Ein Uhrwerk auf der Wiesn

Hauptquartier der Sanitätswache auf der Wiesn

Mit dem traditionellen Ausruf „O‘zapft is“ eröffnete der Münchner Ober­bürgermeister Dieter Reiter am 17. Oktober das diesjährige Oktoberfest. Nach zwei Jahren coronabedingter Pause war das größte Volksfest der Welt wieder für Millionen feierwillige Menschen aus dem In- und Ausland zugänglich. Doch während 17 Tage das Bier in den Zelten floss, herrschte auf dem Festgelände nicht nur für die Wirtinnen und Wirte, sondern auch für das medizinische Personal Hochbetrieb. Ein Anlass für einen Ortsbesuch bei Dr. Felix Jonas, ärztlicher Leiter der Sanitätswache auf der Wiesn.

Schon auf dem Weg aus der Münchner U-Bahn an der Haltestelle Theresienwiese geht es kaum vorwärts, die Menschen stauen sich – wohl eine Folge des verdichteten „Wiesn-Takts“ der Züge, die im 2,5-Minuten-Rhythmus große Mengen an Besucherinnen und Besuchern zum Oktoberfest bringen. Letztlich doch auf dem Festgelände auf der Münchner Theresienwiese angekommen, bahnen mein Fotograf und ich uns mühsam einen Weg durch die Menschentrauben, welche die zahllosen Stände an der Wirtsbudenstraße bevölkern, sich auf den Weg in eines der großen Bierzelte gemacht haben oder eines der 180 Fahrgeschäfte besuchen möchten. Auch wenn die Besucherzahlen an den ersten Tagen des diesjährigen Oktoberfests statistisch deutlich niedriger lagen als 2019 – persönlich merkt man von coronabedingter Zurückhaltung im Getümmel wenig – die Wiesn ist proppenvoll an diesem Freitagnachmittag.

Hinter den Festzelten, in Richtung der U-Bahn-Station Schwanthalerhöhe, wird es etwas ruhiger. Hier liegt zwischen der Wiesn-Feuerwehr und der Festleitung in einem schwarzen Funktionsbau das Hauptquartier der Sanitätswache, welches auch dieses Jahr von der Aicher Group GmbH & Co. KG geführt wird. Dort erwarten uns schon Dr. Felix Jonas und Markus Strobl, Pressesprecher der Wiesn. Jonas ist hier schon so etwas wie ein „alter Hase“. Der in Olching niedergelassene Facharzt für Allgemeinmedizin ist bereits zum dritten Mal ärztlich auf der Wiesn im Einsatz und hat in diesem Jahr zusammen mit zwei Kollegen die ärztliche Leitung des Volksfests inne.


Abbildung 2: Dr. Felix Jonas vor dem mobilen Computertomographen auf dem Festgelände

Zunächst führt uns Jonas durch das Gebäude und erklärt dabei die Struktur der medizinischen Versorgung. 2022 kümmerten sich 50 Ärztinnen und Ärzte mit den unterschiedlichsten Qualifikationen um das gesundheitliche Wohl der Besucher. „Für uns ist natürlich schön, dass wir vom Unfallchirurgen über den Internisten und Intensivmediziner bis hin zum Allgemeinarzt hier fast alles vertreten haben. Von dieser interdisziplinären Arbeit profitiert ­unsere Patientenversorgung außerordentlich“, erläutert Jonas. Einen würde die meisten der Wiesn-Ärzte aber der Besitz der Zusatzbezeichnung Notfallmedizin: „Das ist ­natürlich ein ganz wesentlicher Punkt. Ein Akutraum braucht natürlich jemanden, der diesen auch adäquat benutzen kann“. Darüber hinaus seien auch 450 Notfallsanitäterinnen und -sanitäter auf dem Oktoberfest tätig. Schwierigkeiten, medizinisches Personal zu akquirieren gebe es nicht, ergänzt Strobl, im Gegenteil: „Für dieses Jahr gab es etwa weit über 1.000 Bewerbungen von Notfallsanitätern. Die konnten wir nicht alle berücksichtigen. Für die Sanitäter ist das größte Volksfest der Welt ein Ziel, die freuen sich darauf.“

Zahlreiche Alkoholintoxikationen

Neben der Sanitätswache gebe es auf dem Oktoberfest drei Außenstellen, sogenannte Sanitätscontainer, und mehrere Sanitätstrupps, erläutert Jonas weiter. Diese seien strategisch günstig auf der Theresienwiese verteilt. Im Schnitt bräuchten die Wiesn-Rettungsstaffeln deshalb bis zum jeweiligen Einsatzort nur vier Minuten. Dabei werde in den Außenstellen vor allem Erste Hilfe geleistet und entschieden, ob eine Patientin oder ein Patient eine weitergehende Behandlung auf der Hauptsanitätswache benötige. „Wenn Patienten sich selbst in unserem Hauptquartier melden oder von unseren Rettungsstaffeln dorthin gebracht werden, findet zunächst eine ärztliche Triage statt“, so Jonas. Personen, die unterkühlt, moderat alkoholisiert oder nicht mehr besonders gut gehfähig seien, könnten sich dann im Ruheraum der Station ausruhen. Im Idealfall schliefen sie sich aus und könnten danach den Heimweg antreten. „Wenn jemand allerdings schwer alkoholisiert ist und sich häufig erbricht oder anderweitig intensiver betreut werden muss, wird er dagegen auf unsere Überwachungsstation verlegt. Dort ist viel medizinisches Personal vorhanden, um die Patienten kontinuierlich zu beobachten, persönlich und über verschiedene Überwachungsmonitore“, erklärt der 49-Jährige. Patienten, die einer ärztlichen Behandlung bedürften, etwa aufgrund von Schnittwunden oder einer Verstauchung, würden dagegen in den Behandlungsraum der Station gebracht. Dort könnten auch kleinere Operationen durchgeführt werden. Für den Fall einer lebensbedrohlichen Situation, etwa bei starken Kreislaufproblemen, besitze das Hauptquartier auch einen Akutraum, der mit einem Schockraum in einer Klinik vergleichbar sei. Prinzipiell sei das Ziel, möglichst viele Patienten direkt auf der Wiesn zu behandeln – auch, um die umliegenden Innenstadtkliniken, die unter einer angespannten Personalsituation litten und nur wenige freie Betten zur Verfügung hätten, nicht zusätzlich zu belasten. „Wenn klar ist, dass ein Patient länger bettlägerig sein wird oder eine größere Operation notwendig erscheint, schicken wir ihn natürlich trotzdem umgehend ins Krankenhaus“, erläutert Jonas.


Abbildung 3: Notfallsanitäter mit neuer Kamera-Brille

Häufigstes Krankheitsbild auf dem Oktoberfest 2022 seien aber gewöhnliche Alkoholintoxika­tionen, daneben gebe es auch zahlreiche Schnittverletzungen. Insgesamt behandelten die Wiesn-Ärzte pro Tag etwa 200 bis 400 Patienten. Die starke Schwankung entstehe durch das geringere Besucheraufkommen bei schlechtem Wetter sowie an Werktagen im Vergleich zum ­Wochenende. Bedenklich stimmt den ärztlichen Leiter, dass sich das Patientenalter seit 2019 deutlich gesenkt habe, auf der Station schlügen prozentual mehr stark betrunkene Teenager auf als auf dem vergangenen Oktoberfest.

Erstmals mobiles CT auf der Wiesn

Beim Rundgang durch das Hauptquartier präsentiert uns Jonas auch sein persönliches „Highlight“: Ein mobiler Computer-tomograf (CT), der seit diesem Jahr erstmalig von den Wiesn-Ärzten auf dem Gelände eingesetzt wird und diese etwa bei der Diagnose von Kopfverletzungen unterstützt. „Wir können beispielsweise CTs vom Schädel und von der Halswirbelsäule machen. In den ersten sieben Tagen des Volksfests haben wir das Gerät bereits 61 Mal eingesetzt.“ Das Gerät ist aus Sicht des Allgemeinmediziners eine lohnenswerte Ergänzung des Oktoberfest-Equipments der Sanitätswache. 

Daneben gebe es dieses Jahr noch weitere Neuerungen im Bereich der medizinischen Versorgung. Beispielsweise sei die Sanitätswache erstmals 24 Stunden pro Tag mit Ärzten und Sanitätern besetzt, was die Kliniken in der Umgebung spürbar entlaste. Im Gegensatz dazu sei bei früheren Oktoberfesten so mancher alkoholisierte Patient, der sich eigentlich nur ausschlafen musste, nach dem Zapfenstreich um Mitternacht doch noch zur weiteren Überwachung in eine Klinik gebracht worden. Außerdem gebe es jetzt auch ein Isolierzelt für COVID-19-Infizierte und deutlich mehr Patientenbetten als 2019.

Besonders fällt uns während unseres Besuchs aber eine schwarze, mit einer kleinen Kamera ausgestattete Brille ins Auge, welche von den Notfallsanitätern auf dem Oktoberfest getragen wird. Auch wozu dieses Gerät dient, beantwortet uns Jonas: „In unseren Außenstellen auf der Wiesn sind im Regelfall ausnahmslos Sanitäter vor Ort. Immer wieder holen sich diese zur exakteren Beurteilung des Gesundheitszustands eines Patienten die Meinung unserer Einsatzzentrale ein. Von der Kamera-Brille eingefangene Patientenbilder können direkt an die Ärzte in der Zentrale gesendet werden. Diese können daraufhin eine Handlungsempfehlung aussprechen“, so der Allgemeinmediziner. Bisher sei das telemedizinische Instrument aber lediglich dreimal eingesetzt worden. Eine abschließende Meinung über den Nutzen der Kamera-Brille habe Jonas bisher noch nicht entwickelt.


Abbildung 4: Zur Koordination gibt es eine eigene Einsatzzentrale in der Hauptsanitätswache

In einem Besprechungsraum der Sanitätswache erkundigen wir uns anschließend nach dem Einfluss von COVID-19 auf die Arbeit des medizinischen Personals. Jonas zeigt sich erleichtert, dass während der ersten Tage der Wiesn keine Mit-arbeiter an dem Virus erkrankt seien. Eine Ansteckung während der Arbeit sei für den Einzelnen aber auch nicht sehr wahrscheinlich, da die Ärzte und Sanitäter zum Eigenschutz auf dem Oktoberfestgelände konsequent FFP-2-Masken trügen. „Sicherheitshalber haben wir aber auch unser Personal um 15 Prozent aufgestockt, um bei einem Coronaausbruch trotzdem noch die medizinische Versorgung der Wiesn-Besucher gewährleisten zu können“, erklärt Jonas.

Vor unserem Abschied beschreibt uns Jonas noch seine persönliche Rolle als ärztlicher Leiter. Er selbst sehe sich vor allem als Koordinator, der versuche Abläufe und Prozesse auf der Wache und in den Außenstellen zu optimieren, Kolleginnen und Kollegen anzuleiten, die zum ersten Mal auf der Wiesn ärztlich tätig sind und auch selbst medizinisch einzuspringen, wenn sich bei Hochbetrieb personelle Lücken zeigen. „Das hier ist ein faszinierendes Uhrwerk, das sehr gut läuft, aber es muss gepflegt werden. Auf besondere Lagen muss ich adäquat reagieren.“ Auch für das kommende Jahr hofft Jonas auf einen Einsatz auf dem Oktoberfest: „Die Atmosphäre auf der Wiesn ist einmalig und meine Aufgabe hier macht mir sehr viel Freude.“
 
Florian Wagle (BLÄK)

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