Neu in der Arbeitsmedizin

Neu in der Arbeitsmedizin

Wie in allen Bereichen der Medizin gibt es auch in der Arbeitsmedizin ständig neue Entwicklungen und Erkenntnisse. Diese tragen dazu bei, die Gesundheit der ­Beschäftigten am Arbeitsplatz zu erhalten oder im Falle einer Gesundheitsschädigung durch die Arbeit, diesen Schaden zu erkennen, rechtzeitig zu behandeln und adäquat zu entschädigen. Der Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz ist die prioritäre Aufgabe der Arbeitsmedizin, die Diagnose einer ­Berufskrankheit und die Einleitung von Maßnahmen, die zur Entschädigung führen können, hingegen liegt oftmals in erster Linie in den Händen der Kolleginnen und Kollegen der klinischen Medizin, da sich Patientinnen und Patienten mit ­Erkrankungen in der Regel nicht primär bei einer Fachärztin/einem Facharzt für Arbeitsmedizin vorstellen.

Arbeitsmedizin ist Individualmedizin und ein Fach der unmittelbaren Patientenversorgung. Kernbereich der Arbeitsmedizin ist die Prävention. Dazu gehören zwar auch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen, aber das Aufgabengebiet der Arbeitsmedizin ist viel breiter und muss neben der individuellen Beratung der Beschäftigten auch die Verhältnisprävention, das heißt die Erfassung der Gefährdungen am Arbeitsplatz, berücksichtigen. Ziel der Verhältnisprävention ist idealerweise die Beseitigung oder wenigstens die Reduzierung der einwirkenden Schadfaktoren (physikalische, chemische, biologische und auch psychische).

Ein derzeit viel diskutierter Teilaspekt ist die psychische Gesundheit der Beschäftigten. Im Jahr 2008 wurde die Verordnung zur Arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV), die einen Teil der arbeitsmedizinischen Aufgaben regelt, erlassen. Danach dient die arbeitsmedizinische Vorsorge der Beurteilung der individuellen Wechselwirkungen von Arbeit und physischer und psychischer Gesundheit. Mit der Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes im Jahr 2013 wurde als sechster Punkt die Erfassung der psychischen Belastungen bei der Arbeit in die Gefährdungsanalyse aufgenommen. Dies hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass eine Vielzahl von Anbietern damit wirbt, „bei der Durchführung einer gesetzes­konformen Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nach § 5 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) zu helfen, um die Gesundheit der Beschäftigten besser zu schützen und Fehlzeiten zu reduzieren“. Nicht selten bleibt dabei völlig außer Acht, dass in jedem Betrieb, unter anderem auch in jeder Arztpraxis, eine vollständige Gefährdungsbeurteilung nach dem ArbSchG durchzuführen ist und auch die Vorgaben des Arbeitssicherheitsgesetzes (wie die Bestellung von Betriebsärztinnen/Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit) erfüllt sein müssen.

In Deutschland sind derzeit über 10.000 Ärztinnen und Ärzte mit der Gebietsbezeichnung „Arbeitsmedizin“ oder der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ tätig. Hinzu kommen die Weiterbildungsassistentinnen und -assistenten, ­sodass schätzungsweise an die 20.000 Kolleginnen und Kollegen arbeitsmedizinisch engagiert sind [1]. Trotz dieser großen Zahl an arbeitsmedizinisch Tätigen und den vielfältigen Berührungspunkten mit der klinischen Medizin, ist das Wissen um die arbeitsmedizinischen Aufgaben, Tätigkeitsschwerpunkte und Kompetenzen in der Ärzteschaft oftmals lückenhaft, was auch daran liegen dürfte, dass die Arbeitsmedizin außerhalb des Honorierungssystems der deutschen Medizin liegt und nicht im Bundesgesundheitsministerium, sondern im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) rechtlich verankert ist.

Eine weitere Besonderheit der Arbeitsmedizin ist es, dass es neben dem Facharzt für Arbeitsmedizin auch die Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ gibt (Tabelle 1a und 1b). Nach der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer aus dem Jahr 2018 soll es wieder möglich sein, die Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ ­berufsbegleitend zu erwerben. Anders als bis in die 2000er-Jahre hinein erfordert der Erwerb der Zusatzbezeichnung aber jetzt 1.200 Stunden betriebsärztliche Tätigkeit unter Befugnis (berufsbegleitend) oder neun Monate Weiterbildung unter Befugnis an Weiterbildungsstätten und setzt weiter die Facharztanerkennung in einem Gebiet der unmittelbaren Patientenversorgung voraus. Mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ können alle Aufgaben nach der ArbMedVV erfüllt werden. Für den Facharzt müssen weitere Kompetenzen (zum Beispiel Begutachtung, Umweltmedizin) erworben werden.



Jede ärztliche Tätigkeit wird stets im Kontext von Gesetzen und Verordnungen ausgeführt. Dies trifft insbesondere für die Arbeitsmedizin zu, wo auch die Beurteilung medizinischer Sachverhalte betroffen sein kann. Dabei können gleiche medizinische Sachverhalte durch neue Gesetze und Verordnungen zu neuen Beurteilungen führen. Das Wissen um derartige gesetzliche Vorgaben ist nicht nur für die Nachvollziehbarkeit arbeits­medizinischer Entscheidungen im Praxis­alltag, wenn ein Beschäftigter in der ärztlichen Sprechstunde davon berichtet, sondern auch für die ärztliche Tätigkeit in vielen Gebieten bedeutsam, wie anhand dreier Kasuistiken exemplarisch dargestellt werden soll.

Fallkonstellation 1

Ein 27 Jahre alter, angestellter Bäckergeselle kommt zur arbeitsmedizinischen Pflichtvorsorge (Anlass: Tätigkeiten mit Exposition gegenüber Mehlstaub bei der Überschreitung einer Mehlstaubkonzentration von 4 Milligramm/m³).

Anamnese: Rhinitis am Arbeitsplatz seit ca. acht Jahren. Erstmals im Rahmen eines Bronchialinfekts Atemnot vor drei Jahren. Seither Progredienz der Atembeschwerden mit weniger Beschwerden an Wochenenden und vollständiger Rückbildung in längeren Urlaubszeiten. Klinische Hinweise auf unspezifische bronchiale Hyperreagibilität.

Er berichtet, dass er beabsichtigt, die Meisterprüfung zu machen und den Betrieb seines jetzigen Arbeitgebers zu übernehmen. Ein Berufswechsel komme für ihn nicht in Frage.

Medikamente: Inhalative Kortikosteroide und langwirksame Bronchodilatatoren, gelegentlich systemische Kortikosteroide.

Befunde: Spirometrisch und ganzkörperplythemographisch nachweisbare obstruktive Ventilationsstörung. Kontraindikation zur Testung auf bronchiale Hyperreagibilität infolge der erhöhten Atemwegswiderstände. Spezifisches IgE gegen Roggenmehl und Gräser nachweisbar. Hautpricktest positiv auf Gräser, Roggenmehl und Reiskornkäferallergen.

Diagnose: Allergisches Asthma bronchiale bei klinisch relevanter Sensibilisierung gegenüber Roggenmehl und fraglich gegenüber Reiskornkäferallergen.

Besprechung der Fallkonstellation 1

Arbeitsmedizinische Beurteilung vor dem Hintergrund gesetzlicher Vorgaben

I. Arbeitsmedizinische Vorsorge
Vor Erlass der ArbMedVV hatten die Unfallversicherungsträger ein Regelwerk für arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen. Rechtliche Grundlage war das autonome Recht der Unfallversicherungsträger Vorschriften zur Unfallverhütung zu erlassen. Bis 2013 bekamen die Arbeitgebenden eine Information über die ­Untersuchung in Form von: „Keine gesundheitlichen Bedenken“, „keine gesundheitlichen Bedenken unter bestimmten Voraussetzungen“, „befristete oder dauerhafte gesundheitliche Bedenken“. Bei dauer­haften Bedenken musste ein Arbeitsplatz gefunden werden, an dem die Gesundheitsgefahr nicht mehr bestand. War dies nicht möglich, konnte ein Verlust des Arbeitsplatzes für den Beschäftigten resultieren.

Mit Erlass Novellierung der ArbMedVV 2013 wurde diese Praxis der Bescheinigung beendet und die Verfahren in der praktischen Arbeitsmedizin mussten geändert werden. Arbeitsmedizinische Vorsorge ist nach der ArbMedVV nach wie vor Teil der arbeitsmedizinischen Präventionsmaßnahmen im Betrieb und dient unter anderem auch der Feststellung, ob bei Ausübung einer bestimmten Tätigkeit eine erhöhte gesundheitliche Gefährdung besteht. Die Entscheidung, ob die/der Beschäftigte die Gefährdung am ­Arbeitsplatz akzeptiert oder nicht, trifft aber er/sie eigenverantwortlich für sich selbst. So wie der vorerkrankte Raucher oder auch der Diabetiker sich nach einer ärztlichen Beratung selbst weiterhin gesundheitsschädlichen Einflüssen aussetzen darf, kann auch ein Beschäftigter entscheiden, ob er ein berufliches Risiko eingehen will oder nicht. In der Arbeitsmedizin hat dies zu einem Umdenken, von einem paternalistischen hin zu einem partizipativen Arzt-Patient-Verhältnis, geführt.

In der ArbMedVV wird festgestellt, dass die ­arbeitsmedizinische Vorsorge nicht den Nachweis der gesundheitlichen Eignung für berufliche Anforderungen umfasst. Die gesundheitliche Eignung bezieht sich nicht auf die Selbstgefährdung des Beschäftigten, sondern auf die Eignung für den reibungslosen Ablauf des Arbeitsprozesses (zum Beispiel nicht korrigierbare Fehlsichtigkeit bei geplanter Tätigkeit als Gabelstapelfahrer oder respiratorische Insuffizienz bei erforderlichem Atemschutz am Arbeitsplatz) und die Gefährdung Dritter. Der Arbeitgeber darf von einer Bewerberin oder einem Bewerber im Bewerbungsverfahren eine gesundheitliche Untersuchung verlangen und der Arbeitgeber kann den Abschluss des Arbeitsvertrages vom Ergebnis einer gesundheitlichen Untersuchung abhängig machen. Im bestehenden Beschäftigungs­verhältnis darf der Arbeitgeber den Nachweis der gesundheitlichen Eignung aber nur verlangen, wenn ein solcher Nachweis erforderlich ist (beispielsweise in § 48 der Fahrerlaubnisverordnung oder § 10 der Druckluftverordnung). Anlasslose Eignungs­untersuchungen sind nicht rechtens und dürfen auch im Arbeitsvertrag nicht vereinbart werden [2].

Eine Untersuchung kann im Rahmen der arbeitsmedizinischen (Pflicht-, Angebots- oder Wunsch-) Vorsorge bei gegebener Indikation den Beschäftigten angeboten werden, es besteht jedoch keine Untersuchungspflicht für die Beschäftigten mehr (zum Beispiel Blutentnahme zur Bestimmung des Immunstatus). Der Arbeitgeber bekommt nur die Auskunft, dass die/der Beschäftigte an der Untersuchung teilgenommen hat. Über das Ergebnis der Vorsorge oder die Bereitschaft des/der Beschäftigten sich untersuchen zu lassen, darf er nicht informiert werden (ärztliche Schweigepflicht, siehe unten).

Im vorliegenden Fall 1 wird der Facharzt für ­Arbeitsmedizin den Bäcker darauf hinweisen, dass bei einem allergischen Asthma bronchiale die einzige kausale Maßnahme die Expositions­karenz ist, dass die Erkrankung bereits eine hohe Krankheitsaktivität hat, die eine weitere Progredienz der obstruktiven Atemwegserkrankung erwarten lässt, und dass eine völlige Rückbildung der bronchialen Symptomatik zu einem späteren Zeitpunkt der Berufsaufgabe fraglich ist. Die Entscheidung über seine weitere berufliche Tätigkeit trifft aber in jedem Fall der Bäcker für sich alleine.

II. Berufskrankheitenrecht nach SGB VII
Unabhängig von der Durchführung einer ­arbeitsmedizinischen Vorsorge ist der Arbeitsmediziner, wie jeder Arzt, aber dazu gesetzlich verpflichtet den begründeten Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit (BK) (siehe Fallkonstellation 2) anzuzeigen. Eine Zustimmung des Patienten ist hierfür nicht erforderlich. Er muss aber informiert werden, wenn eine BK-Anzeige gestellt wird. Bis 2020 war die Aufgabe der schädigenden Tätigkeit bei einem Berufsasthma die Voraussetzung zur Anerkennung als Berufskrankheit. Zum 1. Januar 2021 trat eine Novellierung des SGB VII in Kraft, wonach unter anderem auch für die neun der 82 Positionen der Berufskrankheiten(BK)-Liste, für die ein Aufgabezwang der verursachenden Tätigkeit gefordert worden war, dieser nicht mehr Voraussetzung zur Anerkennung ist (Tabelle 2). Diese neun Positionen betrafen bis 2020 ca. 40 Prozent aller angezeigten Berufskrankheiten, 50 Prozent der in der Kausalität bestätigten Erkrankungsfälle und sieben Prozent der Berufskrankheiten mit Rentenzahlung [3]. Durch die COVID-19-Pandemie ist es zu einer großen Zahl von Anerkennungen einer BK nach Nr. 3101 (Infektionskrankheiten, wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war) gekommen, die die Verhältnisse der BK-Statistik vorübergehend verzerrt.



Mit dem Wegfall des Unterlassungszwangs verpflichtet das SGB VII die Unfallversicherungsträger bei Beschäftigten mit anerkannter ­Berufskrankheit zu einem Case Management (vergleichbar dem D-Arztverfahren für Arbeitsunfälle). Dies beinhaltet auch betriebliche Maßnahmen zur Prävention. Im geschilderten Erkrankungsfall wären zunächst technische Maßnahmen angezeigt, wie Absaugeinrichtungen und der Ersatz gefährlicher Arbeitsstoffe durch weniger gefährliche Ersatzstoffe (zum Beispiel Prüfung, ob durch Umstellung des Sortiments auf Backwaren mit Roggenmehl verzichtet werden kann, Verwendung staubarmer Mehle). Auch organisatorische Maßnahmen, zum Beispiel Änderung von Arbeitsabläufen und Produktionsverfahren, Meiden bestimmter Tätigkeiten, wenn mehrere Personen in der Backstube tätig sind, kommen in Betracht. Weiter wäre zu prüfen, ob persönliche Schutzmaßnahmen (hier: Staubschutzmasken) für bestimmte Tätigkeiten verwendet werden können. Individuelle medizinische Maßnahmen, wie die regelmäßige pneumologische Betreuung, eine optimierte Therapie und ambulante sowie stationäre Heilmaßnahmen sind vom Unfallversicherungsträger zu übernehmen. Der Bäcker wird mit seiner Erkrankung am Arbeitsplatz ­somit nicht alleine gelassen, sondern umfassend betreut, um eine Progredienz der Erkrankung zu vermeiden. Wenn alle Maßnahmen der Prävention ausgeschöpft sind und das Krankheitsbild schwer ist, kann der Unfallversicherungsträger den Beschäftigten aber auffordern die schädigende Tätigkeit zu unterlassen. Neben Übergangsleistungen können dann auch Kosten für eine Umschulung übernommen werden.

Fallkonstellation 2

Eine 68 Jahre alte Frau mit histologisch gesichertem Ovarialkarzinom stellt sich vor.

Berufsanamnese: von 1970 bis 1993 Arbeiterin in einem Werk, in dem asbesthaltige Dichtungen hergestellt wurden.

Besprechung der Fallkonstellation 2

Angesichts der Arbeitsanamnese besteht der begründete Verdacht, dass das Ovarialkarzinom eine Berufskrankheit darstellt. Jeder Arzt ist gesetzlich (SGB VII) verpflichtet den begründeten Verdacht auf eine BK anzuzeigen. Es ist in diesem Fall somit eine BK-Anzeige an den zuständigen gesetzlichen Unfallversicherungsträger oder den staatlichen Gewerbearzt zu stellen und die ­Patientin muss hierüber informiert werden.

Auch wenn viele Erkrankungen, die als BK anerkannt und entschädigt werden können, per se keine seltenen Erkrankungen sind, werden doch relativ wenige dieser Krankheiten als BK angezeigt. Zum einen ist die Zahl der beruflich Gefährdeten begrenzt, zum anderen wird aber oftmals auch die berufliche Verursachung erst gar nicht erkannt. Wer nicht weiß, dass ein Ovarialkarzinom bei ausreichender Exposition gegenüber Asbest eine Berufskrankheit (BK 4104) darstellt, wird keinen Verdacht auf eine Berufskrankheit haben und keine Verdachtsanzeige erstatten. Eine Patientin mit asbestverursachtem Ovarial­karzinom erhält dann keine Leistungen vom ­Unfallversicherungsträger, auf die sie berechtigte Ansprüche hätte [4].

Das Wissen um BK ist daher für Ärzte Pflichtwissen mit lebenslanger Fortbildungspflicht [5]. Eine BK ist nicht synonym zu einer berufs-(arbeits-)bedingten Erkrankung und damit keine medizinische Diagnose, sondern ein rechtlich definierter Begriff (Abbildung 1 und Definition im Kasten). Beraten wird die Bundesregierung von einem ärztlichen Beirat. Die Arbeitsweise dieses Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten (ÄSVB), das Arbeitsprogramm (Tabelle 3 a, b, c) sowie rechtsverbindliche, ­aktuelle Informationen finden sich auf der Homepage des BMAS. Auf diesen Seiten kann aktuell und rechtsverbindlich das erforderliche Wissen abgerufen werden und es findet sich darauf die jeweils aktuelle Liste der BK.


Häufig führt neben dem fehlenden Wissen um BK auch der Zeitdruck in der Praxis und der Klinik dazu, dass keine vollständige Berufsanamnese erhoben wird und deswegen kein Verdacht auf eine berufliche Verursachung einer Erkrankung aufkommt. Wenn beispielsweise bei einem starken Raucher mit Bronchialkarzinom die Frage nach der Ursache gar nicht mehr gestellt wird, kann es vorkommen, dass eine berufliche (Mit-)Verursachung übersehen wird. Bei gesicherter, relevanter Asbestexposition (Asbestose oder Asbestpleuraplaques oder Nachweis von sogenannten 25 Faserjahren) ist das Rauchverhalten in der Vergangenheit und der Gegenwart nicht maßgeblich für die Anerkennung eines Bronchial­karzinoms als BK 4104.

Dass im ärztlichen Alltag der Zeitmangel und die Wissensdefizite die größten Barrieren sind, um Berufskrankheiten zu erkennen, wurde in einer Studie für US-Amerika belegt [6]. Hierzulande dürfte dies nicht anders sein. In Deutschland verlieren die Patienten allerdings bei Übersehen eines BK-Verdachts unter Umständen umfangreiche Leistungen, die ihnen bei der bestehenden gesetzlichen Unfallversicherungspflicht zustehen. Denn wenn kein begründeter Verdacht gemeldet wird, kommt es auch nicht zur Anerkennung und Entschädigung einer BK. Wenn es in einer neuen Approbationsordnung keine einzelnen Fächer mehr geben wird, die Arbeitsmedizin somit nur noch organbezogen zu vermitteln ist, dürfte dies auch Auswirkungen auf das Erkennen und Anzeigen von BK haben [4].

Fallkonstellation 3

Eine 23 Jahre alte Frau kommt zur arbeitsmedizinischen Pflichtvorsorge, weil sie den Berufswunsch Erzieherin hat und ein Praktikum im Kindergarten machen möchte. Im Anamnesegespräch erwähnt sie, dass sie und ihre Familie Impfungen ablehnten. Eine Maserninfektion ist nicht erinnerlich. Im Serum findet sich kein Hinweis auf eine bestehende Immunität.

Besprechung der Fallkonstellation 3

Die junge Frau wurde ohne Einstellungsuntersuchung zum Praktikum zugelassen. Nach dem Anhang Teil 2 der ArbMedVV, der auch für Praktikanten gilt, besteht der Anlass zur Pflichtvorsorge vor Aufnahme der gefährdenden Tätigkeit. In der Beratung weist der Betriebsarzt die junge Frau auf die Gefährdung durch eine Masern­infektion hin. Die Frau ist nicht einsichtig, auch nicht, nachdem sie darauf hingewiesen wird, dass nach dem Masernschutzgesetz unter anderem Beschäftigte in Kindergärten gegen Masern immun oder geimpft sein müssen. Nach § 23a des Infektionsschutzgesetzes darf der Arbeitgeber personenbezogene Daten eines Beschäftigten über dessen Impf- und Serostatus erheben. Der Nachweis der Immunität ist aber unabhängig von der arbeitsmedizinischen Vorsorge zu sehen und die Frau muss diesbezüglich aufgeklärt werden. Bei positivem Immunstatus kann dies unabhängig von der Vorsorgebescheinigung attestiert werden. Die ärztliche Schweigepflicht gegenüber dem Arbeitgeber bleibt aber bestehen. In der vorliegenden Fallkonstellation erhält somit der Arbeitgeber die Information, dass die Praktikantin an der Pflichtvorsorge teilgenommen hat. Ein Attest über Masernimmunität zur Vorlage beim Arbeitgeber erhält sie nicht. Der Arbeitgeber kann dann seine Schlüsse daraus ziehen.

Im § 6 der ArbmedVV wurde insbesondere auf Wunsch der beratenden Arbeitsmediziner explizit darauf hingewiesen, dass der Arzt die ärztliche Schweigepflicht zu beachten hat. Dies war für die Juristen eine Selbstverständlichkeit, da die ärztliche Schweigepflicht generell für alle Ärzte gilt. Die Erwähnung in der Verordnung ist aber in der praktischen Arbeit von Bedeutung, beispielsweise, wenn Vorgesetzte oder Fachkräfte für Arbeitssicherheit Informationen über krankheitsbedingte Einschränkungen oder über die Höhe der Arbeitsstoffbelastung des Beschäftigten, wenn der Arzt ein Biomonitoring (zum Beispiel Blei im Vollblut) durchgeführt hat, vom Betriebsarzt wünschen. Auch bei der Zusammenarbeit von klinischen Kollegen mit Arbeitsmedizinern, ist es bedeutsam, sich bewusst zu machen, dass sich alle Beteiligten auf die Verschwiegenheit der Arbeitsmediziner verlassen können, beispielsweise, wenn durch einen Arbeitsplatzwechsel die Dauer einer Arbeitsunfähigkeit infolge einer psychischen Erkrankung verkürzt oder vermieden werden könnte.

 

Interessenkonflikte:
Der Verfasser ist Mitglied im Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Er ist als Gutachter für Sozialgerichte und Unfallversicherungsträger tätig.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autor

Professor (em.) Dr. Hans Drexler,

Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der FAU, Erlangen-Nürnberg, Henkestraße 9-11, 91054 Erlangen
E-Mail: hans.drexler@fau.de

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