Schmerztherapie – highlighted

Schmerztherapie - highlighted

Allein in Deutschland leiden mehrere Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen [1]. Die zugrunde liegenden Schmerzsyndrome sind sehr vielfältig und reichen vom nicht spezifischen Kreuzschmerz über neuropathische Schmerzen und Kopfschmerzen bis hin zum Schmerz als Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Allen chronischen Schmerzen ist dabei gemeinsam, dass sie sich ein Stück weit vom Auslöser abgekoppelt haben und nicht monokausal zu erklären sind. Verschiedene Faktoren tragen zu dem Schmerz(erleben) bei, insbesondere auch psychosoziale Faktoren. Man spricht in diesem Zusammenhang von dem biopsychosozialen Schmerzmodell. Aus dieser Erkenntnis heraus hat sich die interdisziplinäre multimodale Schmerztherapie entwickelt.

Fall 1 – Paradoxer Effekt von Kopfschmerzmitteln

Anamnese

Eine 32-jährige Patientin wird uns von einer niedergelassenen Schmerztherapeutin zur Durchführung einer stationären multimodalen Schmerztherapie bei chronisch progredienten Kopfschmerzen vorgestellt. Nebenbefundlich ist eine rezidivierende depressive Störung bekannt. Die Patientin berichtet, dass sie seit ihrer Jugend an einer Migräne ohne Aura leidet. Diesbezüglich erfolgt seit mehreren Jahren eine regelmäßige Injektionsbehandlung mit Botulinumneurotoxin (BoNT). Seit einer Infektionserkrankung mit Erschöpfungssyndrom vor einem Jahr haben die Migräneattacken an Intensität und Frequenz deutlich zugenommen, außerdem hat sich zusätzlich ein Spannungskopfschmerz entwickelt. Weder die BoNT-Injektionen noch die zunehmende Einnahme von „Kopfschmerzmitteln“ bringen eine Linderung. Im Gegenteil: seit über drei Monaten besteht nun ein Dauerkopfschmerz. Da es im Laufe des vergangenen Jahres zu einer bis dato anhaltenden Arbeitsunfähigkeit gekommen ist, leidet die Patientin unter zunehmenden finanziellen und existenziellen Sorgen. Es besteht eine ausgeprägte psychophysische Erschöpfung mit sozialer Rückzugstendenz.

Stationärer Verlauf

In der Aufnahmeuntersuchung zeigt sich die Patientin schmerz- und erschöpfungsbedingt in einem reduzierten Allgemeinzustand. Klinisch ergeben sich keine fokal-neurologischen Auffälligkeiten. Das letzte ambulante cMRT war unauffällig. Durch unsere Psychologin wird eine gegenwärtig mittelgradige depressive Episode diagnostiziert.

In der Analyse der „Kopfschmerzmittel“ ergibt sich, dass die Patientin zuletzt seit über drei Monaten ein Triptan an > 10 Tagen/Monat, Ibuprofen und Metamizol an > 15 Tagen/Monat sowie Naproxen nahezu täglich einnimmt. Auf Grund der Anamnese, der klinischen Untersuchung sowie der Vorbefunde bestätigen wir einen Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse Headache = MOH) auf dem Boden einer chronischen Migräne.

Im Rahmen einer Teamsitzung unter Beteiligung der verschiedenen Berufsgruppen wird ein individueller, multimodaler Therapieplan erstellt. Er umfasst die regelmäßige Bewegungstherapie, Übungen zur Körperwahrnehmung, Entspannungsverfahren sowie eine engmaschige psychologische Begleitung inklusive Psychoedukation. Von pharmakologischer Seite starten wir nach ausführlicher Aufklärung über das Krankheitsbild mit einer strikten „Kopfschmerzmittelpause“. Zur medikamentösen Migräneprophylaxe erhält die Patientin Amitriptylin.

Am dritten Tag setzt ein schwerer Rebound-Kopfschmerz mit Übelkeit und Erbrechen ein, welcher die einmalige i.v.-Infusionstherapie von Antiemetika, Metamizol und Prednisolon erforderlich macht. Zur weiteren Kupierung des Rebound-Kopfschmerzes erhält die Patientin noch für drei Tage Prednisolon 50 mg p. o. 1-0-0. Ab dem neunten Tag kommt es, zum ersten Mal seit vielen Monaten, zu vier aufeinanderfolgenden kopfschmerzfreien Tagen. Im weiteren stationären Aufenthalt kommt es lediglich kurz vor der Entlassung, getriggert durch extern bedingten Stress und Schlafentzug, zu einer akuten Migräneattacke, welche jedoch mit der einmaligen Gabe von Sumatriptan 100 mg vollständig durchbrochen werden kann. Die Patientin kann nach gut zwei Wochen in deutlich gebessertem Allgemeinzustand und mit entsprechenden Empfehlungen nach Hause entlassen werden.

Diskussion

Der MOH selbst ist eine sekundäre Kopfschmerz-erkrankung, welche sich auf dem Boden einer primären Kopfschmerzerkrankung entwickelt. Die Kriterien sind in Tabelle 1 dargestellt.

Die genaue Pathophysiologie des MOH ist noch nicht verstanden. Da hiervon insbesondere Patienten mit Migräne und Spannungskopfschmerz betroffen sind – und zum Beispiel praktisch nie Patienten mit alleinigem Clusterkopfschmerz – geht man davon aus, dass mögliche pathophysiologische Prozesse mit denen bei einer Migräne oder dem Spannungskopfschmerz in Verbindung stehen. Auch werden mögliche genetische Risikofaktoren diskutiert [3].

Bei Migränepatienten kann bei einem sich entwickelnden MOH zu dem migränetypischen Kopfschmerz ein Kopfschmerz vom Spannungstyp hinzukommen. In Fällen, in denen die bekannte, primäre Kopfschmerzerkrankung an Intensität/Frequenz zunimmt oder ein „anderer“ Kopfschmerz hinzutritt, ist daher eine exakte Medikamentenanamnese wichtig. Selbstverständlich muss in solchen Fällen aber auch an weitere sekundäre Kopfschmerzarten (zum Beispiel Tumor/Entzündung) gedacht und gegebenenfalls zeitnah eine weitere Diagnostik eingeleitet werden.

Die Therapie des MOH umfasst zunächst die intensive Patientenaufklärung über das Krankheitsbild und die Notwendigkeit einer Reduktion der Kopfschmerzmitteleinnahme. Wir empfehlen hierbei die 10-20-Regel, wonach an weniger als zehn Tagen/Monat Akutschmerzmittel und/oder spezifische Migränemittel eingenommen werden sollten; an mindestens 20 Tagen sollte keine Einnahme stattfinden [4]. Soweit noch nicht geschehen, wird ferner eine nichtmedikamentöse und medikamentöse Prophylaxe der primären Kopfschmerzen begonnen. Zu den nicht medikamentösen Maßnahmen, deren Bedeutung nicht genug betont werden kann, gehören zum Beispiel Entspannungsverfahren und die kognitive Verhaltenstherapie inklusive Biofeedback (Abbildung 1). Das Grundprinzip von Biofeedback ist es, Körperfunktionen (Muskelspannung, Blutvolumenpuls [BVP] etc.) zu messen und den Patienten visuell und/oder akustisch „wahrnehmbar“ zu machen, mit dem Ziel, dass die Patienten lernen, die Körperfunktionen bewusst zu steuern [5].



Abbildung 1: BVP-Biofeedback. Insbesondere für Migränepatienten im schmerzfreien Intervall. Sensor über der (hier linken) A. temporalis superficialis. Der BVP ist ein Maß für die Weite des Blutgefäßes, welche den Patienten als roter Ring mit entsprechend unterschiedlichem Durchmesser dargestellt wird.

Die Therapie kann in unkomplizierten Fällen zunächst ambulant oder im Rahmen einer Schmerztagesklinik durchgeführt werden. Bei komplizierten Verläufen, mit zum Beispiel relevanten psychischen Begleiterkrankungen oder dem Übergebrauch von Opioiden, sollte zeitnah an eine stationäre Schmerztherapie gedacht werden.

Im Rahmen der Medikamentenpause kann es zu Entzugssymptomen und einem Rebound-Kopfschmerz kommen. Zu deren Behandlung werden unter anderem Flüssigkeitsersatz, Antiemetika und die zurückhaltende(!) Gabe von Analgetika (zum Beispiel kurzzeitige i.v.-Gabe von Acetylsalicylsäure) empfohlen. Obwohl die wissenschaftliche Evidenz bezüglich der Gabe von Glukokortikoiden eher spärlich ausfällt, hat sich der zeitlich befristete Einsatz klinisch bewährt [6]. Bezüglich Dauer und Dosis gibt es unterschiedliche Empfehlungen. Wir favorisieren entweder die Gabe von Prednisolon 250 mg i.v. als Kurzinfusion und/oder die orale Gabe von
50 mg 1-0-0 über drei bis fünf Tage.

Trotz aller Therapiemaßnahmen ist eine komplette und anhaltende Kopfschmerzfreiheit nicht realistisch, da einzelne Episoden der zugrunde liegenden primären Kopfschmerzerkrankung weiter auftreten können. Wichtig ist daher, die Patienten gut zu informieren und die Erwartungen in realistische Bahnen zu lenken.

Dieser Fall zeigt, welche Auswirkungen eine Schmerzerkrankung auf Psyche und soziales Verhalten haben kann, die wiederum den Schmerz (und den Umgang damit) negativ beeinflussen können. Daher ist die multimodale und interdisziplinäre Therapie essenziell.

Fall 2 - „Nur ein Schlag“ gegen das Sprunggelenk...

Anamnese

Eine 21-jährige Patientin bekommt beim Fußballtraining einen Schlag auf das linke Sprunggelenk. In der Folge entwickelt sich am linken Fuß innerhalb von 14 Tagen eine ausgeprägte Funktionsstörung (unter anderem Dorsalext./ Plantarflex.: 0/20/30°), begleitet von einer progredienten Schmerzsymptomatik. Eine Röntgenuntersuchung bleibt unauffällig und in einem MRT zeigt sich lediglich ein geringes, unspezifisches subkutanes Weichteilödem. Die Patientin wird uns durch den behandelnden Orthopäden kurzfristig vorgestellt.

Stationärer Verlauf

Zur Aufnahme erscheint die Patientin an Unterarmgehstützen im 3-Punkt-Gang; den linken Fuß komplett entlastend. Sie berichtet über „fies-ziehende“ Schmerzen. Die subjektive Schmerzintensität bei Belastung wird auf der Numerischen Rating Skala (NRS; eindimensionale Schmerzskala von 0 [kein Schmerz] bis 10 [stärkster vorstellbarer Schmerz]) mit 7–9/10 angegeben. Das Aufsetzen des linken Fußes ist nur kurz auf dem lateralen Fußrand möglich. Der linke Fuß ist livide verfärbt, mit einem leichten Ödem am Fußrücken sowie auf Sprunggelenksebene und einer diffusen Hyperalgesie. Die Temperaturmessung der Hautoberfläche mittels Infrarotthermometer ergibt links 28,1 °C und rechts 29,8 °C. Klinisch zeigt sich eine deutlich eingeschränkte neuromuskuläre Ansteuerbarkeit des linken Fußes; so besteht zum Beispiel hinsichtlich der Fußhebung und -senkung ein formaler Kraftgrad von 2/5 BMRC (British Medical Research Council). Schweißproduktion oder Behaarungsmuster zeigen keine Seitendifferenz. Die Patientin macht sich große Sorgen hinsichtlich Alltag und Ausbildung, die Stimmung ist niedergedrückt.

Bei fehlendem Hinweis auf eine isolierte Nervenläsion (unter anderem unauffällige somatosensibel evozierte Potenziale) stellen wir die Diagnose eines akuten, primär kalten komplexen regionalen Schmerzsyndroms („complex regional pain syndrome“, CRPS) Typ 1 und beginnen umgehend mit der multimodalen Schmerztherapie.

Pharmakotherapeutisch erfolgt unter PPI-Prophylaxe die orale Prednisolongabe. Zusätzlich erhält die Patientin N-Acetylcystein und Metamizol sowie Clexane zur Thromboseprophylaxe. Von nicht-medikamentöser Seite erfolgen physikalische sowie physio- und ergotherapeutische Maßnahmen. Ein Fokus liegt dabei auf der sogenannten „Graded Motor Imagery“ inklusive Spiegeltherapie (Erklärung siehe Seite 596). Die psychologische Mitbetreuung umfasst unter anderem Entspannungsverfahren und (kognitive) Übungen bezüglich der Bewegungsangst.

Zum Entlasszeitpunkt nach 16 Tagen sind die Schmerzen (NRS 0–1/10) sowie die autonomen und sensiblen Störungen subtotal regredient. Die Beweglichkeit ist deutlich verbessert (unter anderem Dorsalext./Plantarflex.: 15/0/35°), Hilfsmittel zum Gehen werden nicht mehr benötigt. Es bestehen jedoch noch eine leicht verminderte Kraft (KG 4/5 BMRC) und Koordinationsstörungen. Die Patientin setzt die Therapiemaßnahmen im ambulanten Setting intensiv fort.

Diskussion

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom (CRPS) kann sich nach einer Verletzung oder Operation der Extremität sowie einer zentralen oder peripheren Nervenverletzung entwickeln. Charakteristisch findet sich dabei eine Trias aus autonomen, sensorischen und motorischen Störungen sowie Schmerzen, die in Diskrepanz zum auslösenden Ereignis stehen und keinem Innervationsgebiet eines spezifischen Nerven zuzuordnen sind [7, 8].

Pathophysiologisch tragen verschiedene, sich ergänzende Mechanismen zu dem Krankheitsbild bei. Dabei werden als „Hauptmechanismen“

a) (neurogene) Entzündungsvorgänge,

b) maladaptive Veränderungen im ZNS (insbesondere im sensomotorischen Netzwerk) sowie

c) eine sympathische Funktionsstörung

genannt, wobei Punkt c) seit einigen Jahren eher als Folge, denn als Ursache gesehen wird. Möglicherweise spielen auch Autoimmunprozesse eine Rolle [8, 9].

Inwieweit psychosoziale Belastungsfaktoren eine ursächliche Rolle spielen, ist bis dato fraglich. Es gibt jedoch starke Hinweise darauf, dass bei gleichzeitigem Auftreten mit einem CRPS, der Heilungsverlauf negativ beeinflusst wird [10].

Das CRPS wird in einen Typ 1 (ohne) und einen Typ 2 (mit nachweisbarer Nervenläsion) unterteilt. Abhängig von der Hauttemperatur lässt sich ferner ein primär warmes von einem primär kalten CRPS differenzieren. Die Diagnose CRPS wird in erster Linie klinisch gestellt, die sogenannten Budapest-Kriterien sind dabei essenziell (Tabelle 2).


Laborchemische und bildgebende Verfahren dienen eher dem Ausschluss von Differenzialdiagnosen (zum Beispiel venöse/arterielle Durchblutungsstörungen, aktivierte Arthrose) als dem direkten Diagnosebeweis [8, 9]. So sind zum Beispiel das C-reaktive Protein (CRP) und die Blutsenkungsgeschwindigkeit (BSG) bei einem alleinigen CRPS nicht erhöht. Bei unklaren Fällen sollte an eine 3-Phasen-Knochenszintigraphie gedacht werden. Typisch für ein CRPS sind dabei bandenförmige, gelenknahe Anreicherungen in der Spätphase [8]. Die Sensitivität des Verfahrens ist jedoch eingeschränkt und nimmt nach acht bis zwölf Monaten weiter ab [7, 9].

Zur systemischen medikamentösen Therapie werden Glukokortikoide oder Bisphosphonate eingesetzt. Bei frühen entzündlichen Fällen arbeiten wir gerne mit Prednisolon. Diesbezüglich werden in der Literatur verschiedene Schemata vorgeschlagen; wir starten in der Regel mit 100 mg 1 x täglich und schleichen es über 2 bis 2,5 Wochen aus. Die medikamentöse analgetische Versorgung orientiert sich an den Empfehlungen für neuropathische Schmerzen wie zum Beispiel trizyklischer Antidepressiva oder Gabapentinoiden. Bei einem primär kalten CRPS gibt es auch Hinweise, dass die Einnahme von N-Acetylcystein als freiem Radikalfänger mit 3 x 600 mg/Tag die Genesung unterstützen kann. Topisch kann eine 50-prozentige DMSO-Creme (Dimethylsulfoxid) versucht werden [7].

Von nicht-medikamentöser Seite spielen physikalische, physio- und ergotherapeutische Maßnahmen eine entscheidende Rolle. Im Zentrum steht dabei die funktionelle Wiederherstellung. Eine Schmerzzunahme unter der Therapie ist dabei ebenso kontraproduktiv wie die schmerzbedingt weitgehende Schonung der Extremität. Dies zu balancieren stellt in der Praxis oft einen schmalen Grat dar, der nur von erfahrenen Therapeuten und immer zusammen mit dem Patienten begangen werden sollte. Ein aus unserer Sicht wichtiger Punkt ist auch das „Graded Motor Imagery“-Training, welches erstmalig 2004 von G. L. Moseley beschrieben wurde. Dieses mehrwöchige Programm wird in drei Phasen eingeteilt und besteht aus (i) der Links/Rechts-Diskrimination von visuell dargebotenen Extremitäten (Abbildung 2), (ii) konkreten Bewegungsvorstellungen und (iii) der Spiegeltherapie (Abbildung 3 a/b) [8, 11]. Es normalisiert das Zusammenspiel von Sensorik und Motorik auf kortikaler Ebene [7] und kann teilweise auch gut von den Patienten selbstständig durchgeführt werden, zum Beispiel mittels App. Interventionelle Verfahren wie zum Beispiel Sympathikusblockaden oder die Spinal Cord Stimulation bleiben besonderen Fällen und dafür spezialisierten Zentren vorbehalten.



Abbildung 2: Beispiele für sogenannte „Fußfunktionskarten“. Die Karten werden nacheinander von den Patienten aufgedeckt, in Phase 1 mit jeweils (zügiger) „Links-Rechts-Entscheidung“. In Phase 2 sollen sich die Patienten in Gedanken vorstellen, wie sie mit der betroffenen Extremität die abgebildete Position einnehmen.

Insgesamt sollte die Therapie immer multimodal sowie individuell auf den Patienten und den aktuellen Krankheitsstand angepasst sein. Dieser Fall demonstriert sehr anschaulich, dass sich ein CRPS auch nach einem „Bagatelltrauma“ entwickeln kann, zu welch teils gravierenden funktionellen Einschränkungen es führt und wie wichtig eine gute interdisziplinäre Kommunikation mit frühzeitiger Diagnose und adäquatem Therapiebeginn ist. 

Fall 3 – Phantomschmerz nach Oberschenkelamputation

Anamnese

Ein 77-jähriger Patient stellt sich aufgrund eines stark beeinträchtigenden Phantomschmerzes im Bereich des linken Beines vor. Nach einem Verkehrsunfall als Fußgänger im Alter von 41 Jahren, mit Oberschenkelamputation in der Folge, verlief die Heilung und Rehabilitation zunächst unproblematisch. Unangenehme Muskelzuckungen im Bereich des Oberschenkels und im Verlauf zunehmende linksseitige Beinschmerzen traten erstmals ein Jahr nach der Amputation auf. Multiple medikamentöse Behandlungsversuche (unter anderem Amitriptylin, Tilidin, Carbamazepin) blieben jeweils ohne Wirkung. Zusätzliche mehrfache ambulante Physiotherapie sowie zwei interdisziplinäre multimodale Schmerztherapien brachten einen jeweils nur kurzfristigen Benefit. Eine Beschwerdelinderung zeigte sich auf Fentanyl TTS ab einer Dosierung von 75 µg/h (Wechsel alle zwei Tage bei vorzeitigem Wirkungsverlust) in Kombination mit Pregabalin 150 mg/Tag. Der Patient leidet jedoch an Müdigkeit, Übelkeit und Inappetenz und nimmt deswegen Pregabalin nur unregelmäßig ein. Der konsekutive Gewichtsverlust hat eine zweimalige Unterfütterung der Prothese innerhalb des letzten Jahres erfordert.

Stationärer Verlauf

Zur Aufnahme beklagt der Patient fluktuierende stechend-brennende Dauerschmerzen im Bereich des amputierten Beines (p. m. ehemaliges Kniegelenk) mit Schmerzintensitäten zwischen 7–9/10 NRS. Schmerzverstärkend sind Wetterumschwünge, schmerzlindernd moderate Bewegung. Die Alltagsfunktionen sind nur unter Schmerzen selbstständig möglich, die maximale Gehstrecke mit Prothese beträgt ca. einen Kilometer. Zusätzlich bestehen vorwiegend schmerzbedingte Schlafstörungen. Die Schmerzen werden ferner häufig von Gefühlen wie Traurigkeit, Verzweiflung und Hilfslosigkeit mit wiederkehrenden passiven Todeswünschen begleitet. Die Kriterien einer mittelgradigen depressiven Episode sind erfüllt.

Wir sehen einen Patienten in schmerzbedingt reduziertem Allgemeinzustand und leicht untergewichtigem Ernährungszustand. Am Amputationsstumpf zeigt sich eine Atrophie des Muskel- und Fettgewebes mit dadurch gelockertem Prothesensitz, die Haut ist gerötet, aber intakt und es ergeben sich keine Einschränkungen der Ästhesie oder Algesie, keine Paresen.

Aufgrund einer neu entdeckten leichten Anisokorie und der morgendlich betonten Übelkeit erfolgt eine Computertomografie des Schädels ohne Hinweis auf eine Hirndruckerhöhung. Die Übelkeit wird am ehesten als medikamenten-induziert gewertet.

Im Rahmen unseres multimodalen Settings erhält der Patient regelmäßig Physiotherapie zur Haltungs- und Gangschulung sowie muskulären Rekonditionierung. Limitierend wirkt sich hierbei das gesperrte Kniegelenk der Oberschenkelprothese aus. Erneute Versuche der Passformoptimierung durch einen Orthopädietechniker können weder Tragekomfort noch Gangbild verbessern, sodass die Anfertigung einer neuen Beinprothese mit flexiblem Kniegelenk empfohlen wird. Weitere Schwerpunkte der nichtmedikamentösen Behandlung sind die Spiegeltherapie, die Verbesserung der Entspannungsfähigkeit sowie die Vermittlung einer adäquaten Leistungsdosierung im Alltag.

Pharmakotherapeutisch beginnen wir eine Therapie mit medizinischem Cannabis in Form von Dronabinol in öliger Lösung 2,5 Prozent (Tetrahydrocannabinol [THC] 25 mg/ml) zur Reduktion der Schmerzen, Linderung der Übelkeit und Inappetenz, Verminderung des hohen psychomotorischen Anspannungsniveaus und Affektstabilisation. Die Dronabinol-Startdosis liegt bei 5 mg/Tag. Innerhalb des zweiwöchigen Behandlungszeitraums wird das Medikament auf die vorläufige Erhaltungsdosis von 45 mg/Tag (verteilt auf drei Einzeldosen) ohne Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen gesteigert. Die Übelkeit ist bereits wenige Tage nach Therapiebeginn vollständig rückläufig und führt bei gebessertem Appetit zu einer Gewichtszunahme. Fentanyl setzen wir daher unverändert fort. Pregabalin wird nach festem Schema zweimal täglich à 50 mg eingenommen. Zur Entlassung ist die durchschnittliche Schmerzintensität um gute 20 Prozent reduziert, bei nur noch vereinzelten Schmerzspitzen und einzelnen schmerzfreien Intervallen.

Resümierend gibt der Patient eine Steigerung seines Wohlbefindens im Rahmen des multimodalen Therapieansatzes an. Er ist gelassener und in seiner Stimmung ausgeglichener. Der Patient wirkt weniger fokussiert auf seine Defizite, wodurch der gezielte Einsatz von Ablenkungsstrategien und die Konzentration auf Ressourcen im Alltag zunehmend besser möglich sind.

Die Wirkung von Dronabinol bewertet der Patient als nützlich und wünscht dessen Weiterverordnung. Bis zur Bestätigung der Kostenübernahme durch die gesetzliche Krankenkasse muss Dronabinol pausiert werden, weshalb die geplante weitere Pregabalin-Reduktion als Empfehlung an den Hausarzt weitergegeben wird.

Phantomschmerzen

• Auftreten in etwa 60 bis 80 Prozent der Fälle nach Amputation [12].

• Differenzialdiagnostisch sind Stumpfschmerzen abzugrenzen.

• Die zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen des als neuropathischer Schmerz klassifizierten Phantomschmerzes sind nicht vollständig geklärt. Man geht davon aus, dass unter anderem die Reorganisation (sub)kortikaler neuronaler Netzwerke sowie eine Störung der Signalinhibition auf Rückenmarksebene eine wichtige Rolle spielen [12, 13].

• Wie andere chronische Schmerzen ist der Phantomschmerz ein biopsychosoziales Phänomen mit somatischen, psychologischen und sozialen Faktoren, die eine reduzierte Lebensqualität bedingen. Die Behandlung erfordert ein interdisziplinäres multimodales Schmerzmanagement unter Einbezug von ärztlichen Schmerztherapeuten, Ergo-, Physiotherapeuten sowie Psychologen.

• Voraussetzung für den Behandlungserfolg ist die optimale Prothesenversorgung.

• Die medikamentöse Therapie erfolgt gemäß den Empfehlungen der S2k-Leitlinie „Diagnose und nicht interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“. Primärer Einsatz von Antikonvulsiva (vorzugsweise Gabapentin, Pregabalin) und Antidepressiva (insbesondere trizyklische Antidepressiva, selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer). Opioide können unter Beachtung von Nebenwirkungen und ihres Abhängigkeitspotenzials zum Einsatz kommen. Nichtopioidanalgetika sind in aller Regel unwirksam.

• Die Anwendung von medizinischem Cannabis ist bei Versagen anderer Schmerztherapien im Rahmen eines multimodalen Schmerztherapiekonzeptes eine weitere Therapieoption [14].

Einsatz von medizinischem Cannabis in der Schmerztherapie

• In Deutschland sind Nabiximols (Sativex®) für die Zusatzbehandlung einer mittelschweren bis schweren Spastik bei Multipler Sklerose und Nabilon (Canemes®) für die Behandlung von chemotherapiebedingter Emesis und Nausea zugelassen.

• Mit Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften („Cannabisgesetz“) im März 2017 wurden die Möglichkeiten zur Verschreibung von Cannabisarzneimitteln erweitert.

• Unter dem Begriff Cannabisarzneimittel werden derzeit, neben den Fertigarzneimitteln Sativex® und Canemes®, Rezepturen von Dronabinol, Nabilon, Cannabisblüten und weiteren Cannabisextrakten zusammengefasst [15].

• Voraussetzungen für die (Off-Label) Verordnung eines Cannabispräparates zu Lasten der GKV:

• Schwerwiegende Erkrankung: eine Krankheit ist schwerwiegend, wenn sie lebensbedrohlich ist oder aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt [16]. Konkrete Indikationen wurden vom Gesetzgeber nicht festgelegt.

• Eine dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechende Therapieoption steht nicht zur Verfügung oder kann im Einzelfall nicht zur Anwendung kommen (zum Beispiel bei zu erwartender Nebenwirkung).

• Zudem muss eine nicht entfernt liegende Aussicht auf eine positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder schwerwiegende Symptome bestehen [17].

• Bei Verordnung zu Lasten der Krankenkasse ist ein Antrag vorab erforderlich, der von der Krankenkasse nur in begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden darf und einer Fristenregelung unterliegt. Die Entscheidung muss innerhalb von drei bzw. fünf Wochen (bei Einbeziehung des MDK) erfolgen. Im Rahmen der spezialisierten ambulanten palliativmedizinischen Versorgung und bei stationär eingestellter Cannabinoid-Therapie muss die Entscheidung innerhalb von drei Tagen nach Eingang eines Kostenübernahmeantrages vorliegen oder die Verzögerung schriftlich begründet werden. Andernfalls gilt der Antrag als genehmigt.

• Der verordnende Arzt verpflichtet sich zur Teilnahme an einer Begleiterhebung anonymisierter Patientendaten [18].

• Systematische Übersichtsarbeiten der vergangenen Jahre zur Wirksamkeit bei chronischen Schmerzen erbrachten widersprüchliche Ergebnisse [19, 20, 21], wobei Qualität und Vergleichbarkeit Einschränkungen aufwiesen. Nur wenige Studien konnten einen eindeutig positiven Effekt aufzeigen.

• Bei chronischen neuropathischen Schmerzen kann der Einsatz als Drittlinientherapie erwogen werden [22].

• Ferner kann der Einsatz insbesondere als Teil eines individuellen Heilversuchs bei Krebsschmerzen ohne ausreichende Linderung durch Opioide oder andere etablierte Analgetika [24] sowie in Ausnahmefällen und nach sorgfältiger Prüfung bei chronisch nichtneuropathischen und nichttumorbedingten Schmerzen [22] erwogen werden.

• Ein Teil der Patienten mit chronischen Schmerzen profitiert trotz unveränderter oder nur wenig veränderter Schmerzintensität von der Behandlung aufgrund der Verbesserung von Schmerzakzeptanz, Stimmung, Antrieb und Schlafqualität [24].

• Absolute Kontraindikationen für eine Cannabistherapie: Schwangerschaft, Stillzeit und die Gabe bei Kindern und Jugendlichen (< 25 Jahren).

• Relative Kontraindikationen: psychiatrische Erkrankungen (aktuell oder in der Vorgeschichte), Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, epileptische Anfälle und schwere Herzkreislauferkrankungen [22].

• Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

• Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.


Das Wichtigste in Kürze

Durch eine zu häufige Einnahme von Kopfschmerzmitteln kann sich, insbesondere bei Patienten mit einer Migräne und/oder einem Spannungskopfschmerz, zusätzlich ein sogenannter Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch (Medication Overuse Headache = MOH) entwickeln. Eine exakte Erhebung der Medikamenteneinnahme erleichtert die Diagnosestellung. Im Sinne der Prävention, sollten die Patienten durch den behandelnden Arzt frühzeitig über den richtigen Umgang mit Kopfschmerzmitteln und das potenzielle Krankheitsbild des MOH informiert werden.

Das komplexe regionale Schmerzsyndrom („complex regional pain syndrome“, CRPS) ist eine wichtige Differenzialdiagnose bei anhaltenden Schmerzen, autonomen, sensorischen und motorischen Störungen, welche unverhältnismäßig zum „schädigenden“ Ereignis (Verletzung, Operation) stehen.

Bei schwerwiegenden chronischen Schmerzsyndromen, insbesondere mit einer neuropathischen Schmerzkomponente, kann in Fällen, in denen die Standardtherapie nicht ausreichend wirkt oder kontraindiziert ist, an einen individuellen Heilversuch mit Cannabisarzneimitteln gedacht werden.

Alle drei Fälle veranschaulichen die Bedeutung des biopsychosozialen Schmerzmodells.

 

• Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

• Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Autoren


Dr. Felix Dörfler


Dr. Madlen Lahne

Abteilung für Schmerztherapie,
Helios Amper-Klinikum Dachau,
Krankenhausstraße 15, 85221 Dachau

Korrespondenzadresse:
Dr. Felix Dörfler, Abteilung für Schmerztherapie, Helios Amper-Klinikum Dachau,
Krankenhausstraße 15, 85221 Dachau,
Tel. 08131 764030, Fax 08131 764060
E-Mail: felix.doerfler(at)helios-gesundheit.de

 

 

 

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