Neue Grenzen, Perspektivenvielfalt und Vernetzung

Aufmerksam verfolgten die rund 300 geladenen Gäste bei der Auftaktveranstaltung des 74. Bayerischen Ärztetages die Redebeiträge.

Volle Reihen in der Auftaktveranstaltung zum 74. Bayerischen Ärztetag im Kultur- und Kongresszentrum Deggendorf. Mit gewohnt prall gefüllter Agenda, medizin-politischen, medizin-ethischen und medizin-juristischen Themen stimmte der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, Dr. Max Kaplan, die über 300 geladenen Gäste am Freitagabend auf den bevorstehenden Ärztetag ein. In der Gesetzgebung hat sich in dieser Legislaturperiode einiges getan: Kaplan nannte mit den Plänen zur Krankenhausreform, der Sterbebegleitung, dem Anti-Korruptionsgesetz und dem E-Health-Gesetz einige der Gesetzesvorhaben. „Nicht zuletzt beschäftigt uns natürlich die medizinische Versorgung der Flüchtlinge und Asylsuchenden“, sagte der Präsident. Am Nachmittag hatte er eine Erstaufnahmeeinrichtung in Deggendorf besucht, um sich ein Bild vor Ort zu machen.

Ärztemangel und Demografie


Der Oberbürgermeister der Stadt Deggendorf, Dr. Christian Moser, rief zu mehr Vernetzung innerhalb der Gesundheitsregionen auf.

Der Oberbürgermeister der Stadt Deggendorf, Dr. Christian Moser, sprach in seinem Grußwort von einem sich abzeichnenden Ärztemangel im Landkreis. Bei etwa einem Drittel der Praxen ergäben sich in den nächsten Jahren Veränderungen. Einige der niederbayerischen Ärzte hätten ihre Nachfolge familiär geregelt, andere seien noch in der Planung. „Eine Hilfestellung dabei könnte die Vernetzung durch die Gesundheitsregion Bayern-Böhmen sein, die schon heute auf die Versorgung mit Nachwuchskräften im Bereich der Physiotherapie, Pflege und dem Röntgenbereich abzielt.“ Moser wies auch auf den demografischen Wandel hin und die sich daraus ergebenden Veränderungen im Altersaufbau. Er forderte, die Gesundheitsversorgung und Pflege noch weiter auszubauen.


Dr. Heidemarie Lux und Dr. Wolfgang Rechl im Gespräch mit Dr. Christian Moser (v. li.).

Bezahlbare Versorgung, gerechte Verteilung

Melanie Huml, Bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege, warf die Frage in den Raum, wie sich die gesundheitliche Versorgung der Gesellschaft der Zukunft gestalten lasse. Sie lobte die Ärzteschaft und ihre Impulse. Ziel der Bayerischen Staatsregierung sei es, eine flächendeckende und hochwertige, aber zugleich bezahlbare Versorgung zu sichern und auszubauen. Ein wichtiger Schritt für die vertragsärztliche Versorgung sei das Versorgungsstärkungsgesetz gewesen. Mit dem Gesetz sollen unter anderem mehr Facharztweiterbildungen in der Allgemeinmedizin gefördert werden. „Gerade für ein Flächenland wie Bayern brauchen wir ausreichend ärztliche Generalisten“, betonte Huml. Bezüglich der Terminservicestellen machte Huml klar, dass es noch Verbesserungsbedarf gebe. Immerhin sei es Bayern gelungen, dass die jetzige Konvergenzregelung weit hinter dem zurückbleibt, was andere Länder gefordert haben. Huml mahnte auch zu einer nachhaltigen GKV-Finanzierung. „Für eine Reform des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs gibt es noch Einiges zu tun.“ Durch das derzeitige Zuweisungssystem flössen zu viele Beitragsgelder aus Bayern ab. „Um unsere hochwertige medizinische Versorgung in Bayern refinanzieren zu können, brauchen wir eine gerechte Mittelzuweisung“, verdeutlichte Huml und forderte hier mehr Transparenz und Verteilungsgerechtigkeit. Die Ministerin lobte auch die Krankenhausversorgung: „Ich bin stolz auf unser flächendeckendes und leistungsfähiges Netz an modernen Krankenhäusern und auf die großartige Arbeit, die Sie und Ihre Kollegen in den Kliniken leisten“. Gleichzeitig sei es jedoch erforderlich, die Strukturen immer wieder anzupassen, wozu das Krankenhausstrukturgesetz, das sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren befindet, einen wichtigen Beitrag leisten soll. Hier habe man sich von bayerischer Seite aus stark gemacht. Huml nahm auch Stellung zur Diskussion über die Beihilfe zur Selbsttötung und machte ihre Haltung klar: „Ich will, dass die aktive Sterbehilfe verboten bleibt und die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung verboten wird. Für mich gehört es zu einer humanen Gesellschaft, schwerstkranken und sterbenden Menschen durch eine ganzheitliche Begleitung ein Leben in Würde bis zuletzt zu ermöglichen – ohne Angst und Schmerzen.“ So sei es aus ihrer Sicht mit der ärztlichen Ethik kaum vereinbar, Medizinern die Beihilfe zur Selbsttötung bei schwerstkranken Menschen zu ermöglichen. Huml betonte, wie wichtig ein weiterer Ausbau der Palliativ- und Hospizversorgung sei. Dort ginge es darum, Menschen beim Sterben zu begleiten und ihre Schmerzen zu behandeln. Jedoch sollte deren Leben nicht um jeden Preis verlängert werden. Huml begrüßte den Gesetzentwurf von Bundesgesundheitsminister Gröhe zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung. Was die Finanzierung stationärer Hospize oder die Verbesserung der Sterbe-begleitung in stationären Pflegeeinrichtungen anbelangt, gebe es noch Verbesserungsbedarf.

Huml sprach auch den „immensen Flüchtlingszustrom“, den unsere gesamte Gesellschaft bewältigen müsse, an. Hier stünden wir vor der „größten Herausforderung seit der deutschen Wiedervereinigung“. Die Staatsregierung habei ein mehrjähriges Sonderprogramm zur Bewältigung der Flüchtlingskrise beschlossen. Konkret ginge es bei dem mit „Zusammenhalt fördern, Integration stärken“ betitelten Programm um eine Sicherstellung der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern sowie darum, den Öffentlichen Gesundheitsdienst bei den Gesundheitsuntersuchungen zu unterstützen. Auch solle die sprachliche Kommunikation zwischen den Ärzten und Asylbewerbern als Patienten verbessert werden. Asylbewerber mit hoher Bleibeperspektive sollten möglichst schnell beruflich integriert werden.

Das bestehende Projekt „Mit Migranten für Migranten“ (MiMi) für anerkannte Flüchtlinge solle ausgebaut werden. Huml sprach sich dafür aus, im Rahmen telemedizinischer Projekte die Untersuchungs- und Behandlungsmöglichkeiten von Asylbewerbern verbessern zu müssen. Das Kabinett habe Mitte Oktober die Finanzierung eines Gutachtens zur Abschätzung des zusätzlichen medizinischen Versorgungsbedarfs beschlossen. Bereits jetzt unterstützten bayernweit viele Kolleginnen und Kollegen den Öffentlichen Gesundheitsdienst bei den Gesundheitsuntersuchungen. „Sie leisten dabei Herausragendes und gehen oft weit über ihre Belastungsgrenzen hinaus“.

Perspektivenvielfalt in der Moderne

Die klassischen Professionen, den Arzt, den Juristen und den Geistlichen, unterzog Professor Dr. Armin Nassehi vom Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, einer soziologischen Betrachtung, arbeitete Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus. So unterscheide man die klassischen Professionen von den heutigen. Die klassischen Professionen verbinde, dass sie an den Grundkonflikten menschlicher Existenz orientiert seien. Der Priester sei an der Frage personaler Identität interessiert, der Jurist an den innerweltlichen Konflikten, die die innerweltliche Existenz der Person ausmachten und dem Arzt ginge es um die physische und psychische Integrität der Person.


Professor Dr. Armin Nassehi sprach über die Perspektivenvielfalt in der Moderne.

Nassehi sprach im Weiteren über die Bedeutung der Professionen und über ihre Perspektivenvielfalt in der heutigen, modernen Welt. So seien diejenigen, die eine klassische Profession ausüben, gewohnt, das den Beruf Kennzeichnende wie selbstverständlich zu tun. Grund dafür sei die Verinnerlichung der jeweiligen Tätigkeiten in den eigenen Habitus. Um das Funktionieren einer Gesellschaft verstehen zu können, sei es zentral, zu erkennen, was geschehen muss, damit Professionen in dieser Form ausgeübt werden können. Nassehi spricht hier von einer Perspektivenvielfalt in der Gesellschaft. Konstellationen funktionierten weil es Regeln gebe. „Man braucht nur deshalb Organisationen, weil die Dinge nicht von vorne herein zusammenpassen, das heißt, es muss Disparates gleichzeitig organisiert werden, und es kommt dort immer zu Friktionen“, erläuterte Nassehi. In einer Organisation wie einem Krankenhaus seien multiprofessionale Teams mit unterschiedlichen Tätigkeiten dafür beispielhaft. So sei es schwer, diese unterschiedlichen Tätigkeiten so aufeinander zu beziehen, dass das, was am Ende dabei herauskommt, so aussieht, als sei es aus einem Guss. So sei es kein Fehler, sondern vielmehr liege darin die Potenz westlicher moderner Gesellschaften, das „Disparate miteinander zu vermengen“, so Nassehi. Dies bedürfe aber der Kommunikation.

„Was macht den Mediziner zum Arzt?“, richtete sich Nassehi fragend an das Publikum. So sei der Mediziner erst dann Arzt, wenn er in der Lage sei, Informationen für diejenigen zu übersetzen, die sie benötigten, also für die Patienten. Der Arzt habe dabei einen exklusiven Patientenkontakt, was kennzeichnend für die klassischen Professionen sei. Charakteristisch sei zudem, dass die klassischen Professionen eine Gemeinwohlorientierung innehaben.

Heute funktioniere unsere Gesellschaft jedoch meist so, dass alles, was wir tun, uns selbst nützen müsse, hinter allem liege also ein utilitaristisches Motiv. Vorsicht sei geboten, dass sich nicht allein alles an ökonomischen Maßstäben messe, wie es bei Kaufleuten der Fall sei. Weiter wies er darauf hin, dass die Verhältnisse der Angehörigen der klassischen Professionen zu ihren Klienten asymmetrisch sind. „Diese Asymmetrie erträgt unsere Gesellschaft aber nicht“, so Nassehi. Darum müsse man eine Augenhöhe erzeugen, ein Vertrauensverhältnis entwickeln. „Dazu brauchen wir vertrauensvolle Kommunikation“, schließt Nassehi und führt aus: „Wir brauchen Kommunikationsformen, in denen man Disparates zusammenbringt.“ Nassehi erwähnt hier die Diskussion über den ärztlich begleiteten Suizid, die disparate Sichtweisen (juristisch, medizinisch, ethisch) mit sich bringe und aus unterschiedlichen Perspektiven heraus gelöst werden müsse. Diese Kommunikationsformen verlange die heutige Generation.

Die Rede Nassehis ist unter http://bit.ly/1MikFUG abrufbar.


Schlussrede Dr. Max Kaplan

Kaplan fasste seine Botschaften in seinem Schlusswort zusammen: So müsse sich die Ärzteschaft intensiv damit befassen, was den Arzt zum Mediziner mache. Die Ausrichtung dabei solle sich an dem Gemeinwohl orientieren. Die in der Gesellschaft und von Nassehi angesprochene Asymmetrie müsse mehr in den Blick genommen werden. Aufmerksam verfolgen sollte die Ärzteschaft auch die Modernisierung, die heute und wie von Professor Nassehi ausgeführt, im Sinne eines Denkens von Kaufleuten stattfinde. „Dies sehen wir als Gefahr“, so Kaplan und zeigte sich dankbar für die Denkanstöße des Soziologieprofessors.

Kaplan fuhr fort mit Demografie und Digitalisierung als die großen Zukunftsthemen. Das Altern und Schrumpfen der deutschen Gesellschaft sei zum allgegenwärtigen Thema geworden, auch im Gesundheitswesen. Damit einher gehe der Ärztemangel und ein Fachkräftemangel in allen Gesundheitsberufen. Der steigende Versorgungsbedarf in einer Gesellschaft des langen Lebens bei gleichzeitiger Zunahme der chronischen Erkrankungen und der Multi-morbidität sei ebenfalls eine Herausforderung. Kaplan nannte die Digitalisierung einen „zweiten gewaltigen Transformator der Gegenwart“, die auch die Ärztinnen und Ärzte tangiere.

Alles überstrahlt werde von dem „eigentlichen Grundkonflikt der Moderne zwischen ökonomischer Dynamik und politischer Regulierung“, so der Präsident. Dieses Problem der gesellschaftlichen Komplexität stelle die Ärzte vor besondere Herausforderungen.

Kaplan machte auch auf die Bedeutung des Arztberufs als freien Beruf aufmerksam. „Wir Ärzte sollten, im Sinne Professor Nassehis, als Übersetzer in unserer Gesellschaft fungieren und Disparates zusammenbringen. „Damit wir diese Übersetzer-Funktion auch einnehmen können, benötigen wir ein gewisses Maß an Freiheit und Unabhängigkeit. Dafür benötigen wir den Arztberuf als freien Beruf“, machte Kaplan deutlich, was das Publikum mit Applaus bekundete.

Am Schluss nahm der Präsident Bezug auf das traditionelle Arztsein, welches unter anderem durch eine gewisse Autorität, hohe subjektive Selbstwirksamkeit verbunden mit medizinischer Kompetenz geprägt sei und führte aus, was das zukünftige Arztbild charakterisiere: „Gestiegene Komplexität und geteilte Verantwortung, neue Lebensformen der Ärzte und der Patienten, arbeitsteilige Versorgung und kooperative Tätigkeit, evidenzbasierte Konzepte bis hin zur Normung kennzeichnen das moderne Berufsbild.“ Es gelte, bereits heute an den „Stellschrauben der modernen Medizin“ zu drehen, das heißt an den Versorgungsformen und dem Einsatz der Ressource Arzt, verbunden mit einem aktualisierten Arztbild. „Dazu gehört auch, Ärzte von nicht originären Aufgaben zu befreien, Stichwort Bürokratie und Dokumentation.“ Zudem seien Delegation und Arbeitsteilung angesagt. Gerade in einer „neuen Welt der Digitalisierung“ erhält das ärztliche Ethos, die ärztliche Haltung sowie Philanthropie, Empathie, Altruismus und Vertrauen einen noch höheren Stellenwert, endete Kaplan.

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