Verdacht auf Seltene Erkrankungen – Suchstrategie in sieben Schritten

Seltene Erkrankungen

In der Europäischen Union (EU) gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen in der EU von ihr betroffen sind. Das „Bayerische Ärzteblatt“ greift in der Serie „Seltene Erkrankungen“ sowohl methodische und systematische Aspekte auf und berichtet auch über einzelne seltene Erkrankungen (SE). Ziel ist es, durch die verschiedenen Beiträge, die Befassung mit diesem heterogenen Thema anzuregen und eine Sensibilisierung zu erreichen.

Im sechsten und letzten Teil der Serie schreibt Dr. Marc Batschkus über Suchstrategie in sieben Schritten.

„Forschen heißt sehen, was jeder sieht und denken, was keiner denkt.“ Johann Wolfgang von Goethe

Wie kommt man zur Diagnose einer seltenen Erkrankung? Wo und wie kann man recherchieren? Hierzu soll im Folgenden eine praktische Hilfestellung gegeben werden.

Für das Vorliegen einer seltenen Erkrankung kann es zunächst unter anderem folgende Hinweise geben:

» Atypische Symptome oder Symptomkombination.
» Länger bestehende Beschwerden.
» Bereits mehrere Ärzte konsultiert.
» Nicht oder kaum Ansprechen auf angesetzte Therapie.
» Bei Kindern: Belastung oder Unzufriedenheit der Eltern mit der Situation und Behandlung.

1. Der erste und wichtigste Schritt bei der Diagnose einer seltenen Erkrankung ist das Zulassen der Möglichkeit, dass es sich um eine solche handeln könnte. In der klinischen Routine kann diese Möglichkeit leicht untergehen. Besonders, wenn eine Diagnose bereits im Raum steht, ist die Frage „Was könnte es noch sein?“ wichtig und manchmal sogar lebensrettend.


Abbildung 1: Patientenorganisationen sammeln Informationen, die extrem wichtig und relevant sind für die erschwerte Diagnose seltener Erkrankungen: www.achse-online.de

2. Das Ziel einer Suche ist zunächst nicht die spezifische Diagnose, sondern eine Liste mit möglichen Differenzialdiagnosen. Davon ausgehend können leichter sinnvolle Tests angeordnet werden.

3. Vor der eigentlichen Suche kann der Blick in die Liste „Mögliche Erstdiagnosen von Seltenen Erkrankungen in der Allgemeinmedizin bzw. in der Hausarztpraxis“ hilfreich sein und Hinweise geben

» www.uni-ulm.de/fileadmin/website_uni_ulm/med.inst.020/Seiten/2014_Denies_Liste_seltener_Krankheitsbilder_II.pdf

4. Bei seltenen Erkrankungen und der Suche nach Differenzialdiagnosen sind ­spezialisierte Suchmaschinen Google und PubMed überlegen. Die Eingabe der Symptome führt zu einer Liste möglicher Erkrankungen, die als Ausgangsbasis für weitere Schritte dient. Hierbei sollten Symptome und Verlauf begrifflich charakterisiert werden wie im Beitrag von Privatdozent Dr. Phillipp Moog beschrieben (Bayerisches Ärzteblatt 12/2020, Seite 620 ff.).
In den Zentren für Seltene Erkrankungen werden immer mehrere Datenbanken konsultiert und deren Ergebnisse verglichen und diskutiert.

» Find Zebra https://findzebra.com nutzt Informationen wie Symptome,
» Symptomähnlichkeit sowie Ähnlichkeiten von Publikationen. Dieses Vorgehen verbessert die Suchergebnisse beträchtlich.

» Das EU-Projekt ORPHANET bietet eine spezialisierte Datenbank für seltene Erkrankungen: www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php?lng=DE

» Ein potentes Tool bei der Recherche ist die Datenbank Isabel Health: https://symptomchecker.isabelhealthcare.com



Abbildung 2: Die eindrucksvolle Geschichte hinter der Symptomsuchmaschine Isabel: www.isabelhealthcare.com/about-isabel-healthcare/isabel-story

Weitere spezialisierte Suchmaschinen:

» OMIM – Online Mendelian Inheritance in Man ist eine Gen- und Erbkrankheiten Datenbank: www.omim.org/

» Phenomizer verwendet Human Phenotype Ontology (HPO), um phenotypische Abweichungen mit genetischen Erkrankungen zu korrelieren: http://compbio.charite.de/phenomizer/

» SimulConsult ist auf Neurologie und Genetik spezialisiert: https://simulconsult.com

» POSSUM ist eine Dysmorphologie-Datenbank mit metabolischen, teratogenen, chromosomalen und Skelett-Syndromen. www.possum.net.au

» Einen neuartigen Ansatz Crowd-Intelligenz ins Spiel zu bringen und mit Spezialisten zu kombinieren bietet www.crowdmed.com. Hier können sogenannte „Medical Detectives“ als Mitglieder zur Lösung von Fällen beitragen und dafür belohnt werden. www.crowdmed.com/case-selection

5. Die Motivation aufrechterhalten, sich mit einem komplexen Fall auseinanderzusetzen. Das beinhaltet nicht nur die dazu nötige Zeit für Recherche und Überlegungen, sondern auch die Bereitschaft das derzeit quasi ohne adäquate Vergütung zu tun. Hier kommt also tatsächlich ärztlicher Ethos zum Tragen und ist auch gefordert.


Abbildung 4: Die Rubrik Papers of the month gibt einen guten Einblick in den aktuellen Stand der Forschung und neue Erkenntnisse: www.research4rare.de/informationen

6. Das Einbeziehen von Kollegen und anderen behandelnden Ärzten kann sowohl das Symptombild als auch die nötige Einschätzungsvielfalt bereichern und unterstützt die Findung einer seltenen Diagnose.

7. Sowohl, wenn eine Diagnose gefunden wurde als auch, wenn das nicht gelungen ist, ist die Information zu Zentren für Seltene Erkrankungen bedeutsam und hilfreich. Hier wird Erfahrung und Spezialwissen gebündelt und hilfreiche Wege eingeleitet: www.se-atlas.de/home/


Abbildung 5: Zentren für seltene Erkrankungen in Deutschland: www.se-atlas.de/map/zse/

Ein rechtzeitiger Hinweis und Nutzung dieser Quelle, kann den Weg wesentlich erleichtern.

Dieser Beitrag ist eine Fortsetzung der Surftipps aus der Oktober-Ausgabe 2020:

» www.bayerisches-aerzteblatt.de/fileadmin/aerzteblatt/ausgaben/2020/10/einzelpdf/BAB_10_2020_486_487.pdf

Der behandelnde Arzt ist hier wie selten gefordert und in der Verantwortung seinen Blick zu weiten und auf Ungewöhnliches zu achten. Lange Diagnose-Odysseen und Leidenswege können so vermieden und manchmal sogar Leben beträchtlich verlängert werden. Der Einsatz lohnt sich.


Abbildung 6: Vergleichsstudie zwischen Websuche, PubMed, Omim und FindZebra: www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/21675511.2015.1083145

 

Wie immer gibt es auch diesen Artikel als PDF mit Links zum Anklicken: www.bayerisches-aerzteblatt.de/aktuelles-heft.html

Autor

Dr. Marc M. Batschkus, Arzt, Medizinische Informatik,Spezialist für E-Health, E-Learning, Datenmanagement & macO, E-Mail: mail(at)batschkus.de

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