ganzheitlichen Reformansatz. MVZ böten Ärzten Gestaltungsmöglichkeiten sowohl für eine Tätigkeit im Angestelltenverhältnis als auch für eine selbstständige Tätigkeit als (Mit-)Gründer. Patienten könnten in MVZ von der Vernetzung zwischen den Fachgebieten profitieren. Der ­Gesetzgeber müsse diese sinnvolle Versorgungsoption vor einer investorengesteuerten Kommerzialisierung bewahren, so ein weiterer Beschluss. Die Digitalisierung, habe das Potenzial, sowohl die Prozesse als auch Strukturen der gesundheitlichen Versorgung positiv zu verändern, waren sich die Abgeordneten einig. Sie werde aber nur dann Erfolg haben, wenn sie sowohl Patienten als auch Ärzten einen spürbaren Mehrwert böte. Mit der Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen habe die Bundesregierung zumindest ein erstes grobes „Zielbild“ gezeichnet. Die konkrete Ausgestaltung zentraler Vorhaben, wie die „Opt-out-Regelung“ für die elektronische Patientenakte (ePA), bleibe jedoch vage. Das Vertrauen der Patienten auf einen verantwortungsvollen Umgang mit ihren Daten setze Transparenz und praktikable Möglichkeiten zum Widerspruch voraus. Die GOÄ-Novelle unverzüglich einzuleiten, war Gegenstand eines wiederholten Grundsatzbeschlusses. Ein vollständiges Konzept für eine moderne, rechtssichere und transparente GOÄ mit arztseitig betriebswirtschaftlich kalkulierten Preisen wurde von der BÄK an das Bundesministerium für Gesundheit übergeben und der Verordnungsgeber wurde erneut aufgefordert, tätig zu werden. Auch die Nachwuchsförderung war Thema am Ärztetag. Deutschland brauche mehr Medizinstudienplätze, ein modernes ­Medizinstudium und bessere Arbeitsbedingungen. Die Zahl der Medizinstudienplätze an staatlichen Hochschulen soll um bundesweit 6.000 erhöht werden, so die Forderung. Schließlich sprachen sich die Abgeordneten für einen Neustart von Prävention und Gesundheitsförderung aus. Als Folge der Pandemie seien gesundheitsfördernde Verhaltensweisen und die Teilnahmequoten an Früherkennungsuntersuchungen zurückgegangen, während gesundheitsschädliche Lebensstilmuster zugenommen hätten. Das werde gravierende Folgen für die einzelnen Betroffenen und für das Gesundheitssystem haben. Die Ärzteschaft forderte eine politische Strategie, wie Verhaltens- und Verhältnisprävention im Rahmen eines HiAP-Ansatzes gestärkt und Gesundheitskompetenz in allen Lebenswelten gefördert
werden könne.

Der 127. DÄT forderte ferner, dass Bund und Länder die Reform der Approbationsordnung für Ärzte zügig voranbringen müssen. Zukünftige Ärzte bedürften einer modernen und praxis­nahen Ausbildung an Patienten. Die Umsetzungsfrist der Reform auf 2027 zu verschieben, sei „nicht hinzunehmen“. Schließlich befasste sich die Ärzteschaft mit der Arzneimittelversorgung. Die Bundesregierung müsse eine nationale Arzneimittelreserve für versorgungskritische und versorgungsrelevante Arzneimittel einrichten. Auch müssten Anreize geschaffen werden, die Produktion von Arzneimitteln in europäische Länder zurückzuführen – einschließlich der Produktion von Ausgangs- und Hilfsstoffen.

Freiberuflichkeit und Gesundheitsbildung

Zum Tagesordnungspunkt II, der mit „Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession“ überschrieben war, haben die Abgeordneten in der sogenannten Essener Resolution den Wert der Freiheit und Verantwortung in der ärztlichen Profession herausgestellt. Ärzte richten ihr ärztliches Handeln am Wohl der Patienten aus, unabhängig von kommerziellen Erwartungshaltungen Dritter, heißt es darin. Des Weiteren wurde eine systematische und strukturelle Einbindung der Ärzteschaft bei allen gesundheitspolitischen Prozessen, Reformvorhaben und Gesetzesverfahren gefordert – systematische Partizipation. In der Debatte wurde der „Bedeutungsverlust der ärztlichen Freiberuflichkeit“ beklagt. Es ­referierte Peter Müller, Richter des Zweiten Senats am Bundesverfassungsgericht und ehemaliger saarländischer Ministerpräsident, vor den Delegierten des Ärztetags in Essen. Dieser sagte wörtlich: „Freiberuflichkeit ist wertvolle gesellschaftliche Ressource“. In einem mitreißenden und viel beachteten Vortrag machte sich der Verfassungsricher stark für die Freiberuflichkeit, die „kein Ort für marktradikale Ansätze“ sei. Ökonomische Zwänge, dazu immer mehr Bürokratie und Vorschriften – die ärztliche Freiberuflichkeit stehe enorm unter Druck.

Mit großer Sorge blickte die Ärzteschaft auf die gesundheitlichen Folgen von Bewegungsmangel, Übergewicht oder Drogenkonsum bei Kindern und Jugendlichen. Der Ärztetag hat deshalb mit überwältigender Mehrheit nachhaltige Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitsbildung junger Menschen gefordert. Kitas und Schulen spielten eine entscheidende Rolle dabei, Kindern und Jugendlichen Wissen und Kompetenzen für eine gesunde Lebensführung zu vermitteln. Das Bildungssystem könne sicher nicht alle Fehlentwicklungen stoppen. Dennoch wäre es zukunftsweisend, bundesweit, an allen Schulen, Gesundheitsthemen fächerübergreifend zu vermitteln. Zum Tagesordnungspunkt III „Gesundheitsbildung: Vom Wissen zum Handeln“ referierten Dorothee Feller, Ministerin für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen und Professor Dr. phil. Orkan Okan, Professor für Health Literacy an der Technischen Universität München. Beide zeigten, dass es um die Gesundheitskompetenz der Kinder- und Jugendlichen vielerorts nicht gut bestellt sei. Dringender Handlungsbedarf in den Schulen wurde wiederholt angemahnt.



Abbildung 3: Bundesverfassungsrichter Peter Müller sprach zum Thema „Ärztliche Freiberuflichkeit“. Foto: Christian Glawe-Griebel / Helliwood

Ärztliche Weiterbildung

Die Abgeordneten beschlossen am zweiten ­Arbeitstag zwei Änderungen der (Muster-)
Weiterbildungsordnung 2018 (MWBO). Die Weiterbildung zum Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin wurde um die Inhalte der Zusatz-Weiterbildung Physikalische Therapie erweitert. Diese stellen nun einen integralen Bestandteil dieser Weiterbildung dar. Der Grund: Nach Ansicht der Abgeordneten sollten weiterbildungsbefugte Fachärztinnen und Fachärzte für Physikalische und Rehabilitative Medizin unkompliziert in die Weiterbildung für den Erwerb der Zusatzbezeichnung Physikalische Therapie einbezogen werden können.

Außerdem wurden die allgemeinen Inhalte der Weiterbildung geändert. Im Weiterbildungsblock „Patientenbezogene Inhalte“ wurde unter dem Reiter „Kognitive und Methodenkompetenz“ das Wort „Telemedizin“ durch die Wörter „Digitalisierung im Kontext ärztlichen Handelns (­Interaktion, Diagnostik, Therapiemanagement)“ ersetzt und unter dem Reiter „Handlungskompetenz“ der Weiterbildungsinhalt „Beurteilung und Einsatz digitaler Anwendungen für Anamnese, Diagnostik und Therapie“ eingefügt. Dies soll dazu beitragen, digitale Kompetenzen künftig besser in der Weiterbildung abzubilden und so der thematischen Bandbreite der Digitalisierung noch besser gerecht zu werden.

Evaluation Weiterbildung

Die BÄK präsentierte den Abgeordneten außerdem die Ergebnisse einer Evaluation der ärztlichen Weiterbildung. Diese basierten auf aggregierten Daten aus zwölf Landesärztekammern und beinhalteten eine Stichprobe von ca. 11.000 Ärzten in Weiterbildung. 79,7 Prozent davon arbeiteten in Vollzeit und 20,3 Prozent in Teilzeit, 55 Prozent seien Frauen, 45 Prozent Männer.

Die wichtigsten Ergebnisse: 61,9 Prozent der Ärzte in Weiterbildung bekämen ein Weiterbildungsprogramm ausgehändigt, bei 26 Prozent sei dies nicht der Fall. 12,1 Prozent der Befragten hätten zu diesem Punkt keine Angaben gemacht. 68 Prozent der Umfrageteilnehmer seien der Ansicht, dass ihnen im Rahmen der Weiterbildung immer ­beziehungsweise überwiegend wichtige Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten vermittelt würden. 20 Prozent der Befragten hätten angegeben, dass dies selten oder nie der Fall sei, 11 Prozent hätten sich dazu nicht geäußert. Mit etwa 62 Prozent der Ärzte in Weiterbildung würden Weiterbildungsgespräche geführt.

Die Landesärztekammern könnten etwa durch anlassbezogene Visitationen von Weiterbildungsstätten, durch die Prüfung von Konsequenzen für Weiterbildungsbefugte bei Richtlinienverstößen und durch die Nutzung des eLogbuchs für Evaluationen dazu beitragen, die Strukturqualität der Weiterbildung sicherzustellen.

eLogbuch

Die Nutzerzahlen des eLogbuchs seien laut der BÄK drastisch angestiegen, von 24.605 Weiterzubildenden zum 126. DÄT 2022 auf 49.019 zum 127. DÄT 2023. Auch die Zahl der Weiterbildungsbefugten, die das eLogbuch verwenden, habe sich in diesem Zeitraum um 86,5 Prozent erhöht, von 17.217 zum 126. DÄT auf 32.112 zum 127. DÄT. Inzwischen nähmen 15 Landesärztekammern am eLogbuch teil.

In den vergangenen zwölf Monaten sei darüber hinaus der Befugniskatalog optimiert und das eLogbuch tief in die Kammerportale der meisten Landesärztekammern integriert worden. In naher Zukunft werde die BÄK unter anderem regelmäßige eLogbuch-Schulungen für Weiterbildungsbefugte und Weiterbildungsassistenten anbieten und eine Funktion zur Dokumentation der Aushändigung des Weiterbildungsprogramms an Weiterzubildende in das Logbuch einfügen.

Finanzen

Die Abgeordneten billigten den Jahresabschluss für das Geschäftsjahr 2021/22 und entlasteten den BÄK-Vorstand. Der Haushaltsvorschlag für das Geschäftsjahr 2023/24 in Höhe von 31,16 Millionen Euro wurde genehmigt. Unter TOP VI diskutierten die Abgeordneten Änderungen der Satzung der Bundesärztekammer sowie der Geschäftsordnung der Deutschen Ärztetage. Hierbei geht es beispielsweise um die Möglichkeit, einen sogenannten Umlagebeschluss herbeizuführen beziehungsweise die Anträge besser zu strukturieren. Der Punkt wurde vertagt auf den
128. DÄT in Mainz 2024.

Reinhardt als Präsident bestätigt

Der 127. DÄT bestätigte Reinhardt in seinem Amt als Präsident der BÄK. Der 62-jährige Allgemeinmediziner aus Bielefeld steht damit für weitere vier Jahre an der Spitze der deutschen Ärzteschaft. Reinhardt forderte in seiner Wahlrede einen echten Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik. „Der politische Ansatz, unter planwirtschaftlichen Vorgaben einen kommerziellen Wettbewerb zu verankern, ist gnadenlos gescheitert. Das Gesundheitswesen ist kein Kostenfaktor, sondern wesentlich für unsere Gesellschaft. Und deshalb streite ich dafür, dass das Thema Gesundheit ebenso zukunftsweisend diskutiert wird wie das Thema Klima“, sagte er. Reinhardt konnte sich in einem engen Rennen im ersten Wahlgang mit 125 zu 122 Stimmen gegen seine Mitbewerberin aus dem ­Bundesärztekammer-Vorstand,
Dr. Susanne Johna, durchsetzen.
Reinhardt ist seit 29 Jahren als Facharzt für Allgemeinmedizin niedergelassen. Neben seiner Tätigkeit als Präsident der BÄK ist er seit zwölf Jahren Vorsitzender des Hartmannbundes.



Abbildung 4: Dr. Gerald Quitterer, Präsident der BLÄK, forderte, Gesundheitsbildung in die schulischen Lehrpläne aufzunehmen und sofort damit zu beginnen.

Wahl der Vizepräsidentinnen

Auch die bisherige BÄK-Vizepräsidentin Dr. Ellen Lundershausen (72), Fachärztin für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Präsidentin der Landesärzte-kammer Thüringen, wurde von den Abgeordneten in ihrem Amt bestätigt. Lundershausen ist seit 1991 in Erfurt als HNO-Ärztin niedergelassen. Neu ins Amt der Vizepräsidentin gewählt wurde Dr. Susanne Johna. Die 57-Jährige arbeitet als Oberärztin für Krankenhaushygiene am
St. Josefs-Hospital in Rüdesheim. Seit 2016 ist Johna Mitglied im Vorstand der BÄK und seit November 2019 1. Vorsitzende des Marburger Bundes Bundesverband.

Weitere Wahlen

Besetzt wurden auch zwei weitere Sitze im Vorstand der BÄK. Einen Sitz erhielt Christine Neumann-Grutzeck. Die 58-jährige Fachärztin für Innere Medizin ist seit 2016 in einer diabetologischen Schwerpunktpraxis in Hamburg-Harburg tätig. Seit September 2020 ist Neumann-Grutzeck zudem Präsidentin des Berufsverbands Deutscher Internistinnen und Internisten. Der zweite Sitz ging an Dr. Andreas Botzlar. Der 55-jährige
Facharzt für Chirurgie arbeitet als Oberarzt an der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau. Seit 2007 ist Botzlar 2. Vorsitzender des Marburger Bundes Bundesverband, seit 2016 Landesvorsitzender des Marburger Bundes Bayern und seit 2018 1. Vizepräsident der Bayerischen Landesärztekammer.


Abbildung 6: Dr. Andreas Botzlar, 1. Vizepräsident der BLÄK, wurde in den Vorstand der BÄK gewählt.

 


Abbildung 5: Das neue Präsidium der BÄK: Dr. Susanne Johna, Dr. Klaus Reinhardt und Dr. Ellen Lundershausen (von links).
Foto: Jürgen Gebhardt

Die BÄK hat als ständigen Ausschuss einen Beirat für die Bearbeitung und Förderung von ­Berufsfragen der Ärzte, die als Praktische Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin niedergelassen sind, errichtet (Deutsche Akademie für Allgemeinmedizin). Die Abgeordneten wählten folgende fünf Personen als ordentliche Mitglieder in den Vorstand der Deutschen Akademie für Allgemeinmedizin: Erik Bodendieck, Dresden,
Dr. Gerald Quitterer, München, Dr. Marion Charlotte Renneberg, Ilsede, Professor Dr. Martin Scherer, Hamburg, und Dr. Katharina Thiede, Berlin.

Ein weiterer ständiger Ausschuss ist der Beirat für die Bearbeitung und Förderung von Berufsfragen der Gebietsärzte (Deutsche Akademie der Gebietsärzte). Folgende fünf Ärzte wurden in den Vorstand der Deutschen Akademie der Gebietsärzte gewählt: Dr. Andreas Botzlar, Murnau, Dr. Petra Bubel, Lutherstadt Eisleben, Dr. Anne Bunte, Gütersloh, Dr. Sabine Köhler, Jena, und Dr. Edgar Pinkowski, Frankfurt/Main.

Sachstandsberichte: Quitterer warnt vor Abschmelzen der Grundwasserreserven.

Auf der Tagesordnung des 127. DÄT stand auch ein Sachstandsbericht von Bayerns Ärztekammerpräsident Dr. Gerald Quitterer und Berlins Ärztekammerpräsident Privatdozent Dr. Peter Bobbert zum Thema „Klimawandel und Gesundheit“.

In ihrem Impulsvortrag bekräftigten Quitterer und Bobbert, dass die Aufklärung der Gesellschaft über die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels und mögliche Gegenmaßnahmen eine wichtige ärztliche Aufgabe sei. Deshalb habe die BÄK entsprechende Fortbildungscurricula für Ärzte und MFA erstellt, die nun weiterentwickelt werden müssten. Ebenfalls müsse das Thema „Klimawandel und Gesundheit“ künftig stärker in der ärztlichen Ausbildung verankert werden. Darüber hinaus habe die Ärzteschaft nun Gelegenheit, sich bei der Schaffung eines klimaneutralen und hitzeresistenten Gesundheitssystems als Vorreiter zu positionieren. In diesem Zusammenhang machte Quitterer auf den kommenden bundesweiten Hitzeaktionstag am 14. Juni 2023 aufmerksam, an dem die BÄK und mehrere Landesärztekammern auf die Zunahme von gefährlichen Hitzewellen als ­Konsequenz des Klimawandels aufmerksam machen und sich für einen verbesserten Hitze-Katastrophenschutz stark machen würden. „Es ist nicht fünf vor zwölf, es ist eine Minute vor zwölf und wir müssen sofort etwas bewegen. Wir sollten unsere Patientinnen und Patienten intensiv zu diesen Themen beraten und in unseren Praxen und Kliniken noch mehr über Hitzeschutzmaßnahmen nachdenken – auch im baulichen Bereich“, erklärte Bayerns Ärztekammerpräsident unter dem Applaus der Abgeordneten. Gleichzeitig warnte Quitterer vor einem Abschmelzen der deutschen Grundwasserreserven in Folge zunehmender Dürreperioden und bekräftigte das Menschenrecht auf sauberes und allgemein verfügbares Wasser. Denn es sei eine ärztliche Aufgabe, „an der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gesundheit der Menschen hinzuwirken. In diesem Zusammenhang müsse auch einer Kommerzialisierung des Grundwassers entgegengetreten werden“, so Bayerns Kammerchef.

Zum Thema wurden vom 127. DÄT zahlreiche Beschlüsse verabschiedet. Unter anderem forderten die Abgeordneten alle Verantwortlichen in Politik, Gesellschaft und im Gesundheitswesen dazu auf, Klimaschutz und Klimaanpassung durch entschiedene Maßnahmen voranzutreiben. Die Voraussetzungen dafür müssten auf allen Ebenen des Gesundheitswesens geschaffen werden. Der 127. DÄT sprach sich auch dafür aus, eine klimafreundliche Versorgung im GKV-System zu ermöglichen. Dazu sollten die sozialgesetzlichen Regelungen so angepasst werden, dass Untersuchungs-, ­Behandlungs- und Verordnungsmaßnahmen, die dem Klimaschutz hinreichend Rechnung tragen, nicht durch das Wirtschaftlichkeitsgebot behindert werden. Krankenhäuser, MVZ, Arztpraxen und alle weiteren Leistungserbringer müssten in die Lage versetzt werden, ihre baulich-technische Ausstattung klimafreundlicher auszugestalten. Dies setze erhebliche Investitionen voraus, die in den bisherigen Finanzierungsmechanismen nicht abgebildet seien. Erforderlich sei deswegen ein sektorenübergreifender Bundesfonds „Klima­gerechtes Gesundheitswesen“.

Der Ärztetag mahnte zudem konkrete Maßnahmen zum Hitzeschutz an. Dieser dürfe nicht bei Absichtserklärungen stehenbleiben. „Stattdessen sind auf allen Ebenen, vom Bund bis zu den Kommunen, sinnvoll aufeinander abgestimmte und, wo immer möglich, gesetzlich vorgeschriebene Hitzeschutzpläne erforderlich“, heißt es in dem Beschluss. Regionale und lokale Hitzeschutzbündnisse sollten dafür sorgen, dass die Pläne tatsächlich auf praxistaugliche Weise verwirklicht und weiterentwickelt werden.

Im Anschluss an die Debatte über die gesundheitlichen Konsequenzen des Klimawandels folgten Sachstandsberichte zu den Themen „Ärztliches Personalbemessungssystem in Kliniken“ und ­„Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung“. Auch dazu verabschiedete der 127. DÄT mehrere Beschlüsse. Unter anderem erklärten die Abgeordneten, dass als Grundvoraussetzung für eine qualitativ hochwertige stationäre Patientenversorgung eine patienten- und aufgabengerechte ärztliche Personalausstattung definiert, umgesetzt und finanziert werden müsse. Der Gesetzgeber solle dazu das ärztliche Personalbemessungssystem der BÄK verwenden, forderte der DÄT.

Außerdem appellierte der 127. DÄT an die Bundesregierung, die Digitalstrategie für den Gesundheitssektor endlich praxis- und nutzerorientiert umzusetzen. Es müsse ein Panel von Ärzten und Patienten eingerichtet werden, welche die Phasen der „Identifikation prioritärer digitaler Anwendungen“ sowie der „Erhebung, Bewertung und Nachjustierung von Anforderungen“ frühzeitig fachlich-inhaltlich begleiten dürften. Außerdem forderten die Abgeordneten eine breite Öffentlichkeitskampagne in Bezug auf die Digitalisierung. Denn bis heute sei der überwiegende Anteil der Bevölkerung nicht über die verschiedenen Anwendungen der Telematikinfrastruktur informiert.


Abbildung 7: Die Zeche Zollverein war ein von 1851 bis 1986 aktives Steinkohlebergwerk in Essen. Sie ist heute ein Architektur- und Industriedenkmal.

Mein persönliches Fazit vom 127. DÄT in Essen


Dr. Jan Henrik Sperling (45), Facharzt für Allgemeinmedizin aus Memmingen, Abgeordneter

„Dies ist meine erste Teilnahme an einem Deutschen Ärztetag. Die vielen interessanten Eindrücke muss ich erst mal verarbeiten. Ich erlebe gerade, dass Gesundheits- und Berufspolitik viele Bereiche umfasst und viele Probleme birgt. Dabei die richtigen Entscheidungen zu finden ist gar nicht so einfach, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Das Ringen um gute Lösungen mit der Politik erscheint mir häufig ebenso schwierig und komplex wie der innerärztliche Meinungsbildungsprozess. Wir müssen künftig effektiver unsere Anliegen an die politischen Entscheidungsträger bringen und dies nicht nur in schriftlichen Stellungsnahmen. Kleingruppenarbeit und Workshops im Vorfeld und mehr Gesprächsformate würde ich mir wünschen. Und vielleicht sollte auch die Arbeit der Interessenverbände etwas mehr in den Hintergrund treten zugunsten eines gemeinsamen Auftritts. Gerade den jüngeren Kolleginnen und Kollegen geht es, denke ich, mehr um Gemeinsamkeit und weniger um Sektoren oder Gebietsgrenzen. Das gilt übrigens auch für die Wahlen. Persönlich macht mir das Miteinander und der Zusammenhalt innerhalb unserer bayerischen Fraktion sehr viel Freude.“


Dr. Irmgard Pfaffinger (67), Fachärztin für Psycho­somatische Medizin und Psychotherapie und Fachärztin für Anästhesiologie aus München, Abgeordnete

„Themen, wie zum Beispiel die Überwindung der Sektorengrenzen, die GOÄ-Novelle und die Entbudgetierung, sind und bleiben die alten. Auch bei der Wahl des Bundesärzte­kammerpräsidenten verhalten sich die deutschen Ärztinnen und Ärzte konservativ, vertrauen dem scheinbar bewährten, gehen wenig Risiko ein. Das klare Statement zur Freiberuflichkeit und zur ärztlichen Selbstverwaltung war gut und ebenso das deutliche Votum für ein klimaneutrales Gesundheitswesen. Bleibt zu hoffen, dass die schon lange bestehende Forderung nach mehr ­gesundheitlicher Bildung in den Schulen endlich flächendeckend umgesetzt wird.“

Besser (be)handeln im Team?

Wie kann eine teamorientierte und kooperative Zusammenarbeit von Ärztinnen und Ärzten mit anderen Gesundheitsfachberufen gelingen? Und wie wird sich die Rolle von Ärzten in der interdisziplinären Patientenversorgung künftig ändern? Darüber wurde Mitte Mai in Essen im Rahmen der traditionellen Dialogveranstaltung der Bundesärztekammer (BÄK) für junge Ärztinnen und Ärzte diskutiert.


Abbildung 8: Erik Bodendieck, Präsident der Sächsischen Landesärztekammer, Mira Faßbach, Klinik für Urologie des Helios Klinikums Duisburg, Dr. Pedram Emami, MBA, Präsident der Ärztekammer Hamburg und ­Moderator der Veranstaltung, und Melissa Camara Romero, Abteilung für Hämatologie und Onkologie am St. Antonius Hospital in Eschweiler.

Nach einer Begrüßung durch Dr. Ellen Lundershausen, Vizepräsidentin der BÄK, sowie durch Rudolf Henke, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, stellte Sachsens Ärztekammerpräsident Erik Bodendieck in einem Impulsvortrag die aktuellen Positionen der BÄK zum Thema dar. Seine Kernaussagen: Die Humanmedizin werde immer stärker von einer interdisziplinären ­Zusammenarbeit geprägt. So seien in den vergangenen Jahren zahlreiche neue Gesundheitsfachberufe entstanden – beispielsweise der Physician Assistant oder die Community Health Nurse. Gleichzeitig finde eine Akademisierung bereits bestehender Gesundheitsberufe wie ­etwa von Hebammen oder Pflegekräften statt, die dadurch einen Kompetenzzuwachs erfahren würden. Die Übernahme zusätzlicher Aufgaben durch diese Berufsgruppen dürfe aber keine negativen Auswirkungen auf die Patientensicherheit haben. Darüber hinaus müssten Tätigkeiten, für die spezifische ärztliche Kompetenzen erforderlich seien, weiterhin Ärzten vorbehalten bleiben. Gleichzeitig bekannte Bodendieck, dass es Schwierigkeiten bei der exakten Auflistung solcher Tätigkeiten gebe.

Anschließend bekamen junge Ärztinnen und Ärzte Gelegenheit, im Rahmen zweier Podiumsdiskussionen ihre Sicht auf die Debatte zu schildern. Viele von ihnen berichteten über eine sehr hohe Arbeitsbelastung in ihrem Praxis- beziehungsweise Klinikalltag und waren der Ansicht, dass eine Übernahme zusätzlicher Aufgaben durch andere Gesundheitsfachberufe Entlastung bringen und auch die ärztliche Weiterbildung erleichtern könnte. Insbesondere müssten die Ärzte von Bürokratie befreit werden. Andere argumentierten, dass es zielführender wäre, mehr humanmedizinische Studienplätze zu schaffen, statt weitere Tätigkeiten an nichtärztliche ­Berufsgruppen auszulagern. Große Einigkeit bestand aber, dass es mehr gemeinsame Fortbildungen und bessere Kommunikation brauche, um die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen untereinander zu stärken.

Der 128. DÄT findet vom 7. bis 10. Mai 2024 in Mainz statt, der 129. voraussichtlich im Mai 2025 in Leipzig.


Dagmar Nedbal und Florian Wagle (BLÄK)

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