Seltene Erkrankungen, ein häufiges Problem ‒ Eine Einführung

© Andrea Haase/mauritius-images.com

In der Europäischen Union (EU) gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Men-schen in der EU von ihr betroffen sind. Da es geschätzt über 5.000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen (SE) gibt, ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der „Rarität“ der einzelnen Erkrankungen hoch. Das „Bayerische Ärzteblatt“ greift in der Serie „Seltene Erkrankungen“ sowohl methodische und systematische Aspekte auf und berichtet auch über einzelne SE. Ziel ist es, durch die verschiedenen Beiträge, die Befassung mit diesem heterogenen Thema anzuregen und eine Sensibilisierung zu erreichen.

Den Anfang der Serie macht Professor Dr. Thomas Kühlein, Universitätsklinikum Erlangen, Allgemeinmedizinisches Institut, mit „Seltene Erkrankungen, ein häufiges Problem – Eine Einführung“.

*  In diesem Artikel wird zur Verbesserung der Lesbarkeit grundsätzlich die männliche Form benutzt. Die weibliche Form ist dabei immer mit gemeint.


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In der Summe sind seltene Erkrankungen häufig. Ihre Diagnose erfordert das, was Ärzte* selten haben: Zeit und spezifisches Wissen. Lange wurden seltene Erkrankungen vernachlässigt. Inzwischen ist auf gesetzgeberischer Seite viel geschehen, um diesem Missstand abzuhelfen. Nicht nur entsprechende Forschung, sondern auch die Marktsituation der entsprechenden Medikamente wurde bessergestellt. Dadurch hat sich vieles für Patienten mit seltenen Erkrankungen verbessert, aber es ist längst nicht alles gelöst.
Die Medizin ist voller Sprüche, die vor allem jungen und unerfahrenen Ärzten helfen sollen, sich im Klinikalltag zurechtzufinden: „Wenn Du Hufschlag hörst, denke nicht an ein Zebra“ oder „Wenn ein Vogel auf der Stromleitung sitzt, ist es meistens ein Spatz und selten ein Kolibri“. Die Sprüche sind hilfreich und machen Sinn. Ihre Gefahr ist jedoch, dass an das Zebra oder den Kolibri erst im zweiten Schritt oder eben nicht mehr gedacht wird. Ist die seltene Erkrankung einmal benannt, kennt jeder Mediziner das Unbehagen in den Gesichtern von Patienten, die in der Visite nicht ohne Stolz und Freude mit der Aussage vorgestellt werden: „Hier haben wir einen der extrem seltenen Fälle von …“. Was Ärzte spannend finden, ist selten gut für die Betroffenen.

Prävalenz

Seltene Erkrankungen haben per definitionem eine Prävalenz von weniger als einem je 2.000 Einwohnern in der Europäischen Gemeinschaft oder einem von 1.250 in den USA. Nach Schätzungen der WHO gibt es mehr als 5.000 verschiedene solcher Erkrankungen, wobei diese Zahl in der Literatur deutlich schwankt. Sicher ist: die Summe des Seltenen ist häufig. In Europa leben geschätzt etwa 30 Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen [1]. Weil die meisten dieser Krankheiten von der Forschung, aber auch in der medizinischen Ausbildung, lange Zeit vernachlässigt wurden, nennt man sie „Gesundheitswaisen“ (health orphans) und sollte es Medikamente für diese Krankheiten geben, nennt man sie Waisenmedikamente (orphan drugs). Erst 1997 wurde durch das französische Gesundheitsministerium und das Institut National de la Santé et de la Recherche Médicale (INSERM) das Orphanet gegründet, dessen Ziel es ist, Diagnose und Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern [2]. Während es in den USA bereits 1983 und in Japan 1993 erste gesetzliche Regelungen gab, die Erforschung seltener Erkrankungen voranzutreiben, geschah dies in Europa erstmalig 1999 mit der Regelung (EC) No 141/2000 des Europäischen Parlaments und des Europarates [3]. Der Status „Orphan drug” gewährt dem Hersteller besondere Vermarktungsrechte durch größeren Schutz des Patents. Zusammen mit der Regelung wurde im Jahr 2000 das Committee for Orphan Medicinal Products (COMP) an der European Medicines Agency (EMA) eingerichtet, das nach festgelegten Kriterien bestimmt, welche Medikamente auf die Liste der „Orphan Drugs“ kommen und welche nicht. In den USA wurde im Jahr 2002 die bestehende Gesetzgebung noch einmal mit dem „Rare Diseases Act“ verbessert, der es ermöglichte, das „Office of Rare Diseases Research“ zur Förderung der Erforschung dieser Krankheiten zu gründen. In Deutschland wurde im Jahr 2010 auf Initiative des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem ACHSE e. V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen), einem Dachverband von Selbsthilfeorganisationen aus dem Bereich seltener Erkrankungen, das „Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen“ (NAMSE) gegründet [4]. Im August 2013 wurde der „Nationale Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen“ mit insgesamt 52 Maßnahmen, mit denen die drängendsten Probleme der Betroffenen und ihrer Angehörigen angegangen werden sollen, verabschiedet [5]. Es tut sich also einiges zugunsten der Patienten mit seltenen Erkrankungen.

Ein großer Teil der seltenen Erkrankungen beruht auf Genmutationen. Wohl auch deshalb handelt es sich bei etwa 70 Prozent um pädiatrische Patienten [6]. Das vor allem von Studierenden genutzte elektronische Informationssystem Amboss fasst einige dieser Erkrankungen bezeichnenderweise unter der Überschrift „Sammelsurium in der Pädiatrie“ zusammen [7]. Die Zahl pädiatrischer Syndrome, die oft mit vielen Eigennamen der Entdecker bezeichnet werden, ist verwirrend groß. Das Deutsche Standardwerk zu klinischen Syndromen in der Pädiatrie umfasst über 1.000 Seiten [8]. Genmutationen können sich aber auch erst spät im Leben bemerkbar machen. Das Orphanet schätzt, dass sich über 50 Prozent der seltenen Krankheiten erst im Erwachsenenalter manifestieren. Die Zahlen sind offensichtlich unsicher, da die Erfassung dieser Erkrankungen große Probleme bereitet. Von den 6.954 vom Orphanet geführten seltenen Erkrankungen, findet sich in der ICD-10 nur für 355 ein spezifischer Code. Dies wird sich mit der gerade publizierten ICD-11 ändern [9]. Eine weitere Gruppe seltener Erkrankungen sind maligne Tumorerkrankungen. Durch geneti-sche Sequenzierung lässt sich in Zeiten der personalisierten Medizin aus nahezu jeder Tumorerkrankung eine seltene Krankheit machen, wofür inzwischen auch der zynische Begriff „Orphanisierung“ genutzt wird [10].

Diagnostik

Aber bevor Erkrankungen epidemiologisch erfasst werden können, müssen sie erst einmal diagnostiziert werden. Die Pädiatrie scheint dafür noch verhältnismäßig gut gerüstet. Aber wie sieht es in der Erwachsen-enmedizin aus? Und wie gelingt der Übergang von der pädiatrischen Versorgung dieser Patienten zur Ver-sorgung der Erwachsenen? Seltene Erkrankungen herauszufinden und zu betreuen erfordert neben Wissen und Interesse vor allem eines: Zeit. Genau die aber fehlt im heutigen Klinikalltag und in den Praxen am meisten. Die Vermarktwirtschaftlichung des Gesundheitswesens war einmal so gewünscht und beschlossen. Sie bestimmt die Taktungen unserer Krankenhäuser und Praxen [11]. Es bleibt keine Zeit nachzudenken oder gar nachzuschlagen. Der Schwerpunkt des Marktes lag schon immer auf den großen Zahlen. Krankenhäuser sind dann gut, wenn sie große Zahlen der immer selben ­Eingriffe durchführen oder sich immer weiter auf diese spezialisieren. Auch Universitätsklinika sind vom großen Rennen um das liebe Geld und der Not der Erreichung wenigstens einer „schwarzen Null“ nicht ausgenommen. Was in diesem Rennen als erstes auf der Strecke bleibt, ist die Zeit, denn die ist bekanntlich Geld, und in Folge sind es als Erstes die Patienten mit seltenen Erkrankungen. Das System der Fallpauschalen schadet Patienten mit seltenen Er-krankungen doppelt. Es erfordert eine schnelle Diagnosestellung, die der Gründlichkeit der Diagnosestellung im Weg steht, und es sieht keine Ziffern für seltene Erkrankungen vor [12].

Auch die Industrie hat sich lange Zeit vor allem auf die häufigen Erkrankungen gestürzt. Durch die Gesetz-gebungen zugunsten der „Orphan Drugs“ scheint sich das Problem jedoch beinahe umgekehrt zu haben. In Kanada beispielsweise kommen inzwischen 42 Prozent der Ausgaben für Arzneimittel weniger als einem Prozent der Patienten zugute [13]. Die Preise für diese Medikamente sind schnell ins Uferlose nach oben geschossen und es bestehen erhebliche Zweifel, ob dies mit entsprechenden Entwicklungskosten begründet werden kann [14].

Zum Teil sind es alleine die neuen Zulassungen bereits bekannter Medikamente für seltene Erkrankungen, die dasselbe Medikament um ein Vielfaches teurer werden lassen [15]. Die steigenden Zahlen seltener Er-krankungen und die immensen Kosten, vor allem für deren medikamentöse Therapie, bedrohen inzwischen die Finanzierbarkeit unserer Gesundheitssysteme [16].

Häufige und damit gewinnträchtige Erkrankungen waren bislang vor allem die Erkrankungen des Alters, in denen Krankheit, Risikofaktoren und normale Alterungsprozesse verschwimmen, beziehungsweise sich gut vermischen lassen. Die Grenzwerte der Definitionen von Bluthochdruck, Hypercholesterinämie oder Diabetes mellitus sind längst soweit abgesenkt worden, dass die überwiegende Mehrzahl der Patienten aufgrund dieser vermeintlichen Krankheiten keinerlei Leiden verspürt. Im Grunde handelt es sich für die meisten nicht um die Behandlung von Krankheiten, sondern um die Beeinflussung von Risikofaktoren bei Gesunden [17]. Das ist bequem, ein einziger Messwert definiert die Krankheit. Auch die Therapie ist einfach: Antihypertensiva, Antidiabetika … und so weiter. Damit beschäftigen wir uns die meiste Zeit, füllen ganze Zeitschriften und Kongresse, schreiben umfangreiche Leitlinien und streiten um Grenzwerte. Was auf der Strecke bleibt, sind die wirklich Kranken, unter ihnen als erstes die mit seltenen Erkrankungen. Für sie bleibt keine Zeit mehr, und ihre Symptome gehen im Rauschen des Alltags verloren [18]. Ein alter Scherz erzählt die Geschichte vom Medizinprofessor, der seine Studierenden fragt: „Was ist das: es flattert über den Bauernhof, legt Eier und bellt?“ Die Studierenden schweigen verwirrt. Endlich traut sich einer und sagt „Ein Huhn!“. „Ja“, sagt der Professor, „ganz einfach, ein Huhn. Warum haben sie dafür so lange gebraucht?“ Der Student: „Sie haben gesagt, dass es bellt. Hühner bellen doch nicht.“ „Ach“, sagt der Professor, „das habe ich nur gesagt, weil es bei Diagnosen meistens so ist“ [19]. Die kleine Geschichte sagt viel über unser diagnostisches Denken. Was nicht ins Bild passt, wird geflissentlich übersehen. Dabei hätte das Bellen des Huhns vielleicht der Schlüssel zur Entdeckung einer seltenen Erkrankung sein können.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

 Autor


Professor Dr. Thomas Kühlein

Universitätsklinikum Erlangen,
Allgemeinmedizinisches Institut,
Krankenhausstr. 12, 91054 Erlangen,
Tel. 09131 85-45760, Fax 09131 85-31141, E-Mail: thomas.kuehlein(at)uk-erlangen.de,
Internet: www.allgemeinmedizin.uk-erlangen.de

 

 

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