Regulierter Wissenstransfer in der Medizin

Dr. med. Heidemarie Lux

Der Zeitraum, in dem sich das Wissen der Menschheit verdoppelt, wird immer kürzer. 1950 waren es 50 Jahre, 1980 sieben Jahre, 2010 knapp vier Jahre und Experten schätzen, dass sich das Wissen im Jahr 2020 innerhalb von nur 73 Tagen verdoppeln wird. Gerade in der Medizin war der Wissenszuwachs in den vergangenen Jahrzehnten enorm. Lebenslanges Lernen ist deshalb für Ärztinnen und Ärzte nicht nur eine Phrase, sondern eine Grundvoraussetzung für die Berufsausübung. „Die Wissenschaft von heute ist der Irrtum von morgen“, schrieb der Biologe Jakob Johann Baron von Uexküll. Auf uns Ärztinnen und Ärzte gemünzt könnte das auch heißen: „Die Lehrbuchmeinung von heute ist der Kunstfehler von morgen“. Mit der Informationsflut umzugehen ist eine der großen Herausforderungen im Internetzeitalter. Die Kernfragen lauten: Wie erfolgt der Wissenstransfer in der Medizin? Sind die Informationsquellen unabhängig und verlässlich? Wie viel Regulierung in der Fortbildung ist sinnvoll?

Drei Säulen

In der Medizin stützt sich der Wissenstransfer auf drei Säulen: Die Ausbildung an der Universität, die Weiterbildung zur Fachärztin oder zum Facharzt und die laufende Fortbildung. Flankiert werden diese drei Säulen unter anderem von den Leitlinien und den Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin (EbM). In der Ausbildung ist für die Studenten neben der medizinischen Theorie und Praxis der Wissenstransfer generell ein wichtiges Lernfeld: Wie bleibe ich dauerhaft auf dem aktuellen Wissensstand? In der Weiterbildung werden festgelegte Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten erworben, um nach Abschluss fachärztlich tätig sein zu können. Die Weiterbilder sind dafür verantwortlich, dass der Wissenstransfer auf dem aktuellen Stand erfolgt. Nach der Facharztprüfung liegt der Wissenserwerb im Rahmen der Fortbildung in der Selbstverantwortung der Ärzte. In § 4 der Berufsordnung für die Ärzte Bayerns ist vorgeschrieben, dass der Arzt, der seinen Beruf ausübt, verpflichtet ist, sich in dem Umfang beruflich fortzubilden, wie es zur Erhaltung und Entwicklung der zu seiner Berufsausübung erforderlichen Fachkenntnisse notwendig ist.

Um aus der Masse an Informationen das relevante Wissen herauszufiltern, helfen unter anderem Leitlinien und die Erkenntnisse der EbM. Wichtig ist, dass die Autoren der Leitlinien unabhängig sind und nicht von der Pharmaindustrie beeinflusst werden. Im Zusammenhang mit den Leitlinien möchte ich auf einen Trend aus den USA, die Initiative „Klug entscheiden“ („choosing wisely“) der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), die sich gegen Über- und Unterversorgung wendet, hinweisen. Die Initiative soll dafür sensibilisieren, klug zu entscheiden und nicht alles medizinisch Machbare zu tun, sondern diese Entscheidung patientenindividuell zu treffen.

Regulierte Fortbildung

Als Ärztin sollte ich am besten wissen, wo ich Wissenslücken habe und welche Fortbildungen für mich und meine Arbeit sinnvoll sind. Die Regulierung der Fortbildung nimmt jedoch immer mehr zu. Zum einen ist die Fortbildung durch den Gesetzgeber geregelt. So wird zum Beispiel in § 95d Sozialgesetzbuch V (SGB V) vorgeschrieben, dass Vertragsärzte innerhalb von fünf Jahren 250 Fortbildungspunkte sammeln müssen. Diese Regelung gilt nach § 137 SGB V auch für Fachärzte im Krankenhaus. Die Inhalte kann noch jede bzw. jeder selbst aussuchen, allerdings besteht die Gefahr, dass die Auswahl nicht nach den persönlichen Wissenslücken, sondern nach dem Prinzip „Viele Punkte für möglichst wenig Zeitaufwand“ erfolgt. Ein anderes Regulierungsbeispiel ist das Bayerische Rettungsdienstgesetz. Hier wird im Artikel 44 vorgeschrieben, dass Ärzte im Rettungsdienst regelmäßig an entsprechenden Fortbildungen teilnehmen müssen. Wenigstens wird es der ärztlichen Selbstverwaltung überlassen, die Inhalte festzulegen. Ganz anders verhält es sich bei der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV). Hausärzten, die an der HZV teilnehmen, werden bestimmte Fortbildungsvorgaben gemacht, die zwischen Berufsverband und GKV vereinbart werden. Weitere Vorschriften gibt es darüber hinaus von den Krankenkassen, um bestimmte Leistungen abrechnen zu können.

Fazit

Wer sich der Medizin verschreibt, entscheidet sich damit auch für lebenslanges Lernen. Die rasante Zunahme der verfügbaren Informationen macht es notwendig, zu selektieren und sich vor allem auf verlässliche und unabhängige Quellen zu stützen. Hier muss jeder selbst kritisch reflektieren und die Quellenvalidität prüfen. Es ist für Ärzte auf den ersten Blick kaum zu beurteilen, ob eine angebotene Fortbildung oder neue Leitlinien nicht durch wirtschaftliche Interessen oder durch ökonomische Vorgaben das Verhalten der Ärzte beeinflussen könnten. Ein Mindestmaß an Transparenz ist notwendig, um eine mögliche Einflussnahme Dritter erkennen zu können. Ich halte es darüber hinaus für wichtig, dass wir Ärztinnen und Ärzte selbst entscheiden können, welche Fortbildungen individuell sinnvoll sind. Teilweise dient die so wichtige Fortbildung nicht mehr allein dem Wissenstransfer, sondern wird durch eine zunehmende Regulierungsdichte beeinflusst, sodass nur noch ein eingeschränkter Spielraum für eine freie Entscheidung des Arztes bleibt. Das widerspricht einem selbstverantwortlichen Arztbild.

 

 

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