Neu in der Psychosomatischen Medizin

Neu in der Psychosomatischen Medizin

Relevante Störungsbilder im Kontext einer integrierenden Grundhaltung in der Medizin


Die Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie sind in der ambulanten wie stationären Versorgungslandschaft mittlerweile gut etabliert und die psychosomatische Grundversorgung ein fester Bestandteil der allgemeinmedizinischen und auch anderer fachärztlicher Versorgung.

Case Report 1: „Funktionelle Körperbeschwerden“

Eine 45-jährige Patientin stellt sich mit seit gut zwei Jahren bestehenden Ganzkörperschmerzen drückenden Charakters, im Durchschnitt bei 6-7/10 (Numerische Rating-Skala – NRS), vor. Intermittierend gäbe es Schmerzspitzen von 10/10 NRS. Sie könne keine modulierenden Faktoren benennen. Zudem leide sie unter frontalen, teilweise nach okzipital ausstrahlenden Kopfschmerzen, pulsierend, „wummernd“. Manchmal würde ein Kälteschauer von hinten über den Kopf laufen und sich im Brustbeinbereich „sammeln“. Mehrere neurologische Untersuchungen, inklusive cMRT und Liquorpunktion, seien jeweils ohne richtungsweisenden Befund gewesen.

Zusätzlich beschreibt sie eine dauerhafte Übelkeit mit Brechreiz und Gewichtsverlust aktuell von 7 kg. Eine Gastro- und Koloskopie sowie ­eine ausführliche internistische Abklärung hätten kein organisches Korrelat gesichert. Insgesamt mache sie sich viele Gedanken über die Körperbeschwerden und habe Ängste bezogen auf ihre Gesundheit. Die hier geschilderte Symptomatik beschreibt eine Somatisierungsstörung nach ICD-10 bzw. somatische Belastungsstörung nach ICD-11. Die Patientin wurde vollstationär akutpsychosomatisch behandelt. Die Therapie war eine integrative multimodale Psychotherapie, das heißt Psychotherapie mit verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Anteilen ergänzt durch körpertherapeutische Elemente wie zum Beispiel Feldenkrais oder Qigong sowie Kunsttherapie. Neben der Psychotherapie wurde eine medikamentöse Therapie mit einem schmerzmodulierenden Antidepressivum (Duloxetin) begonnen.

Bis zu 95 Prozent der Menschen der Allgemeinbevölkerung in Industrieländern geben an, pro Woche unter mindestens einer milden, meist kurzdauernden Körperbeschwerde zu leiden [1]. Der deutsche Bundesgesundheitssurvey (1998/99) zeigte eine 12-Monats-Prävalenz von 11,0 Prozent für irgendein funktionelles Syndrom [2]. In der allgemeinmedizinischen Praxis machen funktio­nelle, medizinisch unerklärte Symptome ca. zwei Drittel aller berichteten Beschwerden aus. Die 12-Monats-Prävalenz für somatoforme Störungen liegt in dieser Gruppe bei 23 Prozent [3].

In der aktuell noch geltenden 10. Auflage der Internationalen Krankheitsklassifikation der WHO (ICD-10) sind funktionelle Körperbeschwerden, die sich unter der Überschrift somatoforme Störungen finden, definiert als anhaltende, wiederkehrende und subjektiv beeinträchtigende Körperbeschwerden, die nicht durch ein organisches Korrelat erklärbar sind [4].

In der ICD-11 (in Kraft getreten am 1. Januar 2022) ist die Klassifikation verändert, die beklagten Körperbeschwerden können dann auch ein organisches Korrelat haben. Zwingend notwendig ist, dass daneben ebenfalls mindestens eine von drei psychischen Auffälligkeiten vorhanden sein muss. Diese sind „unangemessene und andauernde Gedanken bezüglich der Ernsthaftigkeit der Symptome und/oder anhaltende stark ausgeprägte Ängste in Bezug auf die Gesundheit oder die Symptome und/oder ein exzessiver Aufwand an Zeit und Energie, die für die Symptome oder die Gesundheitssorgen aufgebracht werden“. Mit diesem neuen Klassifikationssystem wird sich auch der Name zu „bodily distress disorder“ bzw. „somatische Belastungsstörung“ ändern.

Eindrücklich im Kontakt mit Patientinnen/Patienten mit funktionellen Körperbeschwerden ist die oft starre organische Ursachenüberzeugung, die zu häufigen Arztbesuchen und frustranen Therapieversuchen führt. Die wiederholt erlebte Enttäuschung darüber und die Beschwerde­persistenz belasten die Beziehung zur Behandlerin/zum Behandler, was nicht selten zu wiederholten Arztwechseln führt. Eine dysfunktionale, hochfrequente und vor allem kostenintensive Inanspruchnahme des Gesundheitssystems ist die Folge [5].

Obwohl die Patienten in ihrer Alltagsfunktion und Lebensqualität deutlich eingeschränkt sind, suchen trotzdem nur ca. 40 Prozent psychotherapeutische Unterstützung [6].


Empfehlungen zur Diagnostik bei funktionellen Körperbeschwerden (adaptiert nach S3-Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden).

Prädiktoren der Inanspruchnahme von Psychotherapie sind eine hohe Symptomschwere sowie das regelmäßige Ansprechen psychosozialer Belastungen durch das behandelnde ärztliche Personal. Wird hier eine Psychotherapie nur beiläufig empfohlen, so hat dies keinen Einfluss auf die Inanspruchnahme [7].

10 bis 30 Prozent der Patienten mit somatoformen Störungen zeigen in Verlaufsstudien eine Verschlechterung der Symptomatik, wofür ein Vorhandensein vieler Beschwerden prognostisch ungünstig ist [8], ebenso eine späte Diagnosestellung, die in einem allgemeinmedizinischen Kollektiv mit 23,1 Jahren (Median) von Symptombeginn bis zur korrekten Diagnosestellung ermittelt wurde [9]. Mit einer parallelen somatischen und psychosozialen Befunderhebung kann einer verspäteten Diagnosestellung entgegengewirkt werden. In der Anamnese sind das Inanspruchnahmeverhalten, der generelle Umgang mit Beschwerden sowie das subjektive Störungsmodell wichtige Hinweise auf die Diagnose.
 
Angstsymptome, depressive Beschwerden sowie traumatische Erfahrungen müssen dezidiert erfragt werden, da diese selten spontan berichtet werden, insbesondere traumatische Erfahrungen sind bei funktionellen Körperbeschwerden häufig [10, 11] und benötigen in der Therapie eine entsprechende Berücksichtigung. Die traumatischen Erfahrungen können hierbei sowohl subjektiv traumatisierende Erfahrungen als auch objektiv traumatische Erlebnisse sein.

Ebenso aktiv müssen suizidale Gedanken eruiert werden, da vor allem bei schweren funktionellen Körperbeschwerden ein erhöhtes Suizidrisiko besteht [12]. Für die Diagnostik können die Empfehlungen der Tabelle hilfreich sein.


Abbildung 1: Integratives ätiologisches Modell somatoformer Störungen (Roenneberg C et al., Dtsch Arztebl Int. 2019; 116:553-560 [14]).

Die Ätiologie funktioneller Körperbeschwerden leitet sich je nach therapeutischer Schule bzw. therapeutischem Verständnis (kognitiv-­behaviorales Modell oder psychodynamisch-interpersonelles Modell) unterschiedlich ab.

Abbildung 1 versucht die verschiedenen Hypothesen miteinander integriert darzustellen [13].

Wie bei allen psychosomatischen Krankheitsbildern stellt die enge Zusammenarbeit der Allgemein- und Fachärzte mit den niedergelassenen Fachärzten für Psychosomatische Medizin, den ambulanten Psychotherapeuten sowie den stationärpsychosomatischen Einrichtungen im Sinne einer interdisziplinären, sektorenübergreifenden Versorgung den Goldstandard der Behandlung dar. Eine Orientierung zur Diagnostik und Therapieempfehlungen findet man auch in der S3-Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden [14].

Abbildung 2 zeigt eine zusammenfassende Darstellung der basalen sowie erweiterten Grundversorgung.

Abbildung 2: Initiale und erweiterte psychosomatische Grundversorgung (Roenneberg C et al., Dtsch Arztebl Int. 2019; 116:553-560 [14]).

Immer wieder wird versucht, funktionelle Störungen einzig medikamentös zu behandeln [15]. Eine generelle Wirksamkeit für eine psychopharmakologische Therapie bei somatoformen Störungen ist nicht belegt [16]. Die oftmals vorhandene Erwartung an eine kausale Behandlung der Symptomatik über einen medikamentösen Ansatz sollte aktiv und frühzeitig relativiert werden. Handelt es sich allerdings um eine kurzzeitige und symptomorientierte Anwendung, zum Beispiel bei ­einem Schmerzsyndrom, gibt es wissenschaftliche Evidenz für eine Wirksamkeit [13].

Case Report 2: „Psychokardiologie“

Ein 55-jähriger, in Schichtarbeit tätiger, geschiedener Familienvater von drei Kindern erlebt über Monate Angina-pectoris-Beschwerden, eine entsprechende Abklärung lässt er aus Angst und Vermeidungsverhalten nicht durchführen. Er wird in der Arbeit bewusstlos und vom gerufenen Notarzt reanimiert. In der Klinik erhält er bei ausgeprägter Zweigefäßerkrankung mehrere Stents und wird mit entsprechender Medikation in die Reha-Behandlung verlegt. Dort kommt es mehrmalig zu einem thorakalen Druckgefühl und „Herzrhythmusstörungen“, beides bleibt in der Abklärung ohne pathologisches Korrelat. Nach der Entlassung besteht hinsichtlich der aktuellen Belastbarkeit sowie bezüglich potenzieller Nebenwirkungen der verschriebenen Medikamente Unsicherheit.

Obwohl er als arbeitsfähig entlassen wird, lässt er sich von seinem Hausarzt krankschreiben. Erst beim Wunsch nach einer weiteren Krankschreibung spricht der Patient offen über seine Schlafstörungen. Außerdem berichtet er eine depressive Stimmungslage, ausgeprägte Energielosigkeit sowie eine negative Zukunftsperspektive. Zusätzlich habe er Angst, sich aus der Wohnung zu bewegen, aus Sorge, einen erneuten Herzinfarkt zu erleiden und dann ohne Hilfe zu sein. Der berichtete Fall stellt eine typische psychokardiologische Gesamtkonstellation dar. Bei einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsakzentuierung werden aufkommende Symptome zunächst verdrängt. Nach erfolgter Behandlung der koronaren Herzerkrankung besteht eine Verunsicherung bezüglich der Belastbarkeit des eigenen Körpers und es bilden sich eine depressive Stimmung sowie agoraphobe Ängste, also Ängste, eine sichere Umgebung, in der Hilfe nah ist, zu verlassen, aus.

Die Behandlung besteht neben einer Psychotherapie (verhaltenstherapeutisch oder psychodynamisch) auch in einer medikamentösen Therapie der depressiven Symptome. Ideal kommen als Mittel der ersten Wahl Serotoninwiederaufnahmehemmer zum Einsatz.

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind nach wie vor die häufigste Todesursache in Deutschland [17], und die zunehmende Evidenz für die Bedeutung auch psychosozialer Faktoren in diesem Kontext gewinnt erfreulicherweise zunehmend Aufmerksamkeit [18].

Die simultane Betrachtung und Therapie sowohl der kardiovaskulären Erkrankung als auch verschiedener psychosozialer Faktoren hat sich in einer Vielzahl an Studien als bedeutsam erwiesen [18].

Eine depressive Störung bei vorliegender Koronarer Herzkrankheit (KHK) stellt einen Risikofaktor für einen ungünstigen Verlauf dar, da Patienten im Rahmen einer Depression ein ungünstiges Gesundheitsverhalten an den Tag legen, zusätzlich beeinflusst eine Depression das Fortschreiten einer vorbestehenden Arteriosklerose. Ist im Rahmen einer KHK bereits ein Myokardinfarkt aufgetreten, zählt die Depression ebenso wie das akute Koronarsyndrom als Risikofaktor für weitere Ereignisse [19].

Auch als ungünstig gelten ein niedriger sozioökonomischer Status, chronisches Stresserleben und Mangel an sozialer Unterstützung [18]. Belastende oder traumatische Kindheitserfahrungen sind ebenfalls mit einem erhöhten Risiko kardiovaskulärer Ereignisse korreliert und zwar über ein dysfunktionales Gesundheitsverhalten wie zum Beispiel Rauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Mit der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung steigt das Risiko, eine KHK zu entwickeln, um 61 Prozent [20, 21].

Psychokardiologische Patienten leiden auch häufig unter Angstsymptomen, bei denen zwischen Realängsten und den sogenannten pathologischen Ängsten zu unterscheiden ist. Durch beide ist die Lebensqualität stark beeinflusst und führt zu Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten. Entwickelt sich aus den Angstsymptomen eine klinisch manifeste Angststörung, kann dies mit einer erhöhten Inzidenz von Koronarspasmen einhergehen [22].

Da sich sowohl die Realängste als auch die pathologischen Ängste durch primär körperliche Beschwerden äußern, wenden sich Betroffene zunächst meist an Haus- und Fachärzte, nicht selten auch an Notaufnahmen. Das Angsterleben wird als sekundäre Reaktion auf die körperlichen Symptome erlebt. Mit diesem Wissen ist zu verstehen, dass psychokardiologische Beschwerden sowohl von den Betroffenen als auch von den Behandlern nicht oder zumindest anfänglich nicht als solche erkannt und fehlinterpretiert werden.

Angsterkrankungen sind durch eine psychosomatische Behandlung gut therapierbar, in einer Kombination mit einer Psychopharmakotherapie werden mittlere bis hohe Effektstärken erreicht, 45 bis 65 Prozent der Patienten zeigen bereits nach dem ersten Therapieversuch einen messbaren Effekt [23]. Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) unter strenger Kontrolle der QTc-Zeit sind Mittel der ersten Wahl. Bei Patienten mit der gleichzeitigen Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern oder Antikoagulanzien ist auf ein erhöhtes gastrointestinales Blutungsrisiko zu achten.

Bei allen Angststörungen hat die kognitive Verhaltenstherapie die höchste Evidenz. Psychodynamische Verfahren sollten nur bei persönlicher Präferenz der Patienten oder ausbleibender Wirkung angeboten werden [23].

Die laufende Psychotherapie sollte bei allen Formen von Angststörungen um regelmäßige körperliche Aktivität ergänzt werden, dies erzielt einen zusätzlichen positiven Effekt sowie eine messbare Reduktion der Angstsymptomatik [24]. Die genauen Wirkmechanismen sowie die Moderatoren der Effekte sind Gegenstand aktueller Forschung. Mögliche Hypothesen bezüglich der Wirkung sind zum Beispiel eine Reduktion der Muskelanspannung, eine Aufmerksamkeitsumlenkung auf einen anderen kognitiven Fokus oder auch die Freisetzung bestimmter Neurotransmitter.

Bezogen auf eine interdisziplinäre und interprofessionelle Versorgung von Herzpatienten, die im Sinne einer wirklich „ganzheitlichen“ Behandlung anzustreben ist, differenziert sich das Konzept einer gestuften teambasierten Behandlung („Blended Collaborative Care“) heraus. Hierbei arbeiten speziell geschulte Pflegekräfte mit Kardiologen, Psychosomatikern und Psychologen zusammen. Das Ziel ist eine Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren sowie eine Besserung der Funktionsfähigkeit und damit der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, was bereits in mehreren Studien gezeigt werden konnte [19].

Case Report 3: „Traumafolgestörungen“

Eine 32-jährige, ledige und kinderlose, Unternehmensberaterin stellt sich mit zunehmenden Schlafstörungen, ausgeprägten Rückenschmerzen und rezidivierenden Zuckungen der rechten Körperseite vor. Die Körperbeschwerden habe sie bereits vor der Vorstellung in der allgemein­medizinischen Praxis orthopädisch sowie neurologisch, inklusive Bildgebung, abklären lassen. Es habe keinen richtungsweisenden Befund gegeben. Die Symptomatik habe ohne einen für sie erkennbaren Auslöser nach einer Geschäftsreise vor ca. sechs Monaten plötzlich begonnen. Neben den Körperbeschwerden berichtet sie neuerdings Erinnerungslücken zu haben, es fehlen im Tagesrückblick teilweise mehrere Stunden. Sie sehe an ihren Unterlagen, dass sie in der Zeit offensichtlich gearbeitet habe, könne sich aber nicht daran erinnern. Die beschriebenen Erinnerungslücken sind im Sinne von dissoziativen Episoden eines der charakteristischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, die in diesem Fall vorliegt. Körperbeschwerden bis hin zu auch schweren neurologischen Symptomen (zum Beispiel dissoziativer Krampfanfall) können in diesem Kontext ebenfalls auftreten. Die hier berichteten Zuckungen sind als dissoziative Bewegungsstörung einzuordnen. Die Patientin erhielt eine an den individuellen Bedarf angepasste ressourcenorientierte und ressourcenaktivierende Traumatherapie. In dieser konnte erarbeitet werden, dass die Geschäftsreise an einen Ort der Kindheit Erinnerungen getriggert hatte, die zunächst nicht direkt erinnerbar waren, sich jedoch über die Körperbeschwerden indirekt äußerten. Die zunehmend zum Vorschein kommenden traumatischen Erlebnisse konnten in der Therapie unter anderem mittels EMDR-Techniken (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) bearbeitet und integriert werden. Die Patientin lernte auf die dissoziativen Episoden aktiv Einfluss zu nehmen, sodass diese nicht mehr auftraten. Zusätzlich konnte eine deutliche Reduktion der Körperbeschwerden erreicht werden.

Traumafolgestörungen, zu denen die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) sowie auch die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (kPTBS) zählen, haben in der medizinischen ­Versorgung zweifach Relevanz. Sie erfordern im Falle von akuten Krisen eine unmittelbare Versorgung, zudem stellen sich Betroffene oftmals mit körperlichen Symptomen vor, deren Verbindung zu den oft vor Jahren stattgehabten traumatischen Erfahrungen nicht offensichtlich ist.

Ein ätiopathogenetisch relevanter und allen Traumafolgestörungen gemeinsamer Nenner ist die Diskrepanz zwischen Bedrohungserleben und unzureichenden Bewältigungsmöglichkeiten, woraus ein Gefühl von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe resultiert. Es handelt sich um Situationen außergewöhnlicher Bedrohung bzw. katastrophenartigen Ausmaßes, die bei fast jedem Menschen eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden [4]. Als Situationen können auch bedrohliche somatische Erkrankung und/oder deren Behandlung gelten. Nach einem Myokardinfarkt ist nicht nur das Risiko für eine PTBS erhöht, die die Lebensqualität erheblich einschränkt, sondern es steigt auch das Risiko weiterer kardiovaskulärer Ereignisse sowie die Mortalität [25].

Mit einer Ein-Monats-Prävalenz von 1,5 Prozent [26] nach den ICD-11 Kriterien ist die posttraumatische Belastungsstörung eine versorgungsmedizinisch relevante Erkrankung.

Dementsprechend sollte die Diagnostik die traumatischen Ereignisse selbst sowie ihre Folgen auf symptomatischer und funktionaler Ebene erfassen. Hierzu können ergänzend auch kurze Fragebogeninstrumente wie die Impact of Event Scale IES-R [27] eingesetzt werden.

Neben der PTBS wird in der ICD-11 erstmals auch die kPTBS aufgeführt. Diese unterscheidet sich von der PTBS durch eine, zusätzlich zu den Symptomen einer PTBS vorhandene, schwere Störung der Affektregulation. Zudem besteht ein negatives Selbstbild bzw. Selbstkonzept sowie eine ausgeprägte Beziehungsstörung. Zugrunde­liegend ist eine über lange Zeit (zum Beispiel gesamte Kindheit, aber auch Geiselhaft) und wiederholt erfolgte, schwere Traumatisierung in einer ausweglosen Situation. Es gibt gewisse Überschneidungen mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere der Borderline-Persönlichkeitsstörung, wobei zu betonen ist, dass es sich selbstverständlich um unterschiedliche Konstrukte handelt und beide Diagnosen auch gleichzeitig vorhanden sein können [28].

Basales Element der psychosomatischen Grundversorgung ist die Vermittlung eines Erklärungsmodells für die Symptome und die Benennung der Störung als PTBS oder kPTBS. Es sollten kompensatorische Strategien erfasst und – solange sie nicht klar selbst- oder fremdschädigend sind – als erstmal „normale“ Reaktion bekräftigt werden. Hierzu können zum Beispiel sozialer Rückzug, Vermeidungsverhalten, Reizbarkeit oder Schlafstörungen gezählt werden.

Die Behandlung der ersten Wahl ist eine ressourcenorientierte, traumafokussierte Psychotherapie, bei der der Schwerpunkt auf der Verarbeitung der Erinnerung an das traumatische Ereignis und/oder seiner Bedeutung liegt [29]. Eine Psychopharmakotherapie soll weder als alleinige noch als primäre Therapie der PTBS eingesetzt werden; auf den Einsatz von Benzodiazepinen sollte gänzlich verzichtet werden.

Der Off-Label-Einsatz von Quetiapin zeigt in Studien eine Reduktion intrusiver, also sich aufdrängender, nicht steuerbarer negativer Erinnerungen und Gedanken sowie der Schlafstörungen [30].

Die hier behandelten psychosomatischen Krankheitsbilder, die beispielhafte Vertreter der Gesamtheit psychosomatischer Erkrankungen sind, sollen verdeutlichen, wie sehr Psyche und Körper miteinander verbunden sind und wie sich psychosomatische Erkrankungen oft primär ­somatisch manifestieren. Hier gilt es auch außerhalb der psychosomatischen Medizin einen offenen Blick für diese Phänomene zu entwickeln und im Sinne einer „Sowohl-als-auch“-Perspektive die Diagnostik von Beginn an simultan zu gestalten. Wenn diese somatisch-psychosoziale Betrachtungsweise gelingt und Erkrankungen auch als Erkrankungen des verkörperten Selbst verstanden werden, bedeutet dies für die Patienten eine im wahrsten Sinne des Wortes psychosomatische Behandlung.

Neben dieser ganzheitlichen Perspektive in Bezug auf Krankheit und krank sein, will der Artikel auch die Wichtigkeit einer engen interdisziplinären wie auch interprofessionellen Zusammenarbeit hervorheben. Diese ist idealerweise über die Sektorengrenzen hinweg sichergestellt, sodass Patienten in einen Behandlungskreislauf eingebunden werden, der eine optimale Diagnostik und Therapie ermöglicht.



Neues aus der psychosomatischen Versorgung

Lange Wartezeiten auf ambulante Psychotherapieplätze sind auch in Ballungsgebieten ein bekanntes Problem, das bisher nicht zufriedenstellend gelöst wurde. Die seit 2021 eingeführten Veränderungen in Bezug auf ambulante Gruppentherapie bieten vielleicht die Chance etwas am Ist-Zustand zu verbessern.

So gibt es als Neuerung eine gruppenpsychotherapeutische Grundversorgung als erste und schnelle Hilfemöglichkeit, die bis zur Aufnahme einer regulären Gruppentherapie nach den Psychotherapierichtlinien genutzt werden kann. Hierbei können die Patienten prüfen, ­inwieweit eine Gruppentherapie für sie in Frage kommt und beim Arbeiten an einer ersten Symptom­linderung auch mögliche Hemmschwellen abbauen. Des Weiteren können die einer jeden Psychotherapie vorgeschalteten probatorischen Sitzungen im Gruppensetting erfolgen, diese können nun auch in den Räumen eines Krankenhauses stattfinden und so eine optimale Vernetzung zwischen dem stationären Bereich der psychosomatischen Komplexbehandlung und den niedergelassenen, ambulant arbeitenden Fachärztinnen/Fachärzten für Psychosomatische Medizin und den Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten schaffen.

Da, wie weiter oben beschrieben, psychosomatische Störungen auch als Beziehungsstörungen aufgefasst werden können, also als Störung der Beziehung zu anderen, oder auch als Störung der Beziehung zum Selbst und zum eigenen Körper ist die Gruppentherapie ein ideales Medium diese pathologischen Beziehungsmuster sichtbar und so der Therapie zugänglich zu machen.

Das Wichtigste in Kürze

» Funktionelle Körperbeschwerden haben mit ca. 23 Prozent in der allgemeinmedizinischen ­Praxis eine hohe Prävalenz.

» In der ICD-11 wird sich der Diagnosename Somatisierungsstörung ändern in Somatische Belastungsstörung.

» Bei der Somatischen Belastungsstörung kann, anders als noch in der ICD-10, ein organisches Korrelat der Beschwerden vorliegen, gleichzeitig muss mindestens eine von drei definierten psychologischen Auffälligkeiten vorhanden sein.

» Psychosoziale Faktoren spielen im Kontext von kardiovaskulären Erkrankungen eine Rolle und haben einen beachtlichen Einfluss auf Prognose und Mortalität.

» Im Zusammenhang mit psychokardiologischen Erkrankungen kommen sowohl Realängste als auch pathologische Ängste vor, die beide die gesundheitsbezogene Lebensqualität deutlich beeinträchtigen können.

» Selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer sind in der Therapie psychokardiologischer Beschwerden Mittel der ersten Wahl im Falle einer psychopharmakologischen Mitbehandlung.

» Symptome einer Traumafolgestörung äußern sich oftmals primär körperlich, die Verbindung der Beschwerden zu den, nicht selten lange zurückliegenden, traumatischen Erfahrungen ist nicht direkt erkennbar. Deswegen ist eine ausführliche Anamnese mit biografischen Eckpunkten auch in der Somatik nicht zu unterschätzen.

» Auslösesituationen für die Entstehung einer posttraumatischen Belastungsstörung können auch bedrohliche somatische Erkrankungen und/oder deren Behandlung sein.

» Die Voraussetzungen der Gruppenpsychotherapie haben sich geändert und bieten neue Möglichkeiten das Angebot und die Abrechenbarkeit betreffend.

 

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Bezüglich der genauen Bedingungen und den Vergütungsmöglichkeiten der ambulanten Gruppentherapie verweisen wir auf den EBM, Kapitel 35

Die Autorinnen erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Autorinnen


Dr. Christine Allwang 1


Dr. Irmgard Pfaffinger 2

1
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar, TU München

2
Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, niedergelassen in München

Korresponzadresse:
Dr. Christine Allwang, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinikum rechts der Isar, TU München, Langerstr. 3, 81675 München,
E-Mail: christine.allwang(at)mri.tum.de

Dr. Irmgard Pfaffinger, Praxis für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – Psychoanalyse, Knöbelstr. 36, 80538 München, E-Mail: irmgard.pfaffinger(at)t-online.de

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