Take-Home-Naloxon für Opioidabhängige

Drogennotfallkit

Hintergrund des Modellprojekts

Für die seit Jahren hohe bis steigende Zahl der Drogentoten sind Opioidüberdosierungen hauptverantwortlich [1]. Tabelle 1 zeigt die unterschiedlichen Mortalitätsrisiken Opioidabhängiger.


Tabelle 1: Mortalitätsrisiko Subgruppen Opioidabhängiger


Allen präventiven und therapeutischen Angeboten ist es zuletzt leider nicht gelungen, die Zahl der Drogentoten zu reduzieren. Ein Ansatz zur Schadensminderung könnte sein, zielgerichtete Erste-Hilfe-Maßnahmen in Kombination mit einem Notfallmedikament zu verbreiten. Tatsächlich sind häufig Dritte bei einer Opioidüberdosierung anwesend, meist selbst Konsumierende [4]. Diese medizinischen Laien sind nach Eigenangaben zu 80 Prozent gewillt, der überdosierten Person zu helfen [4]. Es werden auch Rettungsversuche unternommen [4], diese jedoch oft wenig effizient. „Ersthelfende“, die selbst konsumieren, vertrauen häufig auf in der Szene kolportierten Mythen zur „Behandlung“ einer Überdosis (zum Beispiel in kaltes Wasser legen). Die Unkenntnis zielführender Erste-Hilfe-Maßnahmen ist nicht spezifisch für Opioidabhängige. Auch in der Mehrheit der deutschen Allgemeinbevölkerung sind Wissen und Bereitschaft zu Erste-Hilfe-Maßnahmen begrenzt. So erfolgt nur in knapp 42 Prozent aller Notfälle eine Laien-Ersthilfe [5].

Um bei einer Opioidüberdosierung Anwesende in die Lage zu versetzen, effizient und schnell Hilfe leisten zu können, sollten Fertigkeiten und das Wissen zu geeigneten und tatsächlich sinnvollen Erste-Hilfe-Maßnahmen vorliegen. Zudem könnte die Verfügbarkeit und der richtige Umgang mit dem wirksamen Notfallmedikament Naloxon lebensrettend sein. Ein Präparat zur nasalen Applikation ist seit 2018 in Europa zugelassen (Nyxoid®) und speziell an die Resorptionsfähigkeit der Nasenschleimhaut angepasst.

Naloxon, als wichtiger Baustein bei der Behandlung einer lebensbedrohlichen Opioid­überdosierung, ist ein reiner Antagonist an μ-Opioidrezeptoren [6]. Es kann also im optimalen Fall, kombiniert mit geeigneten ­Erste-Hilfe-Maßnahmen, die lebensbedrohliche atemdepressive Wirkung eines Opioids innerhalb von Minuten aufheben oder zumindest so lange lindern, bis der Rettungsdienst eintrifft
(Übersicht bei [7]).

Die Vergabe von Take-Home-Naloxon-Kits (THN) an Opioidabhängige und Personen aus deren Freundeskreis und Familie, also Personen, die am ehesten Zeuge von Opioidüberdosierungen werden können, erfolgt seit den 1990er-Jahren in einigen Ländern zum Beispiel in Großbritannien, Australien, USA, Dänemark, Estland und Norwegen in unterschiedlichem Umfang [8]. In Deutschland gab es bislang kleinere, auf einzelne Regionen beschränkte THN-Vergabeprojekte [9], die vor allem erfahrungsbasiert konzipiert waren, da es kein evaluiertes THN-Schulungsmanual gab.  

So entstand das bayerische Take-Home-Naloxon Modellprojekt, mit dem Ziel, zu evaluieren, unter welchen manualisierten (Schulungs-)Bedingungen Take-Home-Naloxon medizinisch sicher, ­effektiv und rechtssicher als fester Bestandteil der ­Drogenhilfe etabliert werden kann.

Bayerisches Take-Home-Naloxon Modellprojekt (BayTHN)

Für das BayTHN wurde ein Schulungsmanual auf Basis einer systematischen Literaturrecherche unter Berücksichtigung der einschlägigen Leitlinien und Expertenberatung mit Fachärztinnen und Fachärzten für Notfallmedizin erstellt und an die Möglichkeiten und Grenzen der Laienhilfe bei Opioidabhängigen angepasst.

Ziel der Studie war, Opiodabhängigen genügend Wissen und Fähigkeiten zu vermitteln, um eine Opioidüberdosierung zeitnah zu erkennen, in einem Drogennotfall richtig zu handeln sowie Naloxon lebensrettend und sachgemäß anzuwenden. Die Ergebnisse der Evaluation sollten einen „Standard“ für erfolgreiche Schulungen in den Zielgruppen ermöglichen.

Die Studie wurde von einem Projektteam der Universitäten Regensburg, München und Bamberg durchgeführt. Die Umsetzung der manualisierten, psychoedukativen Intervention erfolgte in Kooperation mit Suchthilfeeinrichtungen aus fünf Modellregionen der größten Städte in ­Bayern (siehe Tabelle 2).



Tabelle 2: Kooperationspartner THN-Modellprojekt Bayern

Die Studie ist registriert beim Deutschen Register Klinischer Studien (DRKS-ID: DRKS00023600). Ein zustimmendes Votum der Ethikkommission der Universität Regensburg erfolgte.

Zwischen Oktober 2018 und Juni 2020 war der Einschluss von 450 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Risikogruppen (siehe Tabelle 1) im Alter von 18 bis 70 Jahren vorgesehen. Um den unterschiedlichen Settings der Opioidkonsumierenden aus der Szene, substituierten, wie auch (kurzzeitig) abstinenten oder inhaftierten Opioidabhängigen, gerecht zu werden, konnten die manualisierten Schulungen an die spezifischen Bedürfnisse der Zielgruppe, die Umgebung und die verfügbaren Mittel angepasst werden, zum Beispiel Gruppen- vs. Einzelschulung, Therapieeinrichtung vs. niedrigschwellige Hilfe vs. Streetwork. Kernthemen der manualisierten Schulung sind unter anderem die einfache und leicht merkbare Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten zu geeigneten Erste-Hilfe-Maßnahmen, zum Umgang mit nasalem Naloxon, inklusive dessen Wirksamkeit und Eigenschaften. Wichtig ist dabei auch das Verhalten nach einem Naloxon-Einsatz, zum Beispiel zum Umgang mit ausbleibender/unzureichender Wirkung, Auftreten von Entzugssymp­tomen, erneute Überdosis durch nachlassende Wirkung.

Nach erfolgter Schulung wurde den Teilnehmenden ein kostenfreies Take-Home-Naloxon-Kit (inklusive nasalem Naloxon) ausgehändigt bzw. bei inhaftierten Opioidabhängigen bei Haftentlassung. Rechtliche Vorgaben wie freie Apothekenwahl und Arzt-Patienten-Kontakt zur Rezeptierung wurden im Rahmen von Best-Practice-Modellen berücksichtigt. Die Gewinnung regional kooperierender Ärztinnen und Ärzte stellte bei der praktischen Umsetzung eine besondere Herausforderung dar.

Das Drogennotfallkit sollten Opioidabhängige optimalerweise ständig bei sich tragen, um es im Notfall verfügbar zu haben (siehe Abbildung 1).


Abbildung 1: Beispiel Drogennotfallkit; stabile, leichte, wasserfeste Aufbewahrung. © DrugStop, Regensburg

Eine beigelegte Kopie des Rezeptes bestätigt bei etwaigen Kontrollen (zum Beispiel durch die Polizei) den rechtmäßigen Besitz. Beispielhaft ist hier das Notfallkit von DrugStop e. V., Regensburg abgebildet (siehe Abbildung 2).


Abbildung 2: Beispielhafter Inhalt Drogennotfallkit © DrugStop, Regensburg

Beispielhafte Ergebnisse

Eine vorläufige Auswertung der Daten erfolgte zum Stichtag 2. Februar 2021.

473 Opioidabhängige, davon 60 in Haft, konnten geschult und evaluiert werden. In der Auswertung der Schulungsevaluation zeigt sich durch die im Modellprojekt etablierte manualisierte Drogennotfallschulung ein signifikanter Wissenszuwachs, unabhängig von der Subgruppe der Teilnehmenden (Substitutionsbehandlung, „Szene“, Inhaftierte). Die Teilnehmer erwarben sowohl Wissen wie Fertigkeiten, um in einem Drogennotfall sicherer und effektiver zu handeln.

Dies zeigte sich auch bei den in der Nach­beobachtung 93 protokollierten Drogennotfällen, in denen Teilnehmende, bis auf eine Ausnahme, erfolgreich ihre Kenntnisse und das nasale Naloxon einsetzten [10].

Vermutlich unterstützt durch das Aktualisieren des eigenen Überdosis-Risikos im Rahmen der Drogennotfallschulung und insbesondere nach Einsatz des THN bei einem Drogennotfall einer anderen Person, kam es bei einigen Teilnehmenden zu einer Konsumreduktion und dem Antritt einer neuen Behandlung. Dies ist bemerkenswert, da vereinzelt befürchtet wird, dass Opioidabhängige riskanter oder mehr konsumieren könnten, wenn sie über Naloxon als Gegenmittel verfügen. Dies konnte im Modellprojekt nicht bestätigt werden.

Bezogen auf die geschätzte Zahl der Opioid­abhängigen in Bayern, konnten im Rahmen des Modellprojektes ca. 3,2 Prozent der Opioid­abhängigen in Bayern eingeschlossen werden [11]. Sehr förderlich war dabei ein sogenannter „One-Stop-Ansatz“, sodass der notwendige Arzt-Patienten-Kontakt im Kontext der Schulung erfolgte. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass ansonsten das THN-Kit nur bei einem Bruchteil der Schulungsteilnehmenden tatsächlich ankommt.

Take-Home-Naloxon nach einer evaluiert wirksamen Schulung könnte ein vergleichsweise kostengünstiger und effizienter Baustein zur Schadensminderung sein. Soll dies am Ende zu einer erkennbaren Reduktion der Zahl der Drogentoten führen, dann muss das Ziel eine breite Durchdringung bei Opioidabhängigen sein. Nur so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Drogennotfall auch ein Opioidabhängiger in der Nähe ist, der ein Take-Home-Naloxon bei sich hat und im zielführenden Umgang und geeigneter Erster-Hilfe geschult ist.

Zusammenfassend konnte im bayerischen Modellprojekt gezeigt werden, dass durch eine manualisierte, qualitätsgesicherte Drogennotfallschulung Take-Home-Naloxon als medizinisch sichere und effektive Möglichkeit der Schadensminderung zur Reduktion von Drogentod bei Opioidabhängigen umsetzbar ist.

Hilfreich für die praktische Umsetzung wäre es, wenn es gelänge, mehr Ärzte zu gewinnen, die mit Einrichtungen der Drogenhilfe bei der Umsetzung erfolgreicher THN-Schulungen kooperieren.

Die Durchführung des Modellprojektes erfolgte mit einer projektgebundenen finanziellen Förderung durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege (G27C-G8434-2017/9-43)

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autoren


Professor Dr. Norbert Wodarz1



Heike Wodarz-von Essen1


Professor Dr. Jörg Wolstein2


Professor Dr. Oliver Pogarell3

1Zentrum für Klinische Suchtmedizin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg, Universitätsstr. 84, 93053 Regensburg

2Institut für Psychologie, Universität Bamberg, Markusstr. 8a, 96045 Bamberg

3Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum der Universität München, Ludwig-Maximilians-Universität München, Nußbaumstr. 7, 80336 München

Korrespondierende Autorin:

Heike Wodarz-von Essen, Zentrum für Suchtmedizin der Klinik und Poli­klinik für Psychiatrie und Psycho­therapie der Universität Regensburg am Bezirksklinikum, medbo, Universitätsstr. 84, 93053 Regensburg, Tel.: 0176 81109396, Fax: 0941 941-1005 E-Mail: naloxon-bayern@outlook.de

Top