Neu in der Sexualmedizin

Neu in der Sexualmedizin

Neu in der Sexualmedizin ist die Anerkennung der Zusatz-Weiterbildung Sexualmedizin durch die Bayerische Landesärztekammer (Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns vom 16. Oktober 2021, die am 1. August 2022 in Kraft getreten ist). Die Zusatz-Weiterbildung Sexualmedizin umfasst die Erkennung, Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Störungen oder Erkrankungen, welche die sexuellen Funktionen, das sexuelle und/oder partnerschaftliche Erleben und Verhalten sowie die geschlechtliche Identität betreffen, auch wenn diese infolge anderer Krankheiten und/oder deren Behandlung auftreten und/oder mit sexuellen Traumatisierungen verbunden sind (siehe Kasten 1).

Die Zusatz-Weiterbildung richtet sich an alle Ärztinnen und Ärzte mit Patientenkontakt.Vor allem Hausärzte, Frauenärzte und Urologen, aber auch Kinder- und Jugendmediziner und Dermatologen sollen sich angesprochen fühlen, weil sie oft die ersten Ansprechpartner für sexuelle Probleme ihrer Patienten sind. Auch in Bayern gibt es inzwischen Weiterbildungscurricula in Sexualmedizin (siehe Kasten 2). Die themenzentrierte Selbst­erfahrung dient der inneren Hygiene als Sexualmediziner (weitere Information siehe unter www.blaek.de/weiterbildung).


Anhand von drei Fallvignetten sollen häufige Problemstellungen dargestellt werden.

Fall 1: Unterbauchschmerzen (larvierte/indirekte Sexualstörung)

Die 30-jährige Patientin kommt wegen länger andauernder Unterbauchschmerzen in die Sprechstunde (siehe Kasten 3). Sie habe Kinderwunsch, seit dem Absetzen der „Pille“ habe sie zunehmend Beschwerden, sodass sie nicht mehr mit ihrem Mann Geschlechtsverkehr haben könne, Versuche wurden immer wieder abgebrochen. Die Schmerzen seien mal stärker, mal weniger, aber besonders stark, wenn sie zu Bett ginge und sie habe deswegen auch Einschlafstörungen. Die allgemeinärztliche Untersuchung habe keinen auffälligen Befund ergeben, ebenso die gynäkologische Abklärung (Untersuchung und sonografisch o.p.B.). Die Frauenärztin ­versuchte sie zu beruhigen: Es könne sich um einen Mittelschmerz bei Ovulation oder eine Dysmenorrhoe nach Absetzen der Ovulationshemmer handeln. Sollte keine Besserung eintreten, wäre eine Bauchspiegelung zu erwägen, um eine Endometriose auszuschließen. Die Pelviskopie wurde durchgeführt, außer kleinen Endometrioseherden, die per Laser koaguliert wurden, ergaben sich keine Auffälligkeiten. Die Durchgängigkeit der Tuben, die bei dieser Gelegenheit mit überprüft wurde, war einwandfrei, ebenso die weitere ­Inspektion (Appendix reizlos usw.). Leider stellten sich die Unterbauchschmerzen nach kurzer Zeit wieder ein. Schließlich wurde die Patientin in eine hierfür spezialisierte Praxis überwiesen, um psychosomatische Zusammenhänge „auszuschließen“. Nachdem ich der Patientin deutlich gemacht habe, dass dies unmöglich sei, weil ­jede Erkrankung, zumindest jede chronische, eine psychosomatische Komponente habe, kamen wir überein, gemeinsam nach anderen Ursachen in ihrem Leben zu suchen, die die Beschwerden mit auslösen könnten.

Das wichtigste Instrument in der Sexualmedizin ist die Anamnese (siehe Kasten 4). Die Patientin schildert ein behütetes Elternhaus, Schule und Studium (Ernährungswissenschaften) liefen nach Plan. Der erste Geschlechtsverkehr fand mit 18 Jahren statt, daran hat sie keine schlechte Erinnerung (Urlaubsflirt). Sie hatte dann mehrere kurze Beziehungen, bis sie mit 24 Jahren ihren jetzigen Ehemann kennengelernt hat. Er war damals ein Arbeitskollege und die beiden verstanden sich auf Anhieb. Auch heute noch hätten sie sich „total“ lieb, aber die sexuelle Problematik belaste ihre Beziehung. Ebenso ergaben andere Aspekte der Anamnese keine Hinweise auf eine Verbindung zu den Unterbauchschmerzen. Den zweiten Termin eröffnete die Patientin mit den Worten: Ich habe beim letzten Mal etwas nicht erwähnt. Dann begann sie unter Tränen zu erzählen, dass sie damals mit 18 aus der kurzen Affäre schwanger geworden war und völlig entsetzt gewesen sei, sie hätten doch ein Kondom benutzt. Von dem Sexualpartner kannte sie nur den Vornamen. Sie war auf sich allein gestellt, hatte gerade Abitur gemacht und sich entschlossen, die Schwangerschaft abzubrechen. Das sei auch problemlos durchgeführt worden, aber sie habe sich danach furchtbar elend gefühlt. Sie habe all das völlig vergessen, auch ihr Mann wüsste nichts davon. Jetzt sei alles wieder hochgekommen, sie sei voller Schuldgefühle. Auf meine Entgegnung, sie habe damals keinen anderen Weg gewusst und sich so entschieden, wie sie es für richtig gehalten hatte, entgegnete sie, sie glaube kein Recht zu haben, jetzt wieder schwanger zu werden. In wenigen Gesprächen gelang es, sie zu entschulden, und die Trauer zu bearbeiten. Zuerst glaubte sie, wegen der Abtreibung kein Recht auf Trauer zu haben. Erst in den Gesprächen konnte sie annehmen, dass ein Verlust immer betrauert werden darf, gleich ob es sich um einen Schwangerschaftsabbruch, eine Fehlgeburt oder gar eine Eileiterschwangerschaft handele, immer habe man etwas verloren. Jetzt gelte es nach vorne zu sehen, sie habe das richtige Alter und den richtigen Partner für eine Familiengründung. Schon während der Gespräche wurden die Unterbauchschmerzen deutlich weniger und die Patientin konnte wieder mit ihrem Mann Geschlechtsverkehr haben und genießen. Ich habe die Patientin danach noch einmal gesehen, als sie in die Praxis kam, um mir ihr kleines Neugeborenes zu zeigen.

Diskussion

Patientinnen kommen nicht selten wegen funktioneller Probleme in der Sexualität in die Praxis (siehe Kasten 5) [2]. Oft kommen Patientinnen aber mit anderen Symptomen, hinter denen sich sexuelle oder partnerschaftliche Probleme verstecken. Wir sprechen von larvierten oder indirekten Sexualstörungen. Bei rezidivierenden Unterbauchschmerzen sind es oft die Hausärzte oder die Frauenärztinnen/-ärzte, die sich mit der Diagnose beschäftigen müssen. Entscheidend ist also, ob wir in unserer Anamnese nach der Sexualität fragen. Dies fällt besonders leicht, wenn diese Frage in den Erstkontakt eingebaut wird: „Gibt es sonst etwas, was Sie zur Zeit belastet? Wie ist es zuhause in der Familie, in der Partnerschaft, gibt es Probleme mit Nähe und Sexualität?“ Alle Hausärzte und Frauenärzte ­haben in ihrer Weiterbildung die Psychosomatische Grundversorgung als Baustein, diese Kompetenz gilt es zu nutzen (zu chronischem Unterbauchschmerz siehe auch die dazugehörige Leitlinie [Siedentopf et al.]).

Fall 2: Vaginistische Patientinm und Dyspareunie beim Mann

Auch in dem zweiten Fall kommt ein Paar mit der Frage zum Kinderwunsch in die Praxis, aber hier haben wir es mit ganz anderen Zusammenhängen zu tun. Der 38-jährige Mann und die 35-jährige Frau sind seit vielen Jahren verheiratet und haben noch nie penetrativen Sex gehabt. Sie ­haben sich lieb, schmusen gerne und befriedigen sich manuell. Auf genaueres Nachfragen zeigt sich, dass er sich lieber selber befriedige, weil es manchmal weh tun würde, wenn sie sein Glied berühre. Sie sagt, sie habe noch nie Geschlechtsverkehr haben wollen, die Vorstellung des Eindringens sei ihr unheimlich, bei den wenigen Versuchen „habe sich unten alles verkrampft“. Sie sei deswegen froh, einen so verständnisvollen Mann gefunden zu haben, der nicht auf ­Geschlechtsverkehr bestehen würde. Jetzt wollen sie vielleicht doch noch ein Kind und dazu wäre ja notwendig, dass es zum Geschlechtsverkehr kommen könne. Gynäkologisch sei bei ihr alles in Ordnung, ihr Mann sei noch nie beim Urologen gewesen. Mein Vorschlag, wir könnten ja sexualtherapeutisch vorgehen, vielleicht würde sich etwas ändern, wurde gerne angenommen. Das übliche Vorgehen bei Vaginismus wurde ­erklärt (Inspektion mit dem Spiegel, Berühren und Kennenlernen der eigenen äußeren Sexualorgane, den Partner miteinbeziehen und schrittweise schmerzfreies Einführen kleiner Stäbchen oder Finger, zuerst selber, dann mit dem Partner bis zum Versuch, das Glied einzuführen am besten in einer ihr angenehmen Stellung).

Es fiel auf, dass der Mann seinen von mir angeratenen urologischen Termin immer wieder hinausschob. Sie machte schnell Fortschritte, aber als sie einen Versuch machen wollte, sein Glied einzuführen, brach er den Versuch ab, weil er dabei Schmerzen empfand. Daraufhin bestand ich auf eine urologische Untersuchung vor Weiterführung der Therapie. Ein paar Tage später rief mich der Urologe einigermaßen erstaunt an. Der Patient habe eine ausgeprägte Phimose mit mehreren bis zu pflaumenkerngroßen Smegmasteinchen (Präputialsteine). Es wurde eine Circumcision mit Entfernung der Konkremente durchgeführt. Nach der Operation drehte sich der Leidensdruck um. Während die Frau deutlich schmerzfreier war, fiel der Mann in eine Depression. Er könne sein Glied nicht mehr anfassen oder ansehen, es sei wie rohes Fleisch. Erst einige Therapiestunden später konnte auch der Mann zu seinem Körper Vertrauen finden, sich anfassen und mit seiner Frau körperlich kommunizieren (schrittweise gegenseitig berühren von extragenital bis genital). In der Ergänzung der Anamnese war bei ihm ein Missbrauch mit analer Penetration als Junge in der Schule erinnerlich – immer sei Sexualität mit Schuld und Scham verbunden. Bei der Patientin lag kein sexueller Missbrauch vor, aber sie wurde sehr restriktiv erzogen. Sexualität galt als etwas Sündiges und Schlechtes.

Im weiteren Verlauf hatte das Paar nur selten penetrativen Geschlechtsverkehr, weil sie ihn nicht wirklich genießen könnten. Sie würden sich aber trotzdem liebhaben. Der Kinderwunsch sei auch nicht so groß, aber sie wären doch froh gewesen, in die Praxis gekommen zu sein, sie fühlten sich freier, entlasteter und zufrieden in ihrer Körperlichkeit.

Diskussion

Vielleicht hätte sich mancher mehr gewünscht als Kuscheln ohne penetrativen Sex. Aber nicht wir sind die Auftraggeber, sondern die Patienten. Ziel ist also immer die Zufriedenheit des Paares, dabei dürfen wir weder unsere oder allgemeine Normen in den Vordergrund stellen, sondern nur das, was das Paar sich im Konsens wünscht und richtig findet. Das gilt für Präferenzen, Praktiken und sexuelles Verhalten, soweit nicht andere geschädigt werden. Was wir bei unserem Patientenpaar vorfinden, nennen wir eine Kollusion (Zusammenspiel): hier typisch die Verbindung Penetrationsstörung und eine Dyspareunie beim Mann. Zudem haben wir es mit einem, wie Schmidt und Arentiewicz [3] es nennen, Arrangement zu tun. Der Mann versteckt seine Problematik (Dyspareunie) hinter der Problematik der Frau (Penetrationsschmerz, Vaginismus). Das Problem zeigt sich darin, dass die Symptomatik der Frau im Vordergrund steht, der Mann in der Anamnese nur andeutungs­weise auf seine Problematik hinweist, und so diese einige Zeit verborgen bleibt. Erst die urologische Abklärung bringt Klarheit in den Fall. Das zeigt, wie wichtig die Untersuchung und somatische Diagnostik auch in der Sexualmedizin ist. Aber auch, wenn wir am Anfang nicht alles erfassen, bleibt doch die Anamnese das wichtigste diagnostische Instrument für das weitere Vorgehen (Beratung, Einbeziehen der Partnerin/des Partners, medikamentöse Hilfen, Sexualtherapie usw.). Die Sexualanamnese zeichnet sich durch eine extreme Genauigkeit und detailliertes Nachfragen aus (Was genau tut weh und wo?). Um alle zentralen Komponenten der Sexualität im Auge zu behalten, bietet sich die strukturierte Sexualanamnese nach Ahlers und Beier [4] an:

Sie unterscheidet:

•    Grundlagen (bio-psycho-sozial),
•    Dimensionen (Lust – Fortpflanzung - Beziehung)
•    Ebenen (Fantasie, Verhalten, Selbst­konzept) der Sexualität
•    Achsen der sexuellen Präferenz (nach Geschlecht, Körperschema und Praktiken), sowie
•    Formen des sexuellen Verhaltens (Selbstbefriedigung – extragenitale Interaktionen – Genitale Interaktion)

Fall 3: Genderdysphorie

Die dritte Falldarstellung bezieht sich auf ein in den letzten Jahren in den westlichen Ländern deutlich häufiger gewordenes Phänomen: das der Genderinkongruenz bzw. Genderdysphorie. In Schweden stieg die Diagnosehäufigkeit von Geschlechtsdysphorie (GD) in der Gruppe der 13- bis 17-jährigen Mädchen zwischen 2008 und 2018 um 1.500 Prozent (Socialstyrelsen, 2020). In Großbritannien nahm die Zahl dieser hilfesuchenden Betroffenen weiblichen Geschlechts zwischen 2009 und 2016 um mehr als das 70-Fache zu, mit einer weiteren Verdoppelung von 2020 bis 2022 [5].

Dabei waren zwei Aspekte besonders auffällig: Zum einen ist es die Geschlechterverteilung, zum anderen das Alter des Beginns der trans­sexuellen Wünsche. Zum ersten Punkt stellen wir im europäischen Raum ein deutliches Ansteigen von Transmännern – also jungen Frauen (biologisches Geschlecht), die sich als Männer fühlen (gefühltes Geschlecht). Während noch vor 2010 die Häufigkeit von Transfrauen die der Transmänner überwog, hat sich diese umgedreht. Der Anstieg wird im Wesentlichen durch Mädchen in der Altersgruppe zwischen 12 und 16 Jahren erklärt (Rapid-onset gender dysphoria – siehe Abbildung 1). In diesem Zusammenhang kam es zu heftigen Diskussionen um die Gabe von sogenannten Pubertätsblockern, also die Gabe von Gonadotropin-Releasing-Hormon-Analoga (GnRH-a), um das Eintreten der Menstruation und die weitere Geschlechtsentwicklung (vorallem Brustentwicklung) zu verhindern, ­bevor dann Testosterongaben und später operative Maßnahmen folgen können. Während die Gabe von Pubertätsblockern anfangs in vielen westlichen Ländern begrüßt wurde, gibt es inzwischen zunehmend kritische Stimmen, die vor einem so frühzeitigen Eingriff mit potenten Medikamenten warnen [6]. Inzwischen rücken die meisten Länder wieder von ihrer Zustimmung ab (Holland, Skandinavien, Großbritainnien, in USA staatenabhängig). Der Hauptgrund für die Zurückhaltung in der Verordnung von Pubertätsblockern sind noch völlig unklare Langzeitfolgen und ­Nebenwirkungen. Außerdem ist die Frage nach der Lebensqualität nicht beantwortet. Weiter wird an Erklärungsmodellen geforscht [7].

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: In meine Praxis kommt ein 16-jähriger Junge in Begleitung eines etwa gleichaltrigen Mädchens. Im Sprechzimmer stellte sich heraus, dass beides Mädchen waren und ein Paar, aber Andrea sich als Mann fühlte und Andy genannt werden wollte und er das weitere Vorgehen mit mir besprechen wollte. Bezüglich der damals geltenden Bestimmungen habe ich Andy an eine von mir geschätzte Kinder- und Jugendpsychiaterin verwiesen. Weitere Fragen nach Befindlichkeit, Motivation, Entwicklung des Transwunsches wurden barsch abgeschmettert, das sei kein Thema, sie sei ein Junge, ich würde ja auch meine Patientinnen nicht fragen, warum sie gerne ein Mädchen seien. Der einzige Leidensdruck, den sie hätte, sei der, dass alles viel zu lange dauern würde und sie habe „keinen Bock auf Periode und die doofen Brüste“.

Nach einigen Jahren kam der Patient noch einmal in meine Praxis, inzwischen waren Personenstandsänderung und Hormongabe, sowie operative Geschlechtsangleichung (Kasten 6) durchgeführt worden, aber er war nicht glücklich. Kaum war er 18 Jahre, hat er sich in Marokko operieren lassen, vor allem über das mangelhafte Penoid war er entsetzt. Seine frühere Beziehung bestand nicht mehr, er war einsam und depressiv. Wir hatten einige stützende Gespräche, aber letztendlich blieb er ein unglücklicher, mit seinem Leben hadernder Mensch. Seinen Entschluss zur Geschlechtsumwandlung hat er trotzdem nicht bereut. Das wäre für ihn zu viel gewesen, sein Lebensunglück konnte er an dem Operations­ergebnis festmachen.

Diskussion

Wir müssen uns in dieser speziellen Diskussion über folgende Punkte klar werden: Jeder Mensch hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt (Grundgesetz Artikel 2). Kann sich dieses Recht auch auf die Geschlechts­zugehörigkeit beziehen oder ist diese Schicksal? Schicksalsunabhängig ist die Genderinkongruenz, also ein Gefühl, nicht in dem Geschlecht zu sein, dass man sich wünscht. Wenn mit diesem Gefühl der Wunsch nach körperlichen Veränderungen verbunden ist, stellt sich die Frage nach der Kostenerstattung. Diese ist entsprechend den Vorgaben unseres Sozialgesetzbuches nur dann gewährleistet, wenn es sich um eine zu therapierende Krankheit handelt. Dafür ist der Diagnose­begriff Genderdysphorie eingeführt worden. Wie bei jeder medizinischen Maßnahme sind auch für die im Rahmen einer Transition notwendigen medizinischen Schritte (GnRH-Analoga oder Hormongaben, geschlechtsangleichende Operation, lebenslange medikamentöse Versorgung) eine Diagnose und Indikation zu stellen, danach Aufklärung über Art und Nebenwirkungen mit den Patienten zu erörtern, die Einwilligung einzuholen und entsprechend lege artis zu behandeln. Jede Abweichung von diesem Vorgehen erfüllt den Strafbestand einer Körperverletzung (siehe auch BGB § 666). Verständlicherweise ist das Vorgehen bei Kindern und Jugendlichen besonders gründlich abzuwägen und therapeutische Maßnahmen kritisch zu hinterfragen. Ohne genauere jugendpsychologische Abklärung, ­ohne differenzialdiagnostische Erwägungen (zum Beispiel sexuelle Reifungskrise, Ich-dystone ­abgewehrte sexuelle Orientierung, fetischistischer Transvestitismus, Essstörung usw.), und ohne eingehende Nutzen-Risiko-Abwägung bewegen sich die behandelnden Ärzte auf rechtlich sehr dünnem Eis.

Oft wird hier der römische Arzt Scribonius Largus (1. Jhdrt. n. Chr.) zitiert: Primum non nocere. Dort heißt es nicht nur „erstens (zu allererst) nicht schaden“ sondern auch, „zweitens vorsichtig sein, drittens heilen“. Diese Vorsicht ist besonders bei Kindern und Jugendlichen geboten. Zumal die frühzeitige Gabe von GnRH-Analoga den Weg zurück zum Geburtsgeschlecht meist verbaut [8]. Aus allem, was wir derzeit an Daten haben, sollte eine Pubertätsblockade und frühe hormonelle Gabe bei Jugendlichen besonders bei Rapid-Onset Gender Dysphoria, in aller Regel nicht erfolgen (Korte et al.) [9].

Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autoren:

Dr. Gerhard Haselbacher
Facharzt für Frauenheilkunde und Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Sexualmedizin, Albrecht-Dürer-Str. 14, 82152 Krailling

Co-Autor:
Dr. Alexander Korte, Leitender Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des LMU Klinikums München, Nußbaumstr. 5a, 80336 München

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