Der „interessante Fall“ aus der Gutachterstelle

Zusammenfassung Diagnostik und Therapie

Folge 4: Persistierende Beschwerden ohne Korrelat in der Bildgebung?

Die Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen bei der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) möchte anhand ausgewählter, anonymisierter Fallbeispiele Kolleginnen und Kollegen für bestimmte klinische Themen sensibilisieren und somit in ihrer täglichen Arbeit unterstützen.

Wenn ein Patient trotz „unauffälliger“ Bildgebung über persistierende Beschwerden klagt, stellt sich für den Arzt die Frage, welchen therapeutischen und/oder diagnostischen Weg er einschlagen soll. Einerseits ist er (unter anderem aufgrund des Wirtschaftlichkeitsgebots) gehalten, eine „Überdiagnostik“ zu vermeiden. Auf der anderen Seite kann ein klinischer Befund, der nicht recht zur vorliegenden Diagnostik passen will, Anlass sein, der Angelegenheit diagnostisch (nochmals) auf den Grund zu gehen. Diese Gratwanderung ist nicht immer einfach. Der ärztliche Vorsitzende der Gutachterstelle berichtet in diesem Beitrag über einen Fall, der im Rahmen eines Gutachterverfahrens zu untersuchen war.

Verkehrsunfall

Nach einem Verkehrsunfall wurde ein 35-jähriger Patient in eine unfallchirurgische Klinik eingeliefert. Die vorrangige Verletzung bestand in einem offenen Kniegelenkstrauma. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten eine Tibiakopf-Luxationsfraktur, welche operativ behandelt werden musste. Klinisch auffällig war darüber hinaus eine Schwellung im Bereich des rechten oberen Sprunggelenks. Bei der Abklärung zeigten sich im konventionellen Röntgenbild neben einer akut frakturverdächtigen Aufhellungslinie im Kalkaneus auch Veränderungen im Bereich des Talus, die als „nicht akut“ eingeordnet wurden. Zur weiteren Abklärung wurde eine CT-Untersuchung durchgeführt, die einen „unauffälligen“ Befund erbrachte. Die Knieverletzung entwickelte sich unkompliziert, und die Mobilisation konnte planmäßig durchgeführt werden. Allerdings litt der Patient unter anhaltenden Schmerzen im Bereich des rechten Sprunggelenks, die sich auch während der sechs Monate dauernden Weiterbehandlung in der Ambulanz der Klinik nicht besserten.

Persistierende Beschwerden

Da die Beschwerden im Bereich des rechten Sprunggelenks auch nach Abschluss der ambulanten Behandlung in der Klinikambulanz nicht rückläufig waren, suchte der Patient weitere Ärzte auf. Nach Durchführung einer MRT wurde schließlich die Diagnose einer „stattgehabten Talusfraktur mit sekundär-arthrotischen Veränderungen“ gestellt und eine Exostosenabtragung sowie eine Synovektomie am rechten Sprunggelenk vorgenommen. Der Patient leidet weiterhin unter einer deutlichen Bewegungseinschränkung im rechten Sprunggelenk und einer Fehlstellung des rechten Fußes.
Die Frage, weshalb die Fraktur des rechten Talus nicht auf den CT-Bildern der Klinik erkennbar war, klärte sich später auf: Bei der Rekonstruktion der Rohdaten durch die medizinisch-radiologische Fachangestellte kam es zu einer Seitenverwechslung, infolge derer der Datensatz des linken oberen Sprunggelenks fälschlicherweise der rechten Seite zugeordnet, rekonstruiert und zur Befundung weitergegeben wurde. Das mit „rechts“ bezeichnete, linke Sprunggelenk wurde dann zutreffend als „unauffällig“ befundet. Retrospektiv und in Zusammenschau mit der später durchgeführten MRT lassen sich bei sehr genauer Betrachtung bereits in den konventionellen Röntgenaufnahmen des rechten Sprunggelenks sehr diskrete, frakturverdächtige Veränderungen in Projektion auf den Talus abgrenzen.

Haftungsrechtliche Bewertung

Aus Sicht des Patienten, der unter chronischen Beschwerden leidet, ist es nachvollziehbar, dass er mit dem Ergebnis der Behandlung nicht einverstanden ist. Oftmals schließen Patienten von einem erlittenen Gesundheitsschaden direkt auf einen Behandlungsfehler. Ein ungünstiger oder tragischer Verlauf löst aber für sich genommen noch keine Haftung aus. Eine Haftung setzt voraus, dass der Arzt eine Sorgfaltspflichtverletzung begangen bzw. (in den Worten der Rechtsprechung) den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden „allgemein anerkannten fachlichen Standard“ unterschritten hat.
Prüft zum Beispiel ein Rechtsanwalt den Vorgang „haftungsrechtlich“, analysiert er die Behandlung auf die Frage hin, ob es hierbei zu einem (für den Patienten nachteiligen) Abweichen von diesem einzuhaltenden (Mindest-)Standard gekommen ist. Um zu wissen, wie der medizinische Standard im vorliegenden Fall konkret auszusehen hat, benötigt er die Fachkenntnis eines medizinischen Sachverständigen (Gutachter) des betroffenen Fachgebiets.
Ein Behandlungsfehler liegt im vorliegenden Fall sicher im Bereich der Durchführung der CT-Diagnostik mit der fehlerhaften Seitenzuordnung vor. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob den Ärzten, die den Patienten über ein halbes Jahr lang in der Ambulanz der unfallchirurgischen Klinik behandelt haben, ebenfalls ein Behandlungsfehlervorwurf gemacht werden muss.

Betrachtung „ex ante“/„ex post“

Um dies zu beurteilen, muss sich der Gutachter in die Situation zurückversetzen, in der sich der Arzt zum damaligen Zeitpunkt befand (Betrachtung „ex ante“). In der Ambulanz lag ein CT-Befund vor, in dem eine Fraktur eindeutig ausgeschlossen war. Auf diesen Befund haben sich die Ärzte verlassen. Man könnte sich nun die Frage stellen, ob ihnen hätte auffallen müssen, dass die in den CT-Bildern wiedergegebenen Strukturen nicht der rechten Seite entsprechen können. Anhand verschiedener anatomischer Details wäre dies beim direkten Vergleich der CT-Bilder mit den konventionellen Röntgenaufnahmen erkennbar gewesen. Wie kritisch mussten die Ärzte in der Ambulanz die „Belastbarkeit“ der vorliegenden Bildgebung bewerten? Waren sie verpflichtet, die Bilder auf „Plausibilität“ zu prüfen, um beispielsweise eine Seiten- oder Patientenverwechslung sicher auszuschließen? Um zu einer gerechten Bewertung ärztlichen Handelns zu gelangen, ist es wichtig, die „ex ante“-Perspektive nicht zu verlassen. Der Gutachter weiß, dass es zu einer Seitenverwechslung gekommen ist und sieht die Bilder „mit anderen Augen“ an (Betrachtung „ex post“). Dieses „Mehr“ an Wissen muss er bei der Begutachtung aber „ausblenden“. Wie weit durften die Ärzte in unserem konkreten Fall dem CT-Befund (ungeprüft) vertrauen?

Abbildung 1: Zusammenfassung Diagnostik und Therapie (Sprunggelenk) „ex ante“.

 

 Abbildung 2: Zusammenfassung Diagnostik und Therapie (Sprunggelenk) „ex post“.

Vertrauensgrundsatz

Die Rechtsprechung hat sich mit dieser Fragestellung auseinandergesetzt und ist zu folgendem Ergebnis gekommen: Fachärzte dürfen sich auf die fehlerfreie Arbeit eines Kollegen aus einem anderen Fachbereich verlassen (vgl. zum Beispiel BGH NJW 1999, 1779). Der guten Arbeit eines anderen Kollegen zu vertrauen, stellt also grundsätzlich keine Sorgfaltspflichtverletzung dar.
Diese Haltung ist praxisnah. Es kann von einem weiterbehandelnden Arzt nicht verlangt werden, dass er die vorausgegangene medizinische Tätigkeit eines fachfremden Kollegen regelhaft kontrolliert. Das wäre nicht wirtschaftlich, und es wäre dem fachfremden Kollegen auch nur eingeschränkt möglich. Die Rechtsprechung macht allerdings eine wichtige Einschränkung: Der Verdacht auf das Vorliegen eines Fehlers darf sich nicht „aufdrängen“. Diese Ausnahme vom Vertrauensgrundsatz liegt im vorliegenden Fall aber nicht vor.
Allerdings standen die vom Patienten über einen längeren Zeitraum vorgetragenen Beschwerden im Widerspruch zu dem „unauffälligen“ Befund der CT-Untersuchung. Wenn sich trotz sorgfältiger Exploration des Patienten die Beschwerden nicht schlüssig erklären lassen, ist irgendwann der Zeitpunkt gekommen, sich mit den vorliegenden Befunden – in unserem Fall dem CT-Befund – intensiver auseinanderzusetzen. Bei genauer vergleichender Betrachtung der abgebildeten Strukturen in den CT- und den konventionellen Röntgenbildern hätten den Ärzten, wie bereits gesagt, Unstimmigkeiten auffallen können. Solche Unstimmigkeiten dann nicht weiter aufzuklären, kann als Verletzung der Sorgfaltspflicht gewertet werden. Wann und ob eine solche Bewertung zutreffend ist, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.
Abschließend kann man festhalten: Der Arzt darf dem anderen Arzt vertrauen, aber nicht blind.

Autoren
Professor Dr. Ekkehard Pratschke, Dr. Christian Schlesiger, Alban Braun, Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen bei der BLÄK

 

 

 

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