Wie (un)gesund lebt Deutschland?

Dr. Gerald Quitterer, Präsident der BLÄK

Wir sitzen zu viel

Zum fünften Mal untersuchte die Deutsche Krankenversicherung (DKV) 2018 gemeinsam mit der Deutschen Sporthochschule Köln, wie gesund Deutschland lebt. Gefragt wurde wieder nach körperlicher Aktivität, Sitzen, Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum und Stressverhalten. In diesem Jahr wurde erstmals auch nach dem Umgang mit Lärm, Einsamkeit und Regeneration gefragt. Nicht nur die klassischen Gesundheitsbereiche körperliche Aktivität, Ernährung, Rauchen, Alkohol und Stress tragen zu unserem körperlichen und seelischen Wohlbefinden bei, sondern auch äußere Umweltfaktoren, die uns tagtäglich im Berufs- und Privatleben begegnen, spielen eine große Rolle für Lebensqualität, Wohlbefinden und Gesundheit. Das erschreckende Ergebnis: Deutschland geht die Luft aus und wir werden immer mehr zu Bewegungsmuffeln. Ein neuer Negativrekord lässt das Erreichen des Richtwertes für gesundes Leben deutschlandweit erstmals unter die Zehn-Prozent-Marke rutschen. Der Anteil der befragten Personen, die bewusst auf Bewegung, Ernährung, Nikotin- und Alkoholkonsum sowie auf einen gesunden Umgang mit Stress achten, sank im Vergleich zu 2016 erneut. Waren es 2010 zur Erstauflage der Studie noch 14 Prozent, die den Benchmark für ein gesundes Leben erreichten, schaffen es dieses Jahr nur noch ganze neun Prozent. Wir leben zu ungesund: Statt mit einem gesunden Lebensstil Rückenschmerzen, Übergewicht oder Bluthochdruck zu bekämpfen, sitzen wir zu viel. Die Studie zeigt auch: Die meisten schätzen sich ganz anders ein.

Big Data

Gesundheitsdaten solcher Studien sind zum einen von landesweitem Interesse. Aussagen zur Häufigkeit bestimmter Erkrankungen könnten unterstützen, den künftigen medizinischen Versorgungsbedarf in der Bevölkerung abzuschätzen. Denn, die Gesundheit eines Menschen wird nicht allein durch eine Erkrankung bestimmt. Viele Einflussfaktoren, wie berufliche und soziale Lebensumstände und gesundheitsbeeinträchtigende Verhaltensweisen, wirken zusammen und beeinflussen die Gesundheit. Da ist es nicht verwunderlich, dass gerade heute, in Zeiten der Digitalisierung, über Big Data in der Medizin heftig diskutiert wird – gerade von Seiten der Politik. Werden unsere Patienten künftig zu gläsernen Patienten? Werden wir zu gläsernen Ärztinnen und Ärzten? Auf Big Data setzen inzwischen unterschiedliche Fachbereiche der Medizin: Algorithmen sollen die Verknüpfung zwischen Symptomen und Krankheiten herstellen. In der Krebstherapie soll Big Data helfen, für die jeweilige Tumorart das richtige Medikament zu finden. Können große Datensätze bei der Diagnoseerstellung helfen? Digitalisierung erfasst alle Lebensbereiche, auch die Medizin, doch wer schützt dabei unsere Patienten? Wie gläsern werden sie, wenn immer mehr sensible Daten von ihnen erhoben werden? Wer darf ihre Daten erheben und speichern, wer darf sie abrufen? Sind ihre Daten ausreichend geschützt? Machen sie sich selbst gläsern, indem sie zu viel von sich preisgeben? Der Abgleich mit Datenbanken bietet für viele Patienten, beispielsweise Aids- oder Krebspatienten, große Chancen, aber wie sicher sind Patientendaten? Wie funktioniert Profiling? Können sensible Daten identifiziert werden? All diesen Fragen müssen wir uns, als Bayerische Landesärztekammer, in besonderer Weise stellen. Ein Zurück zu einer rein analogen Medizin wird es nicht mehr geben. Daher muss es eine gesellschaftliche Debatte über die Chancen, aber auch über die Risiken der Digitalisierung in der Medizin geben. Die Patientenrechte dürfen dabei nicht aus dem Blick geraten.

Und jetzt?

Es ist ein alarmierendes Ergebnis, das uns die Studie liefert. Wir alle stehen in der Verantwortung, Umfelder und Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen jeder Gesundheit leben kann. Bewegungsmangel, sitzender Lebensstil sowie die Regeneration von unterschiedlichsten Stressoren im Alltag sind die Kernpunkte, denen wir uns gerade als Ärztinnen und Ärzte stellen sollten – heute. In diesen Punkten besteht noch massiver Handlungsbedarf. Gesundheitsförderung sowie Verhaltens- und Verhältnisprävention sind gefragt, damit die Zahl der Patientinnen und Patienten, die an Zivilisationskrankheiten leiden, nicht noch weiter zunimmt. Eine gesunde Lebensweise umzusetzen erfordert dabei auch natürlich unterstützende Maßnahmen auf der Ebene der Politik, der Wirtschaft oder der Bildungseinrichtungen. Ansonsten müssen wir in absehbarer Zeit mit gravierenden Konsequenzen für jeden Einzelnen und für das Gesundheitswesen insgesamt rechnen. Alleine auf Verständnis und Eigenengagement der Menschen zu hoffen, greift viel zu kurz. Prävention muss in unserer Gesellschaft einen ganz anderen Stellenwert erhalten, das heißt mehr Bewegung, gesunde Ernährung und mehr Ökologie.

Wir müssen von klein an die Motivation für ein Körperbewusstsein fördern. Bewegung muss Spaß machen. Das geht nicht, wenn wir uns nicht mehr aufeinander zubewegen, sondern Kommunikation vorwiegend über Telemedien stattfindet. Wir müssen wieder zu Fuß gehen, Rad fahren und Schwimmen lernen.

In erster Linie ist es der Mensch selbst, der für seine Gesundheit verantwortlich ist, diese Verantwortung aber gern abgibt. Brauchen wir wirklich eine Uhr am Handgelenk, die uns daran erinnert, dass wir heute unser Laufpensum noch nicht erledigt haben oder uns über die zugeführten Kalorien informiert? Sollen Algorithmen zukünftig bestimmen, wie und wo wir uns bewegen, was wir essen und wie wir unsere Freizeit gestalten? Führt das dann dazu, dass uns die Fähigkeiten für eigene Entscheidungen abhandenkommen? Brauchen wir wirklich Bewegung auf Rezept?

 

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Dr. Gerald Quitterer, Präsident der BLÄK

 

 

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