Verpasste Chance

Dr. Andreas Botzlar

Zahlreiche wissenschaftliche Studien zeigen: Die Lebensbedingungen in Deutschland haben sich für einen gewissen Teil der Bevölkerung verschlechtert. Ein zentraler Grund dafür ist die ­hohe Inflation der vergangenen Jahre, welche durch multiple Krisen – von Corona über den Klimawandel bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine – befeuert wurde. Zwar betrug die kumulierte Monatsinflation nach 8,0 Prozent im Jahre 2022 im zurückliegenden Jahr 2023 „nur“ noch 3,8 Prozent, wobei auch die Mieten – insbesondere in Ballungsräumen – immer neue Höchststände erklimmen. Vielen aber fällt es nun zunehmend schwerer, ihren Lebensstandard zu halten.

Die Älteren unter uns kennen noch die Tarifverhandlung mit Bund, Ländern und Gemeinden zum Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT). Im Rahmen der Ablösung des BAT begann – angetrieben durch die unzureichende Berücksichtigung der Besonderheiten ärztlicher Arbeitsbedingungen – die jüngere Tarifgeschichte des Marburger Bundes, welche zum Abschluss jener Tarifverträge führte, die mit etlichen zwischenzeitlich erkämpften Verbesserungen bis heute gelten. Erstlingswerk war der Tarifvertrag für die Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken, den der Marburger Bund 2006 mit der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ausgehandelt hatte. Sie war es auch, welche ihren gemeinsamen Verhandlungen mit Bund und Kommunen schon 2004 den Garaus gemacht hatte, indem sie einseitig die Arbeitszeitbestimmung West gekündigt hatte. Deswegen gibt es heute im nichtärztlichen Bereich des Öffentlichen Dienstes neben dem TVÖD den TV-L, mit dem die Landesangestellten bei ihren Entgelten im Vergleich zu Kommunal- und Bundesangestellten stets an einer etwas kürzeren Leine gehalten werden konnten. Dieser – aus Arbeitgebersicht – ökonomische Vorteil verkehrt sich in Zeiten des allgemeinen Fachkräftemangels zunehmend ins Gegenteil. Die Universitätskliniken konnten dem zuletzt nur noch die Attraktivität der ärztlichen Tätigkeit in der Universitätsmedizin an sich ­entgegensetzen, hinsichtlich der Arbeits- und ­Entgeltbedingungen waren sie von anderen Krankenhausträgern eingeholt bis überholt worden.

In dieser Gemengelage hatte der Marburger Bund von der Tarif­gemeinschaft deutscher Länder eine Erhöhung der Gehälter der an Universitätskliniken beschäftigten Ärztinnen und Ärzte um 12,5 Prozent, sowie höhere Zuschläge für Regelarbeit in der Nacht, an Wochenenden und Feiertagen, vor allem aber eine Neuregelung der Schichtarbeit gefordert. Insbesondere das Konstrukt der ständigen und nichtständigen Schicht- und Wechselschichtarbeit ist schon seit je her für die Abbildung der ärztlichen Arbeit denkbar ungeeignet. In der Vergangenheit war dies von untergeordneter Bedeutung. Je mehr allerdings insbesondere bei den sogenannten Maximalversorgern – zu denen die Universitätskliniken in der Regel und in erheblichem Umfang zählen – angetrieben vom unseligen Fallpauschalensystem nicht nur Leistungsverdichtung sondern auch Leistungsverlagerung in Tagesrandzeiten, Nächte und Wochenenden um sich greift, desto mehr offenbaren die tariflichen Regelungen zur Schichtarbeit ihre Untauglichkeit. Nicht unerwähnt bleiben soll die Dreifachbelastung der Ärztinnen und Ärzte an Universitätskliniken durch Aufgaben in Forschung und Lehre, welche zur Versorgung oft schwerstkranker Patientinnen und Patienten hinzukommen, die zudem noch unter den Nachteilen befristeter Anstellungen auf Basis des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes leiden.

Es ist gut, dass sich die Tarifgemeinschaft deutscher Länder – wenn auch nur unter dem Druck eines sich anbahnenden Arbeitskampfs, den zu führen die Betroffenen in zahlreichen Kundgebungen bereits eine hohe Bereitschaft gezeigt hatten – mit dem Marburger Bund nun nicht nur auf eine Verbesserung der Gehälter um 4,0 Prozent zum April dieses und 6,0 Prozent zum Februar des nächsten Jahres verständigt hat, sondern auch auf eine Reduktion der Wochenarbeitszeit von 42 auf 40 Stunden zum Januar 2026 unter Beibehaltung der Gehälter. Letzteres wird durch die Einführung einer obligatorisch elektronischen Erfassung der gesamten geleisteten Arbeitszeit flankiert sowie durch die Zusicherung, die erbrachten Leistungen nicht nur zu dokumentieren, sondern auch tatsächlich zu vergüten. Der teilweise immer noch vorhandenen Neigung zur (Selbst-)Ausbeutung von Ärztinnen und Ärzten kann so wirksam begegnet werden. Umso bedauerlicher ist allerdings das Nichtzustandekommen einer Neuregelung der Schichtarbeit. Um ein Bild zu bemühen: Wo ein Neubau geboten ist, helfen Renovierungsarbeiten nicht weiter. Der Tarifgemeinschaft deutscher Länder ist in den zurückliegenden knapp 20 Jahren offensichtlich der Mut abhandengekommen, als Architekt neuer tariflicher Regelungen Vorreiter einer zukunftsorientierten Gestaltung ärztlicher Arbeitsbedingungen zu sein: Sie überlässt diese Chance und den Anspruch auf das Urheberrecht nun anderen. Die Universitätskliniken verpassen so die einmalige Chance, als erste insbesondere den dringend gebrauchten jungen Ärztinnen und Ärzte attraktivere Arbeitsbedingungen anbieten zu können – mit allen Konsequenzen für die zukünftige Leistungsfähigkeit der Universitätsmedizin.







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