Kinderschutz braucht starke Netze!

Neuer Leitfaden für Ärzte "Gewalt gegen Kinder und Jugendliche – Erkennen und Handeln".

Starke und verantwortungsvolle Eltern sind der beste Kinderschutz und die beste Garantie für die Sicherstellung einer positiven und gesunden Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Entscheidend ist dabei die frühzeitige Stärkung elterlicher Kompetenzen insbesondere in belastenden Lebenssituationen. Familiäre Belastungs- und Überforderungssituationen gehören zu den Hauptursachen für Vernachlässigung und Misshandlung von Säuglingen und Kleinkindern. Die große Mehrheit der Eltern will das Beste für ihre Kinder und nimmt hierfür auch gerne Beratung und Unterstützung an. Vertrauensvolle, sich gegenseitig wertschätzende berufsgruppenübergreifende Zusammenarbeit und vor Ort vorhandene interdisziplinäre Netzwerke geben den Eltern dabei den nötigen Halt, Vertrauen und Sicherheit. Interdisziplinäre Kooperation bedeutet vor allem, bei den Eltern bei Bedarf um die Inanspruchnahme weiterer Unterstützungsangebote anderer Institutionen, Einrichtungen und Dienste (insbesondere der Kinder- und Jugendhilfe) möglichst frühzeitig zu werben, etwaige Hemmschwellen abzubauen und rechtzeitig Brücken dorthin aufzubauen, damit Eltern ihrer Erziehungsverantwortung auch in schwierigen Situationen gerecht werden können. Können oder wollen Eltern ihre Verantwortung nicht wahrnehmen und ist das Kindeswohl dadurch gefährdet, ist im Einzelfall auch konsequentes Handeln erforderlich, wenn es sein muss auch gegen den Willen der Eltern.

In Bayern fügen sich vielfältige Angebote und Maßnahmen, von präventiven Frühen Hilfen bis hin zum konsequenten Vollzug des staatlichen Wächteramtes, zu einem abgestimmten Gesamtkonzept zum Kinderschutz zusammen (ausführlich hierzu siehe Kinder- und Jugendprogramm der Bayerischen Staatsregierung, Kapitel III 6, www.stmas.bayern.de/jugend/programm sowie www.kinderschutz.bayern.de). Insbesondere durch die strukturell verankerte Zusammenarbeit von Gesundheitswesen mit der Kinder- und Jugendhilfe können Risiko-faktoren für das Wohl und die Entwicklung junger Menschen frühzeitig wahrgenommen und reduziert werden.

Diese Zielsetzungen verfolgt auch das Bundeskinderschutzgesetz, das zum 1. Januar 2012 in Kraft getreten ist und einige wichtige Elemente des Bayerischen Gesamtkonzeptes zum Kinderschutz vollumfänglich übernommen hat (siehe Ziffer 1). Die Wirkungen des Bundeskinderschutzgesetzes werden derzeit auf Bundesebene evaluiert, in diesem Zusammenhang wurde von Bayern unter anderem Verbesserungsbedarf in Bezug auf eine Klarstellung bestehender Handlungspflichten zur Einbindung der erforderlichen Stellen, wenn dies zum Schutz von Kindern und Jugendlichen erforderlich ist, eingebracht (siehe Ziffer 3).

Wesentliche Elemente des Bayerischen Gesamtkonzeptes zum Kinderschutz

1. Systematische Vernetzung Früher Hilfen durch die KoKi-Netzwerke vor Ort
Die verbindliche interdisziplinäre Zusammenarbeit im Kontext Früher Hilfen wird in Bayern durch die „Koordinierenden Kinderschutzstellen“ (KoKi-Netzwerk frühe Kindheit) der Jugendämter organisiert. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (StMAS) unterstützt diese bereits seit 2009 mit dem KoKi-Förderprogramm fachlich und finanziell. Eine flächendeckende bayernweite Etablierung dieser Netzwerke ist dadurch bereits erreicht (über 100 regionale KoKi-Netzwerke vor Ort, siehe auch www.koki.bayern.de). In diese Netzwerke sollen neben den Angeboten der Träger der freien Jugendhilfe (zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen) möglichst alle Berufsgruppen der Region, die sich wesentlich mit Säuglingen bzw. Kleinkindern befassen, eingebunden sein. Wichtige Netzwerkpartner sind vor allem die Akteure aus dem Gesundheitsbereich. Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung und das Kindeswohl sollen frühzeitig erkannt werden, damit diesen gezielt entgegengewirkt werden kann (zum Beispiel konkrete Hilfestellung für Eltern mit sogenannten „Schreibabys“, bei Trennung/Scheidung, Hilfe für junge Eltern, alleinerziehende Elternteile, Vermittlung von Hilfe bei finanziellen Problemen etc.). Eine aktuelle Umfrage bei den Jugendämtern zeigte auf, dass zunehmend Eltern mit psychischen Belastungen Unterstützung bei den KoKis suchen und vor allem auf das frühzeitige Erkennen von mütterlichen Depressionen nach der Geburt geachtet werden muss. In diesem Zusammenhang ist auch eine enge Zusammenarbeit mit der Erwachsenenpsychiatrie sehr wichtig und weiter zu forcieren.

Insgesamt hat die Umfrage ergeben, dass den hilfesuchenden Eltern in den meisten Fällen bedarfsgerechte Unterstützung aus dem KoKi-Netzwerk angeboten werden konnte und somit Belastungs- bzw. Überforderungssituationen entgegengewirkt werden konnte.

Das mit positivem Ergebnis evaluierte bayerische KoKi-Konzept ist durch entsprechende Aufnahme in das Bundeskinderschutzgesetz zum bundesweiten Standard geworden.

2. Kinderschutzambulanz und interdisziplinäre Standards im Bereich Kinderschutz
Klarheit in der Sache, Koordination im Verfahren und Konsequenz im Handeln: Diese wichtigen Handlungsprinzipien im Kinderschutz sind in der Praxis oft nicht selbstverständlich. Unsicherheit besteht vor allem bei der Einschätzung von Verletzungen und Gefährdungssituationen (zum Beispiel nur vager Verdacht auf oder bereits gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindesmisshandlung).

Mit der Einrichtung der vom StMAS unterstützten und finanziell geförderten Kinderschutzambulanz sowie der Neufassung des Ärzteleitfadens (siehe Abbildung) wurden wichtige Grundlagen für die nachhaltige Etablierung interdisziplinärer Standards zum Erkennen von und Umgang mit Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sowie zur Qualifizierung geschaffen.

2011 wurde die Kinderschutzambulanz (KSA) am Institut für Rechtsmedizin der Ludwigs-Maximilians-Universität München (www.rechtsmedizin.med.uni-muenchen.de/kinderschutzambulanz) eröffnet. Die KSA schließt mit ihrem Angebot eine Lücke zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe und leistet maßgebliche Beiträge zur Sicherstellung landesweiter interdisziplinärer Standards im Kinderschutz auf der Grundlage des oben genannten Ärzteleitfadens. Bei Verdacht auf körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen ist die KSA bayernweit Anlaufstelle. Kinder und Jugendliche werden schnell, umfassend und kostenlos untersucht, Verletzungen dokumentiert und Beweismittel und Spuren einer Misshandlung gesichert. Die KSA bietet ferner Beratung bei Unsicherheiten im Umgang mit möglichen Kindeswohlgefährdungen und trägt somit zur Handlungssicherheit in diesen Fällen bei. Über www.remed-online.de, dem konsiliarischen Online-Dienst der KSA, können Ärztinnen und Ärzte sowie Fachkräfte der Jugendämter zudem kostenlos und gegebenenfalls auch ano-nym Beratung und Informationen erhalten. So konnten von 2010 bis Ende 2013 insgesamt 255 Kinder und Jugendliche in der KSA untersucht werden, in 71 Anfragen über Remed-online und in über 530 telefonischen Beratungsgesprächen Anfragen diskutiert und geklärt werden. Darüber hinaus werden auf der Grundlage des Ärzteleitfadens interdisziplinäre Qualifizierungs- und Fortbildungsveranstaltungen durchgeführt.

Spezielle Schulung von Ärztinnen und Ärzten zum Thema Kindeswohlgefährdung
Seit 2013 führt die KSA Schulungen zum Beispiel für leitende Ärztinnen und Ärzte aus bayerischen Kinderkliniken zum Thema Kindeswohlgefährdung durch. Ziel ist insbesondere, dass auch dezentral in bayerischen Kliniken kompetente Ansprechpartner bei Kinderschutzfragen zur Verfügung stehen, die selbst als Multiplikatoren tätig sein und in ihren Kliniken interne Strukturen zur Kinderschutzarbeit etablieren können (zum Beispiel Aufbau einer klinikinternen Kinderschutzgruppe). Die Schulung soll ab 2014 auf niedergelassene Mediziner ausgedehnt werden.

3. Empfehlungen zum interdisziplinären Vorgehen bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung
Die effektive Wahrnehmung des Schutzauftrags durch das Jugendamt hängt maßgeblich von einer engen und vertrauensvollen Kooperation mit den beteiligten Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie anderen Hilfesystemen und Fachdisziplinen ab. Hierbei ist entscheidend, dass dem Jugendamt Informationen über erkannte oder vermutete gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung rechtzeitig bekannt werden, damit dieses entsprechend seinem gesetzlichen Auftrag nach § 8a Sozialgesetzbuch (SGB) VIII unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen zur Abklärung und gegebenenfalls zur Gefahrenabwendung ergreifen kann.

Bei  gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung ist die Einbindung des Jugendamtes zur Abklärung und gegebenenfalls Sicherstellung des Kindeswohls von entscheidender Bedeutung und im Regelfall dringend geboten. Eine Handlungspflicht zur Einbindung des Jugendamtes besteht insbesondere, wenn Ärztinnen und Ärzte zur Einschätzung kommen, dass das Kindeswohl gefährdet ist und aus ihrer Sicht ein Tätigwerden des Jugendamtes zur Abwendung der Kindeswohlgefährdung erforderlich ist. Dies ergibt sich in der Regel bereits aus einer Beschützergarantenstellung und einer daraus folgenden Garantenpflicht gegenüber ihren minderjährigen Patientinnen und Patienten. Zusätzlich normiert auch § 4 Abs. 1 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) eine gesetzliche Garantenstellung der dort genannten Personen. Sie haben rechtlich dafür einzustehen, dass eine aus ihrer subjektiven Sicht bestehende Gefährdung für das Wohl eines Kindes oder Jugendlichen abgewendet wird. Wenn der Eintritt des Schadens nicht mit eigenen Mitteln verhindert werden kann, so müssen die gewonnenen Erkenntnisse zum Schutz des Kindes bzw. Jugendlichen dringend an geeignete Stellen (zum Beispiel Jugendamt oder Polizei) weitergegeben werden (ansonsten Gefahr strafrechtlich relevanten Unterlassens gemäß § 13 Strafgesetzbuch – StGB).

Da im § 4 Abs. 3 KKG lediglich die „Befugnis“ zur Information des Jugendamtes – aber keine ausdrückliche Verpflichtung hierzu – aufgenommen wurde, führt diese Regelung zu erheblicher Handlungs- und Rechtsunsicherheit in der Praxis, die vor allem für die Betroffenen verheerende Folgen haben kann, aber auch für diejenigen, die es unterlassen, Hilfe zu leisten (§ 13 StGB).

Zur Sicherstellung eines effektiven Kinderschutzes und insbesondere zur Schaffung von Handlungsklarheit, auch in Bezug auf diese Handlungspflicht, wurde in Bayern bereits 2008 die bestehende Handlungspflicht für Ärztinnen und Ärzte sowie für Hebammen und Entbindungspfleger für oben genannte Fälle gesetzlich in Art. 14 Abs. 3 und 6 Gesundheitsdienst- und Verbraucherschutzgesetz (GDVG) konkretisiert. Die Wichtigkeit und Notwendigkeit der verbindlichen Zusammenarbeit im Kinderschutz bestätigt eine Abfrage im Frühjahr 2014 zur Wirkungsweise des Art. 14 GDVG: Insgesamt wurden nach Rückmeldung der teilnehmenden Jugendämter 781 Fälle aufgrund von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung mitgeteilt. In 471 der mitgeteilten Fälle bestand Handlungsbedarf für die Jugendämter. Davon waren 205 Kinderschutzfälle dem Jugendamt zuvor noch nicht bekannt! Die Abfrage zeigt auch, dass die Zusammenarbeit in Bayern zwischen dem Gesundheitsbereich und der Kinder- und Jugendhilfe bereits auf einem sehr hohen Niveau ist und der Kinderschutz hiervon profitiert. Die teilweise geäußerte Befürchtung, eine solche Handlungspflicht könnte Eltern davon abhalten, ihr Kind beim Arzt vorzustellen und es untersuchen zu lassen (vgl. Begründung zum Bundeskinderschutzgesetz), hat sich in Bayern in den Jahren seit der Einführung der Mitteilungspflicht nicht bestätigt. Im Gegenteil, gerade überlastete Eltern sind in der Regel froh, wenn sie unterstützt werden. Als Herausforderung bleibt, Signale von Kindeswohl-gefährdungen frühzeitig wahrzunehmen und im vertrauensvollen Miteinander die bestmögliche Option aus Sicht des Kindes bzw. Jugendlichen wahrzunehmen.

Fazit

Die Gewährleistung eines effektiven Kinderschutzes ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und Daueraufgabe oberster Priorität. Kinderschutz braucht starke Netze! Auch wenn es in Bayern auch Dank des hohen Engagements der unterschiedlichen Akteure vor Ort bereits ein beachtliches Spektrum an Angeboten und Maßnahmen zur Unterstützung der jungen Menschen und ihrer Familien und zur Sicherstellung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen gibt, ist die Weiterentwicklung des Kinderschutzes als fortlaufender gemeinsamer Prozess aller Verantwortlichen auf allen Ebenen zu sehen. Großes Potenzial liegt dabei in der weiteren Stärkung des präventiven Kinderschutzes. Besondere Bedeutung hat die Etablierung einer Kultur des Miteinanders sowie der gegenseitigen Wertschätzung, die die Inanspruchnahme von Hilfe ohne Stigmatisierung erst möglich macht.

Der neue Leitfaden kann unter www.aerzteleitfaden.bayern.de heruntergeladen werden.

 
Privatdozentin Dr. Elisabeth Mützel


Ministerialrätin Isabella Gold

 

 

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