Hirschfänger

Geweihspitze mit Pilzbewuchs

Anamnese

Ein 50-jähriger helmtragender Motorradfahrer kollidierte mit einem Reh, das die Straße querte. Das Reh flüchtete, der Motorradfahrer wurde vom Notarzt mit dem Meldebild „Kniegelenksfraktur“ als Schockraumpatient eingeliefert. Kontinuierlich stabile kardiopulmonale Situation, GCS von 15; einzige erkennbare Verletzung war eine 16 mm lange, anterolateral am linken Kniegelenk gelegene Platzwunde. Auf der Röntgenkontrolle (Abbildung 1) war eine abgerundete, radiologisch nicht eindeutig zuzuordnende Absprengung, und intraartikuläre Luft zu erkennen, letzterer Befund indizierte die Notfallarthroskopie. 


Abbildung 1: Seitliche Kniegelenksaufnahme in Streckstellung. Auffällig ist die Luftansammlung im Recessus suprapatellaris und eine dreieckige, gering röntgendichte Struktur neben der Patellaspitze auf Höhe des femoropatellaren Gelenksspaltes, die am ehesten einem osteochondralem Abscherfragment entsprechen sollte.

Intraoperativ stellte sich eine furchenähnliche Knorpelläsion am lateralen Femurkondylus und ein Fremdkörper heraus, bei dem es sich um eine abgebrochene Geweihspitze handelte (Abbildung 2). Drei Wochen postoperativ ist der Patient wieder vollständig rehabilitiert und weist ein frei bewegliches, axial voll belastbares Kniegelenk auf. 


Abbildung 2: Geweihspitze, 23 mm lang, mit Pilzbewuchs auch auf der Bruchfläche.

Nach einem intraartikulären Eingriff darf Luft im Gelenk für 24 bis maximal 48 Stunden nachweisbar sein; ein sekundäres Auftreten von Gasblasen, radiologisch oder sonografisch diagnostiziert, ist ein sicheres Infektionszeichen (bubbles mean troubles) [1]. Intraartikuläre Luft nach einer Hautperforation ist gleichbedeutend mit einer Gelenksperforation, die in ihrer Bedeutung einer offenen Fraktur in etwa gleichzusetzen und damit als Notfall-OP-Indikation zu betrachten ist. Die Kultur der Geweihspitze ergab in erster Linie Pilzwachstum (Abbildung 2), die Notfalloperation konnte eine ausreichende Dekontamination des Gelenks erreichen.

Epidemiologie

Die größte Übersichtsarbeit mit 157 Unfällen in zehn Jahren – „The Mayo clinic experience“ [2] – wurde am 17. August 2010 publiziert: Bei direktem Zusammenstoß mit Hirsch- und Rehwild sind Motorradfahrer dreimal öfter involviert als Autofahrer, die häufiger nur tangentiale Zusammenstöße erfahren. Ein Monotrauma wie das hier geschilderte wurde noch nicht beschrieben. In PubMed finden sich am 24. Dezember 2017 unter den Stichworten „motorcycle“, „accident“ und „deer“ nur die ungewöhnlich geringe Zahl von sechs Zitaten. Das New England Journal of Medicine beschäftigte sich 1981 [3] mit Unfällen zwischen Elchen und Motorradfahrern, Nelson [4] berichtete im Neun-Jahreszeitraum für Wisconsin (USA) gut sechs Unfälle pro Jahr, die sich überwiegend in sommerlichen Abendstunden (18 bis 22 Uhr, Juni/Juli) ereigneten. Insgesamt nimmt die Zahl der Wildunfälle in Europa zu. Die Verteilung der Wildunfälle über den Jahresverlauf hängt in erster Linie vom Verhalten der Wildtiere ab, eine jahreszeitliche und erhebliche zirkadiane Abhängigkeit konnte anhand der europaweiten Analyse von 341.655 Wildunfällen zwischen 2002 und 2011 festgestellt werden [5].

Im dichtbesiedelten Deutschland stellen sich die Zahlen vollständig anders dar: Am 7. Dezember 2017 teilten der Deutsche Jäger Verband und der ADAC mit, dass es in einem Jahr 228.000 Wildunfälle mit einer Sachschadenssumme von 682 Millionen Euro gegeben habe. Nach Information des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (11/2017) wurden bundesweit 264.000 Wildunfälle gemeldet, also 720 am Tag bei einer vermutlich fünf Mal höheren Dunkelziffer als bei Kollisionen mit Hase, Fuchs oder Dachs. Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autor

Professor Dr. Michael A. Scherer, Chefarzt für Unfallchirurgie und Orthopädie, Helios Amper-Klinikum Dachau, Krankenhausstraße 15, 85221 Dachau

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