Ich habe es schon wieder getan

Africa Mercy

Ich habe über die Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn geschimpft, mich über Smombies (Smartphone-Zombies) auf dem Radweg aufgeregt und beim Blick in meinen Kleiderschrank festgestellt, dass ich nichts zum Anziehen habe. Und das, noch bevor seit meiner Rückkehr aus Guinea, wo die „Africa Mercy“ noch bis Juni 2019 vor Anker liegen wird, ganze zwei Monate vergangen waren.

Die „Africa Mercy“ ist das weltweit größte Hospitalschiff. Sie gehört zu der Hilfsorganisation „Mercy Ships“, welche seit 40 Jahren die Häfen von Ländern anfährt, die Unterstützung bei der medizinischen Behandlung ihrer Bevölkerung gebrauchen können. Dazu gehört auch das westafrikanische Land Guinea, in welchem rechnerisch ein Arzt für mehr als 10.000 Einwohner zuständig ist (im Vergleich: in Deutschland sind es über 34 Ärzte pro 10.000 Einwohner). Auf der Rangliste des Human Development Index der Vereinten Nationen liegt es auf Platz 175 von 189 Ländern. Eine Frau bekommt dort durchschnittlich fünf Kinder, es herrscht eine Arbeitslosigkeit von 60 Prozent.

Mafoudiya liegt mit ihren zwei Jahren noch unter dem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 19 Jahren, aber sie weiß bereits, dass ihr Mund anders aussieht als der, der anderen Kinder. Zum Glück hat sie noch nicht mitbekommen, wie Menschen aus ihrem Dorf sie für böse und verflucht hielten und ihr und ihrer Familie Schimpfworte hinterher riefen. Sie weiß auch nicht, dass ihre Mutter große Sorge hatte, ein leidvolles Leben werde auf ihre Tochter warten und dass ihre Familie nicht genügend Geld für die nötige Operation von Mafoudiyas Lippen-Kiefer-Spalte hatte, die in westlichen Ländern schon innerhalb der ersten Lebensmonate operiert worden wäre. Wahrscheinlich wird sich Mafoudiya später nicht mehr an die Zeit auf der „Africa Mercy“ erinnern, wo sie operiert wurde, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen.

Abbildung 1: Mafoudiya vor und nach ihrer Operation auf der „Africa Mercy“.


Auch an das Narkose-Team wird sie sich nicht erinnern, das sind wir gewohnt. Anders herum erfahre auch ich die berührenden Patienten-Geschichten eher durch Erzählungen der andren Crew-Mitglieder oder von der Internetseite der Organisation, da die meisten Patienten den größten Teil der Zeit mit mir verschlafen. Ähnlich wie im Krankenhaus in Deutschland bin ich als Anästhesistin bei „Mercy Ships“ hauptsächlich für die intraoperative Versorgung der Patienten zuständig, und ähnlich wie zu Hause haben viele Patienten große Angst vor der Narkose. Anders als in München haben die meisten meiner Patienten auf dem Schiff vorher noch nie ein Krankenhaus von innen gesehen. Viele sind davon überzeugt: „Ins Krankenhaus geht man nur zum Sterben“, wie sie es bei Angehörigen oder Bekannten erlebt haben. Nicht selten kommen Patienten mit Krankheitsbildern in einem Ausmaß, wie es bei uns kaum zu sehen ist. Diejenigen, die medizinisch vorbehandelt sind, waren in der Regel bei traditionellen Heilern.

Elektive Operationen

In vier modernen Operationssälen werden auf der „Africa Mercy“ elektive Operationen in verschiedenen Bereichen durchgeführt, darunter Orthopädie, plastische und rekonstruktive Chirurgie, Allgemeinchirurgie, Gynäkologie, HNO, Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, Ophthalmologie und Neurochirurgie, je nachdem, welche Operateure gerade vor Ort sind, was über Monate im Voraus geplant und koordiniert wird. Zudem gibt es eine Zahn-Klinik, ein Palliativ-Team und Weiterbildungs-Teams, die in Dörfern, an Schulen oder in Krankenhäusern über Präventionsmöglichkeiten, Hygiene oder andere Themen sprechen und medizinisches Fachpersonal weiterbilden.
Da das Schiff nur für begrenzte Zeit vor Ort ist und damit nur eine begrenzte Anzahl an Operationen durchgeführt werden kann, wird die Auswahl der Patienten, die zur OP zugelassen werden, sehr streng gehandhabt. Es werden nur Patienten operiert, die sehr gute Chancen auf ein optimales Ergebnis haben. Das heißt, die Behandlung muss bis zur Abreise des Schiffes abgeschlossen sein oder von Ärzten vor Ort fortgeführt werden können. Daher hat beispielsweise die Entfernung benigner Tumore in der Regel Vorrang vor der Behandlung maligner Erkrankungen – eine Entscheidung die für das Screening-Team sehr schwierig, und für Patienten niederschmetternd sein kann. Viele haben nicht nur eine lange Anreise, sondern vor allem erdrückende Leidensgeschichten hinter sich.


Abbildung 2: Vor dem Screening-Center: Da das Schiff nur für zehn Monate im Hafen liegt, kann nur eine begrenzte Anzahl an Patienten operiert werden

Internationale Crew

Um den reibungslosen Ablauf auf einem Hospitalschiff zu gewährleisten, benötigt man neben Krankenhaus-Mitarbeitern noch viele weitere helfende Hände, von der Rezeption bis zur Kantine, vom Captain bis zum Maschinenraum. Auf der „Africa Mercy“ befinden sich durchgehend etwa 400 Crew-Mitglieder aus ca. 40 Nationen. Im Gegensatz zu den Patienten bezahlt die Crew ihren Aufenthalt selbst. Manche bleiben, wie ich, nur wenige Wochen an Bord, andere bleiben für mehrere Jahre. Das Schiff selbst liegt in der Regel für zehn Monate im Hafen des jeweiligen afrikanischen Küstenstaates. Nach zwei Monaten im Trockendock fährt es dann den nächsten Hafen an – ab August 2019 wird es im Senegal sein.



Abbildung 3: Judith Arnold als Teil des internationalen Teams auf der „Africa Mercy“.

Wenig Privatsphäre

Da die Arbeitstage manchmal lang und anstrengend sein können, viele schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen und oft nicht viel Platz für Privatsphäre bleibt, hat sich zudem eine Arbeitsgruppe gebildet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Stimmung der Besatzung in der Höhe zu halten. Besonders durch ihre kulinarischen Ideen wird diese Gruppe auch für die Entwicklung der sogenannten „Mercy Hips“ verantwortlich gemacht, die manche Crew-Mitglieder nach ihrem Aufenthalt, neben bleibenden Erinnerungen und wertvollen Erfahrungen, mit nach Hause bringen. Je nach Sicherheitslage des Landes kann der Feierabend aber auch außerhalb des Schiffes verbracht werden, was in Guinea bei der überwältigenden Gastfreundschaft der Menschen sehr gut möglich ist.
Ehrliche Freunde und Kollegen fragen mich manchmal: Muss man unbedingt nach Afrika gehen, um Gutes zu tun? Diese (offensichtlich rhetorische) Frage kann ich entschieden mit NEIN beantworten. Eine unglaublich wertvolle Erfahrung ist es aber in jedem Fall, in einem internationalen Team arbeiten zu dürfen, das den selben Idealismus teilt und den Menschen vor Ort zeigen zu können, dass sie nicht vergessen werden. Außerdem ist es eine tolle Möglichkeit, wieder frischen Wind in seine Tiraden zu bringen, über Wartezeiten an der Supermarktkasse,  Auf-der-Rolltreppe-links-Steher oder dass der Briefträger das Päckchen schon wieder beim Nachbarn abgegeben hat anstatt zu klingeln.

Autorin
Judith Arnold
Ärztin
81539 München

 

 

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