„Kein Täter werden“

Professor Dr. Kolja Schiltz

Seit Anfang 2021 bietet das Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) als assoziierter Standort das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“, Menschen mit pädophiler Neigung therapeutische Hilfe unter Schweigepflicht an. Professor Dr. Kolja Schiltz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Forensische Psychiatrie und Facharzt für Nervenheilkunde, leitet diese Präventionsambulanz an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU.

Herr Professor Schiltz, welche Ziele verfolgt das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“?
Schiltz: Das Präventionsnetzwerk „Kein Täter werden“ ist ein Zusammenschluss von psychiatrisch-nervenärztlichen Stellen, die spezialisierte Kompetenz für die Behandlung von Personen vorhalten, die sich sexuell zu Kindern und Jugendlichen hingezogen fühlen. Ziel dieser Einrichtungen ist es, betroffenen Personen Hilfen anzubieten, ihre sexuelle Präferenz zu akzeptieren und in das eigene Selbstbild zu integrieren bei gleichzeitiger Vermittlung von Strategien zur verbesserten Verhaltenskontrolle, diese Neigung nicht auszuleben, sodass mögliche Straftaten verhindert werden können. Somit kann die Therapie im Sinn einer sogenannten Primärprävention eingeordnet werden. Bei der Vorgehensweise steht im Mittelpunkt, die betroffenen Personen, die noch nicht der Strafverfolgung unterliegen, mit geeigneten therapeutischen Mitteln von dem Leidensdruck zu entlasten und ihnen einen adäquaten Umgang mit ihrer Situation und den sexuellen Impulsen zu ermöglichen. Hierbei wird vor allem darauf Wert gelegt, mit dem Betroffenen zusammen Lösungswege zu erarbeiten, wie sie mit ihrer Situation umgehen können.

An wen richtet sich dieses Therapieangebot? Gibt es Voraussetzungen für die Teilnahme?
Schiltz: Das Therapieangebot richtet sich an Personen, die sich sexuell zu Kindern und Jugendlichen hingezogen fühlen und es vermeiden wollen, auf Grund dieser Neigung straffällig zu werden. Es wird ein anonymes und unverbindliches Hilfsangebot gemacht, das zu einer Entlastung und damit zu Verminderung des sozialen Stresses und zu Verhinderung von weiteren psychischen Komorbiditäten führt. Voraussetzung für die Teilnahme ist vor allem, dass die Therapie nicht durch ein aktuelles Gerichtsurteil angeordnet ist und kein Ermittlungs- oder Strafverfahren gegen den Betroffenen läuft. Es ist wichtig, dass sich die Teilnehmer aus Eigenmotivation an uns wenden, es darf keinen Druck von außen geben.

Gibt es auch ein Angebot für Straftäter?
Schiltz: Nicht in der Präventionsambulanz. Straftäter können in einer Straftäterambulanz betreut werden. Das ist ein anderer Ansatz.

Wer finanziert dieses Projekt und wer ist daran beteiligt?
Schiltz: Das Projekt in München wird durch das Bayerische Staatsministerium der Justiz finanziert. Das Projekt wird unter meiner Leitung in der Spezialambulanz durchgeführt.

Wie läuft die Kontaktaufnahme ab und was passiert bei der Therapie?
Schiltz: Die Kontaktaufnahme läuft grundsätzlich anonym ab. Es ist möglich, über eine Hotline oder per E-Mail-Kontakt aufzunehmen. Es erfolgt eine Terminvereinbarung und eine Einladung zur diagnostischen Exploration, die durch eine Ärztin, einen Arzt, eine Sexualtherapeutin oder Sexualtherapeuten durchgeführt wird. Mir ist dieser diagnostische Blick sehr wichtig. In Folge wird darüber entschieden, inwiefern eine Teilnahme an dem Programm jeweils in Frage kommt. Ziel ist es dann, in eine Gruppentherapie einzutreten. Je nach Situation gibt es auch die Möglichkeit einer Einzeltherapie. Die Pädophilie ist eine sexuelle Präferenz, die konstant ist und lebenslang besteht. Wir versuchen aber, die Störung, also das Delinquent-Werden und das eigene Leiden, zu behandeln. Dafür werden verschiedene Werkzeuge und Techniken vermittelt, wie man damit umgehen kann, wie man nicht straffällig wird und vor allem, wie man anderen keinen Schaden zufügt – das ist das Grundkonzept.

Lässt sich mit Prävention verhindern, dass jemand zum Täter wird? Gibt es Zahlen dazu?
Schiltz: Wichtig ist zunächst klarzustellen, dass nicht jeder Mensch mit einer Pädophilie oder Hebephilie einen sexuellen Kindesmissbrauch begeht und, dass wiederum nicht jeder Sexualstraftäter gegen Kinder pädophil oder hebephil ist. Die Frage, inwiefern Prävention verhindern kann, dass Missbrauchstaten gegen Kinder oder die Nutzung von Missbrauchsabbildungen stattfindet, ist in dem Rahmen des Netzwerkes schwer direkt anhand zum Beispiel der Daten der Justiz zu untersuchen, denn bei der Arbeit mit den Teilnehmern gilt das Gebot der Anonymität. Man weiß allerdings, dass man viele medizinische und behaviorale Parameter, die empirisch mit Sexualdelinquenz verbunden sind, mit den im Projekt zur Anwendung gebrachten Methoden zuverlässig beeinflussen kann. Damit hat man also gute indirekte Maße für Behandlungserfolge. Und diese Maße werden durch die Behandlung im Netzwerk nachweislich positiv verändert. Aufgrund der Natur des Projektes liegen selbstverständlich noch keine großen Studien mit mehreren tausend Teilnehmern vor, die eine zuverlässige statistische Auswertung zum derzeitigen Zeitpunkt ermöglichen würden. Die Daten aus den ersten Studien weisen allerdings darauf hin, dass in den kleinen Populationen Behandlungseffekte vorliegen, die eine Rückfälligkeit oder die erstmalige Begehung von strafbaren Handlungen unwahrscheinlicher machen. Dies ist ein wissenschaftliches Feld, das gerade erst entwickelt wird und auf sehr lange Beobachtungszeiten angewiesen ist. Daher lassen sich noch keine so zuverlässigen statistischen Ergebnisse hier analysieren, wie das beispielsweise bei der Untersuchung der Wirksamkeit von Impfungen sich schnell ausbreitender Erkrankungen wie der COVID-19-Pandemie aktuell möglich ist.

Das Angebot „Kein Täter werden“ wurde im Februar in München gestartet. Gibt es in Bayern beziehungsweise bundesweit noch weitere Anlaufstellen?
Schiltz: Die Aufbauarbeit in München hat bereits im Dezember 2020 begonnen und ab Anfang Januar wurden Anfragen, die bereits vorlagen, bearbeitet. Eine öffentliche Bekanntgabe des Angebotes über die Pressemitteilung erfolgte jetzt im Februar. In Bayern gibt es bereits seit mehr als zehn Jahren ein entsprechendes Angebot. Zunächst gab es eine Ambulanz an der Abteilung für forensische Psychiatrie in Regensburg. Nachdem der dortige Professor für forensische Psychiatrie in Ruhestand gegangen war, wurde diese Ambulanz nicht kontinuierlich weitergeführt. Parallel war eine Ambulanz in Bamberg eröffnet worden, die unter der Leitung von Professor Dr. Göran Hajak und Dipl.-Psych. Dr. Ralf Bergner-Köther in der Sozialstiftung Bamberg geführt wird. Hier besteht bereits eine langjährige Expertise in der Behandlung entsprechender Personen, diese wird auch in einer engen Vernetzung mit dem Standort München weitergegeben. Wir arbeiten derzeit gemeinsam an der erneuten Verfügbarmachung des Angebotes in Regensburg, die vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz dringend angestrebt wird. 

Können die Beratung und Therapie auch völlig anonym erfolgen?
Schiltz: Die Beratung und die Therapie sollen grundsätzlich anonym erfolgen, wenn dies von den Teilnehmern so gewünscht wird. Dadurch soll eine niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit geschaffen werden, sich Hilfe zu holen. Das ist sehr wichtig, weil die Leute natürlich viel Angst davor haben, dass sie stigmatisiert und beschuldigt werden, möglicherweise, obwohl sie überhaupt keine Straftaten begangen haben.

Wie häufig kommt Pädophilie vor und sind eher Männer davon betroffen?
Schiltz: Es wird geschätzt, dass bis zu einem Prozent der männlichen Bevölkerung eine pädophile Neigung hat. Frauen mit einer pädophilen Neigung traten bisher nur in Ausnahmefällen in Erscheinung. In Deutschland wurde bisher im Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ rund 2.300 Personen ein Therapieangebot gemacht.

Sie unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht. Was machen Sie, wenn Sie im Rahmen der Therapie von einer Straftat erfahren?
Schiltz: Die Mitarbeiter in der Ambulanz unterliegen selbstverständlich der ärztlichen Schweigepflicht. Diese wird genauso gehandhabt, wie dies auch in anderen Kliniken erfolgt, seien sie somatisch, nervenärztlich oder psychiatrisch. Hier ergeben sich keine wesentlichen Differenzen zu dem, was jedem Arzt aus seinem Berufsalltag hinsichtlich der ärztlichen Schweigepflicht bekannt ist. Die Aufgabe der Ambulanz liegt darin, Menschen Hilfe zu leisten, sodass potenzielle Selbst- oder Fremdgefährdung abgewendet werden kann.

Und wenn der Patient konkret eine Straftat plant und Sie erfahren davon?
Schiltz: Für uns gelten genau die gleichen Regeln, wie für alle Ärzte. Wenn es eine direkte und konkrete Gefährdungssituation gibt, dann müssen wir tätig werden. Es gibt einen Stufenplan, der je nach Situation bereits im Vorfeld konkrete Maßnahmen vorsieht.

Wie erreichen Sie Ihre potenziellen Patienten? Können Ärztinnen und Ärzte Interessierte an Sie verweisen?
Schiltz: Die potenziellen Patienten der Ambulanz können sich direkt an uns wenden, daher betreiben wir eine aktive Öffentlichkeitsarbeit und publizieren unsere Kontaktmöglichkeiten. Es ist außerdem möglich, dass sich behandelnde Ärztinnen und Ärzte sowie Therapeutinnen und Therapeuten in Fällen, in denen dies angezeigt erscheint, an uns wenden oder uns Patienten vermitteln. Insofern ist eine Verweisung durch ärztliche Kolleginnen und Kollegen an uns sehr gewünscht.

Wie sind die ersten Erfahrungen nach dem Start in München? Wo gibt es Verbesserungspotenziale?
Schiltz: Die ersten Erfahrungen nach dem Start in München zeigen, dass definitiv ein Bedarf für eine solche Einrichtung hier besteht. Es existiert bereits eine intensive Nachfrage von Personen, die wir in unsere Ambulanz integrieren. Für die Formulierung von Verbesserungspotenzialen ist es meiner Ansicht nach zu früh, da wir gerade erst begonnen haben und die Probleme und Verbesserungsmöglichkeiten sich ja erst im Verlauf deutlicher zeigen werden.

Die Fragen stellte Jodok Müller (BLÄK)

Kontaktdaten

Präventionsambulanz „Kein Täter werden“
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, LMU Klinikum München,
Tel. 089 4400-55055

Hotline-Zeiten:
Montag 9 bis 11 Uhr,
Mittwoch 17 bis 19 Uhr,
Freitag 12 bis 14 Uhr

E-Mail: praevention(at)med.uni-muenchen.de

Weitere Infos gibt es im Internet unter www.kein-taeter-werden.de

 

 

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