Korporatismus – Torso oder Zukunftsmodell?

Dr. Max Kaplan

Die korporatistische Steuerung unseres Gesundheitssystems wird immer wieder auf den Prüfstand gestellt, was per se nicht schlecht ist. Eine lebendige Selbstverwaltung muss Kritik aushalten und sich immer wieder selbstkritisch hinterfragen.

Regelungskompetenz

Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass der Gesetzgeber aus gutem Grund auf Korporatismus gesetzt und einen großen Teil seiner Regelungskompetenz im Gesundheitswesen auf die Selbstverwaltungsorganisationen übertragen hat. Aufgrund ihrer Sachkenntnis, ihrer Nähe zur Praxis und ihrer Bindung zu ihren Mitgliedern lösen die Selbstverwaltungsorganisationen viele diffizile Detailregelungen einfach besser und effizienter als es der Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene könnte. Damit ist eine starke Selbstverwaltung keine Konkurrenz zum Staat. Vielmehr entlastet und ergänzt sie ihn.

Gäbe es die ärztliche Selbstverwaltung nicht, wäre die Gefahr von regional stark unterschiedlichen Regelungen in Gesundheitsfragen nicht von der Hand zu weisen. Den Landesärztekammern (LÄK) und der Bundesärztekammer (BÄK) ist es aber zu verdanken, dass wir über Ländergrenzen hinweg weitgehend übereinstimmende Rechtsgrundlagen für die ärztliche Berufsausübung haben – etwa in Fragen der Qualität ärztlichen Handelns oder aber auch bei der Aufsicht über die Einhaltung beruflicher und ethischer Normen. Konkret: Die (Muster-)Weiterbildungsordnung (MWBO) wird derzeit komplett überarbeitet. Das geschieht in enger Abstimmung mit den LÄK, den ärztlichen Verbänden und den Fachgesellschaften. So stellen wir sicher, dass die neuen Regelungen in die rechtlich verbindlichen Weiterbildungsordnungen der LÄK übernommen und die Fachärzte in ganz Deutschland auf dem gleichen hohen Niveau qualifiziert werden. Das alles ist fachlich hochkomplex. Das kann keine Behörde leisten. Freiberuflichkeit ist für funktionierende Selbstverwaltung unabdingbar. An diesen Beispielen wird deutlich: Wir übernehmen Verantwortung – nicht nur für unsere eigenen Belange, sondern auch und gerade für das Gemeinwohl.

Kontrollbürokratie

Ungeachtet dessen werden aber die Wesensmerkmale ärztlicher Freiberuflichkeit und damit auch der ärztlichen Selbstverwaltung durch Kontrollbürokratie und durch staatliche Interventionen zunehmend infrage gestellt. Seit Jahren beobachten wir, dass die das Gesundheitswesen betreffenden Gesetze und Verordnungen weit davon entfernt sind, Rahmenvorgaben zu sein. Vielmehr regeln sie die gesundheitliche Versorgung bis in kleinste adminis-trative oder neuerdings sogar medizinische Details.
Dabei geht es nicht nur um die unmittelbare staatliche Einflussnahme, sondern auch um mittelbare Interventionen über den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), dem Spitzenorgan der gemeinsamen Selbstverwaltung, das mittlerweile ein zentrales Steuerungsgremium im deutschen Gesundheitswesen geworden ist. Die Frage ist nicht unberechtigt, ob es sich hierbei inzwischen nicht eher um eine untergesetzliche normgebende Behörde als um ein Organ der Selbstverwaltung handelt. Damit einher geht die Gefahr, dass der G-BA sich allzu weit weg vom Versorgungsgeschehen vor Ort entfernt. Immer häufiger beauftragt der Staat den G-BA, die Versorgung bis in die Patienten-Arzt-Beziehung hinein zu steuern und Versorgungsstrukturen zu schaffen, die mehr und mehr an ökonomischen Vorgaben ausgerichtet sind. Beispielhaft sei hier die im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz angelegte Definitionshoheit des G-BA über Anforderungen an zweitmeinungsberechtigte Leistungserbringer und die Abgabe der Zweitmeinung genannt. Bei der Qualitätssicherung sind neben den Zuständigkeiten nach § 137a SGB V zahlreiche weitere Aufgaben zur Förderung der Qualitätsorientierung der Versorgung hinzugekommen, wozu auch die qualitätsorientierte Vergütung zählt.

Staatliche Interventionen

Einen vorläufigen Höhepunkt staatlicher Einflussnahme bildet das sogenannte Selbstverwaltungsstärkungsgesetz, das den Handlungsspielraum der Körperschaften niedergelassener Ärztinnen und Ärzte massiv einengt. Mit diesem Gesetz erleben wir einen sukzessiven Wandel von der Rechtsaufsicht durch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hin zu einer De-facto-Fachaufsicht. Beispiele hierfür sind die weitgehenden Mitgestaltungsmöglichkeiten durch die Aufsicht, kleinteilige Verfahrensvorschriften, bürokratieintensive Berichtspflichten sowie weitreichende Genehmigungsvorbehalte und Durchgriffsrechte selbst in Detailfragen. Schlimmer aber ist, dass sich die Bundesregierung mit dem Gesetz von dem Erfolgsmodell „Selbstverwaltung“ distanziert. Damit gibt sie den Teilen der Politik Rückenwind, denen unsere bürgernahe Selbstverwaltung aus rein ideologischen Gründen ein Dorn im Auge ist und die lieber heute als morgen auf Staatsmedizin und Einheitskasse umschalten wollen. Wir befürchten, dass die Kompetenzen der ärztlichen Selbstverwaltung und damit unsere eigenen Gestaltungsmöglichkeiten immer weiter eingeschränkt werden, bis von der einst lebendigen Selbstverwaltung nur noch ein blutleerer Torso übrigbleibt. Deshalb müssen wir die gegenwärtige Krise als Chance begreifen. Dabei sind alle gefordert: Die Organisationen der Selbstverwaltung müssen gewohnte Strukturen und Abläufe hinterfragen und da, wo es nötig ist, neue Wege gehen. Und die Politik ist aufgefordert, der ärztlichen Selbstverwaltung wieder die Gestaltungsspielräume zu geben, die sie für die Sicherung einer hochwertigen gesundheitlichen Versorgung der Patientinnen und Patienten benötigt.  

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