„Tränenspuren“ Katastrophenhilfe mit humedica e. V. in Nepal

In der Region Sindhupalchok wurden bis zu 90 Prozent aller Gebäude durch das Erdbeben zerstört. (Foto: Christoph Jorda)

Als die Erde in Nepal am 25. April 2015 mit einer Stärke von 7,8 auf der Richterskala bebte und die befürchtete Zerstörung von riesigem Ausmaß verursachte, war ich wie wohl jeder potenzielle Akteur in der humanitären Katastrophenhilfe zutiefst betroffen, wusste aber: Es wird nicht mein Einsatz werden, längst hatte ich für Rumänien zugesagt, wo wir mit einem Team in Gefängnissen behandeln würden.

Seit Anfang 2013 bin ich Teil der ehrenamtlichen Einsatzteams der Nichtregierungsorganisation humedica e. V. mit Hauptsitz in Kaufbeuren. Zusammen mit mehr als 600 anderen Menschen aus allen Teilen Deutschlands, die unterschiedliche medizinische Professionen haben, setze ich die Katastrophenhilfe von humedica ehrenamtlich um. Die in der Regel etwa zweiwöchigen Einsätze in allen Teilen der Erde basieren auf einer immensen Handlungsschnelligkeit der Organisation. Für die Einsatzkräfte bedeutet das zumeist Aufbruch innerhalb weniger Stunden nach einer Katastrophe. Ein Umstand, der ob der eigenen Situation sehr gut vorbereitet sein will.

Auch meine „Nepalexkursion“ ergab sich in Höchstgeschwindigkeit. Der zunächst avisierte Gefängniseinsatz in Rumänien musste aus organisatorischen Gründen abgesagt werden. Im Zeitfenster der Absage erfolgten in Nepal mehrere überaus heftige Nachbeben und schließlich ein zweiter Erdstoß, dessen Intensität Ausmaße eines zweiten Hauptbebens erreichte. Noch am selben Tag erreichte mich die Anfrage von humedica, ob ich mir vorstellen könne, nicht nach Rumänien, sondern nach Nepal zu fliegen, um dort im Erdbebengebiet zu helfen. Ja, das konnte ich.


Gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Thomas Katzenbach halfen wir ehrenamtlich den Opfern des schweren Erdbebens in Nepal. (Foto: humedica)

Kathmandu

Bereits beim abenteuerlichen Anflug auf den erstaunlich kleinen International Airport Kathmandu waren die massiven Konsequenzen der Katastrophe deutlich sichtbar. Noch in der Luft fragten wir uns, was wohl die bunten Flecken am Boden waren, die das Stadtbild dominierten. Am Boden wurde dieses Rätsel gelöst: Diese farbigen Kleckse stellten sich als Zelte und Planen heraus; aus Angst vor den vielen Nachbeben wollte niemand in einem Haus schlafen.

Auch die Nachbeben, die wir miterlebten, waren teilweise sehr stark. Bei den leichten zitterte die Erde, aber ich erinnere mich an eine Situation in Kathmandu, in der das Beben eine Stärke von 5,8 auf der Richterskala erreichte, als wirklich alles anfing zu schwanken, auch der Boden unter meinen Füßen. In diesem Moment bin ich auch auf die Straße gerannt.

Sindhupalchok

Als erstes machten wir uns auf den Weg von Kathmandu nach Jalbire im Distrikt Sindhupalchok. Dort gab es ein Krankenhaus, für das humedica nach Absprache mit den internationalen Koordinierungsstellen verantwortlich war.
 
Je näher wir unserem Ziel kamen, desto größer wurde das Ausmaß der Katastrophe. Waren nach offiziellen Schätzungen in Kathmandu etwa 15 Prozent der Gebäude zerstört oder betroffen, so waren es im Distrikt Sindhupalchok bis zu 90 Prozent. Auch das Krankenhaus in Jalbire war so stark beschädigt, dass die Mitarbeiter das Gebäude nicht mehr betreten konnten. Die pragmatische, im Grunde aber einzige kurzfristige Lösung: Behandlungen fanden in einem Zelt außerhalb statt.

Nach intensiven Behandlungszeiten zurück in Kathmandu erhielten wir während einer Sitzung im Gesundheitsministerium eine Anfrage nach medizinischer Hilfe für ein abgelegenes Dorf in der Nähe von Marming in den Bergen, sehr nahe an der tibetischen Grenze. Die Dorfbewohner waren in einem uralten, bunten Bus gekommen und wir konnten uns, nachdem wir unsere Medikamente in einer Krankenhausapotheke aufgestockt hatten, am nächsten Morgen mit ihnen auf den mehrstündigen, durchaus gefährlichen Weg zu ihrem Dorf machen. Platz genug für unsere Ausrüstung gab es im Bus. Natürlich hatten wir auch unsere Satellitentelefone dabei und das war gut so.

Unser Basislager lag in 1.200 Meter Höhe in einem stark beschädigten Resort. Jeden Morgen passierten wir eine Hängebrücke über eine gut 160 Meter tiefe Schlucht, durch die ein Fluss tobte und stiegen nach dieser ersten Gefahrenstelle eine halbe Stunde bergauf in das Dorf. Zunächst mussten wir mithilfe der sehr freundlichen und hilfsbereiten Bewohner unser Behandlungszelt, die Medikamente und dann auch PAUL, ein Wasseraufbereitungsmodul, den Berg hochtragen. PAUL ist schon ein lässiger Kollege, er lässt sich wie ein Rucksack tragen, ist aber leider deutlich größer. Und ja, auch deutlich schwerer. Es gab zwar eine sogenannte Straße zum Dorf, diese war aber zum Zeitpunkt unserer Anwesenheit nicht zu passieren. Dies änderte sich hin und wieder und ich durfte aufgrund eines wichtigen Medikamententransportes auch die Erfahrung machen, mit einem Jeep über diese Straße zu fahren. Ein für mich einmaliges Unterfangen. Irgendwie hänge ich an meinem Leben. PAUL wurde übrigens von den Dorfbewohnern sehr dankbar aufgenommen und bekam innerhalb kürzester Zeit ein schickes Schutzhäuschen aus Plastik und Holz, Marke Eigenbau selbstverständlich.

Eine Erkrankung, die uns häufig begegnete, war wässrige oder blutige Diarrhoe, was sich durch PAUL sicherlich reduzieren wird. Viele litten unter Pneumonien, infizierten alten Verletzungen, beim Wiederaufbau zugezogenen neuen Verletzungen und posttraumatischen Belastungsstörungen. Schon am ersten Behandlungstag kamen nicht nur die Bewohner des Dorfes, sondern auch Menschen aus der Umgebung, die mehrere Stunden Fußmarsch auf sich nahmen. Manche trugen Angehörige auf dem Rücken, die zu schwach zum Laufen waren.

Uns führte die Patientensituation sehr schnell zu der Frage, wie ein Krankentransport in die nächstgelegene Klinik realisiert werden kann. Immer wieder begegneten uns Menschen, die wir zwar erstversorgen konnten, die zur weiteren Behandlung aber in eine Klinik gebracht werden mussten. Eine Mutter etwa brachte ihre vierjährige komatöse Tochter, die dringend verlegt werden musste. Die Lösung war, wie so häufig im Leben, naheliegender als befürchtet. Da war doch dieser bunte Bus, mit dem wir gekommen waren. Übrigens das einzige Fahrzeug überhaupt weit und breit. Die Bewohner stellten ihn sofort zur Verfügung. Nach erfolgter Erstversorgung wurde das Kind den Berg heruntergetragen und mit dem Bus transportiert. Leider war das nächstgelegene Hospital, eineinhalb Autostunden entfernt, zerstört. So musste das Kind nach Kathmandu gebracht werden und trotz Erstversorgung blieb die bange Frage: Wird es den langen Transport von rund vier Stunden überstehen? Ja, hat es. Dass es dem Mädchen gut ging, erfuhren wir allerdings erst später.

Bergsprechstunde

Unsere Sprechstunden in den Bergen brachten uns in den über zwei Wochen meiner Anwesenheit intensive Beschäftigung. In Zahlen ausgedrückt bedeutete das die Versorgung von mehr als 1.100 Patienten. Manche hinterließen bleibenden Eindruck. Beispielsweise die Mutter von acht Kindern, deren Mann bei dem zweiten Beben Mitte Mai in ihrem zusammenstürzenden Haus sein Leben lassen musste. Sie sprach wenig, dafür umso deutlicher ihr Gesicht. Durch all den Schmutz und Staub hatten sich salzige Tränenspuren einen Weg gebahnt. Auch für uns Helfer waren das bewegende Situationen.

 

Unter schwierigen Bedingungen leisten die humedica-Ärzte medizinische Hilfe in abgelegenen Regionen weltweit. (Foto: Christoph Jorda)

Beeindruckt hat mich auch ein Mann, der seine zweijährige Tochter auf den Händen herbei trug. Sie hatte eine schwere Pneumonie. Wir baten den Vater, in zwei Tagen zur Kontrolle zu kommen, was er auch tat. Dem Kind ging es schon wieder so gut, dass es die letzten Meter bis zum Behandlungszelt selbst laufen konnte. Es stellte sich heraus, dass die Beiden aus einem etwa drei Stunden Fußmarsch entfernt liegenden Dorf kamen. 

Da es bereits gegen 19:00 Uhr Ortszeit dunkel wurde, mussten wir natürlich auch rechtzeitig wieder zu unserem Basislager absteigen, natürlich auch über die bereits erwähnte Hängebrücke. Nachts konnte man deutlich hören, wie in unserer unmittelbaren Umgebung Geröll und Erdlawinen abgingen. Eine Gerölllawine war sehr nahe, sodass man uns warnte: „Passen Sie auf, es ist gefährlich!“. Da sind wir dann lieber erstmal aus dem Zelt gelaufen und haben gewartet, bis die Lage sich beruhigte. Am nächsten Morgen sah man dann, dass sich das Ganze nur etwa 20 Meter neben dem Zelt abgespielt hatte. Es war definitiv gefährlich!

In der zweiten Woche wurde mein Kollege, der wieder nach Deutschland musste, durch zwei weitere Ärzte und eine Krankenschwester ersetzt. Das gab uns die Möglichkeit, auch ein sogenanntes „Outreach“ durchzuführen, oder, um es in unserer Muttersprache auszudrücken, Hausbesuche zu machen. Eine Kollegin in Begleitung einer Krankenschwester und mehrerer lokaler Helfer machte sich auf den gefährlichen Weg zu einer größeren Gruppe von Menschen, die sich mit ihren Tieren auf einen Bergrücken gerettet hatte und von dort auch nicht mehr weg wollte. Hier fühlten sie sich sicher. Sie waren sehr dankbar, dass sie auch an diesem ungewöhnlichen Ort medizinische Hilfe bekamen. Erneut eine physische Belastungsprobe für Mensch und Material, verbunden mit immensen logistischen Herausforderungen.



Tausende Kinder haben durch das Erdbeben ihr Zuhause, ihre Schule und im schlimmsten Fall Angehörige verloren. (Foto: Christoph Jorda)

Nach einem in vielerlei Hinsicht bemerkenswerten Einsatz verließ auch ich schließlich dieses besondere Land mit seinen liebenswerten Einwohnern. Dies allerdings nicht, ohne noch die letzten Blicke auf die majestätischen Berge des Himalaya intensiv zu genießen. In meinen Gedanken kehre ich regelmäßig zurück. Die Zeit in Nepal hat mir einmal mehr vor Augen geführt, wie wichtig unsere weltweite Hilfe für Menschen in Not ist. Und wie wir diese Hilfe tatsächlich auch in die entlegenen Winkel unserer Erde bringen.

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