Grado 2022 – mehr als ein Seminarkongress

Grado – Austragungsort des 53. Seminarkongresses vom 28. August bis 2. September 2022

Grado, laut Überlieferung die „Tochter Aquileas und Mutter Venedigs“, („Ricordati, che Grado è figlia di Aquileia e madre di Venezia“) war Austragungsort des traditionsreichen 53. Seminarkongresses, den die Bayerische Landesärztekammer (BLÄK) mit dem Collegium Medicinae Italo-Germanicum (CMIG) und weiteren Partnern vom 28. August bis 2. September organisierte. Was für viele Deutsche die Nord- und Ostsee bedeuten, ist für viele Österreicher und auch Bayern die nördliche Adria: ein ideales Urlaubsziel am östlichen Ende des Golfs von Venedig gelegen. Und so kann es kaum verwundern, dass sich 95 Ärztinnen und Ärzte 2022 auf der „Isola d’oro“ (Goldinsel) fortbildeten und insgesamt 1.382 Fortbildungspunkte sammelten.

Eröffnung

Dr. Gerald Quitterer, BLÄK-Präsident und ärztlicher Kursleiter, begrüßte die Teilnehmenden am Eröffnungsabend und sprach einige aktuelle gesundheitspolitische Punkte an, wie die derzeitige Corona-Politik, die Gesundheitsdatennutzung, die Digitalisierung oder auch das Thema Klimawandel und Hitze. „Wir können in diesem Zusammenhang nicht unpolitisch bleiben. Mein Ziel ist es, alle Fachbereiche auf Klimawandel­spezifische Erkrankungsbilder vorzubereiten“. Die aktuellen Coronaregeln kritisierte Quitterer mit den Worten: „Jetzt auch noch Maskenpflicht in Abhängigkeit von Genesenstatus oder dem Abstand zur letzten Impfung. Das alles schürt Unsicherheiten in der Ärzteschaft und in der Bevölkerung in einer Zeit, in der die gegenseitige Rücksichtnahme an oberster Stelle stehen sollte.“ Zur Datennutzung sagte Quitterer wörtlich: „Um das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis nicht zu gefährden muss auch in Zukunft gelten: Eine Nutzung von sensiblen Informationen durch Dritte sollte nur dann möglich sein, wenn die betroffenen Patientinnen und Patienten der Verwendung dieser Daten, insbesondere für die sogenannte sekundäre Nutzung, beispielsweise für Forschung oder die Erstellung sogenannter digitaler Zwillinge, ausdrücklich und informiert zugestimmt haben.“

Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), griff in seinem Grußwort die Kongressthemen auf, wie beispielsweise Öffentlicher Gesundheitsdienst (ÖGD) und Klimawandel. Auch Rheinhardt kritisierte vor allem die Uneinheitlichkeit der Pandemiepolitik und bewertete das GKV-Stabilisierungsgesetz „als ungeeignet“. Ein „frustrierendes Dauer­thema“ sei überdies die Digitalisierung, und man sei „meilenweit von tragfähigen Lösungen“ entfernt. Schließlich nannte der BÄK-Präsident die aktuelle GOÄ-Situation als „politischen Skandal“.


Abbildung 2: Dr. Gerald Quitterer, BLÄK-Präsident und ärztlicher Kursleiter, begrüßte die knapp hundert Kongressteilnehmerinnen und -Teilnehmer.

Für das CMIG, begrüßte der Vorsitzende Dr. Gottfried von Knoblauch zu Hatzbach und betonte insbesondere die lange Tradition des Kongresses und der CMIG. Und auch der Generalsekretär der World Medical Association (WMA), Dr. ­Otmar Kloiber, grüßte das Auditorium und hob die ­Internationalität der Veranstaltung hervor, bevor Professor Dr. Dr. h. c. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und Mitglied des deutschen Ethikrats, den Eröffnungsvortrag hielt, der mit „Auseinandersetzung mit der Coronapandemie – in medizinisch-psychologischer, ethischer und politischer Sicht“ überschrieben war. Kruse begann seinen Vortrag mit dem weltweiten Umgang von Krisen und Kriegen und ging dann erst auf SARS-CoV-2 ein. Der Gerontologe vermisste einen „klugen und rationalen Umgang“ mit der Pandemie und auch eine gute Kommunikation „im Sinne des Gemeinwohls“, gerade weil das Virus mit einer hohen Infektiosität und einer schwierigen Nosologie aufwarte. Er stellte dem Auditorium einen 4-Ebenen-Ansatz vor und begann mit der personologischen Ebene: Wer zählt zu den vulnerablen, wer zu resilienten Gruppen? Auch die soziologische Ebene dürfe nicht außer Acht gelassen werden: die Frage der Lebenslage. Schließlich gehe es auch um die institutionelle Ebene; insbesondere um die Möglichkeiten des ÖGD. Der politischen Ebene komme eine große Bedeutung zu, speziell mit Blick auf die zentralen demokratischen Fundamente. Kruse sprach hier von „Verantwortungsdiskursen“ und meinte vor allem den Diskus „Freiheit versus Gemeinwohl“. In einer offenen Gesellschaft (K. Popper) benötige man Vertrauen in das demokratische System, in politische Entscheidungsträger und in Institutionen. Klare Kommunikation könne Vertrauen schaffen. Kruse forderte ein „Sondervermögen für die Medizin“, um die Überwindung der Pandemie in Kliniken und Praxen zu bewältigen. Die Coronapandemie habe klargemacht, „wie wichtig das Vertrauen ist, das wir für die Bewältigung der kommenden Herausforderungen benötigen“. Kruse hielt auf dem Kongress einen weiteren viel beachteten Vortrag, der die „Ethische Beratung – Assistierter Suizid“ thematisierte.

Medizinische Fortbildung

Nach der coronabedingten Pause bzw. dem ­Onlineformat in den Jahren 2020 und 2021, holte der renommierte Seminarkongress thematisch weit aus. 19 namhafte Referentinnen und Referenten gestalteten gelebte ärztliche Fortbildung zu Themen wie Notfallversorgung, Seltene Erkrankungen, Kindertraumatologie, Medizin im digitalen Zeitalter der Transformation oder der Öffentliche Gesundheitsdienst – Herausforderungen durch Globalisierung und Klimawandel. Dass gesundheitspolitische Themen nicht zu kurz kamen, dafür sorgten insbesondere die nachmittäglich stattfindenden gesundheitspolitischen Events, mit Themen wie Versorgung im Team – Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen, Health in All Policies, Sicherstellung der ärztlichen Versorgung aus Sicht der KVB oder Neufassung der internationalen Berufsordnung – Verweigerung von ärztlichen Leistungen aus Gewissensgründen. Auch die kritischen Stimmen zur Veranstaltung, Stichwort Nachhaltigkeit und Ökologie, kamen hier zu Wort.

Bei Professor Dr. Peter Sefrin drehte sich thematisch alles um pädiatrische Notfälle, wozu es nicht nur Vorträge gab, sondern auch praktische Einheiten. Respiratorische Notfälle, Sicherstellung der Oxygenation, Reanimation, Analgesie und Vergiftungen lauteten seine Vorträge bzw. Übungen.

Professor Dr. Tiemo Grimm und Dr. Alexandra Berger referierten über Seltene Erkrankungen. In ihrer Vortragsreihe ging es beispielsweise um die Genetik, die Klinik und die Therapie der Spinalen Muskeldystrophie, der Myotonen Dystrophie Typ 1 oder der Hämophilie A und B. Sie stellten dabei auch verlässliche Datenbanken wie OMIM (www.omim.org) und Zentren für Seltene Erkrankungen vor und sprachen den Stellenwert von Patientenorganisationen an. Professorin Dr. Carola Seifart, referierte zu „Ethikberatung im stationären und ambulanten Setting“.


Abbildung 3: Referenten und Veranstalter: Dr. Klaus Reinhardt, BÄK-Präsident, Dr. Gerald Quitterer, BLÄK-Präsident, Dr. Andreas Botzlar, BLÄK-Vizepräsident, Dr. Gottfried Knobloch zu Hatzbach, CMIG, Professor Dr. Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie und Dr. Max Kaplan, CMIG (v. li.).

„Medizin im digitalen Zeitalter der Transformation“ titelten die Vorträge von Dr. Cornelius Weiß (Vorstandsmitglied des BDI), Dr. Jenny Lam, Katia Meusinger (beide Junges Forum BDI). Darin ging es um die Frage, ob wir uns „auf dem Irrweg des Patienten zum Cyborg“ befänden, also um Humanismus vs. Transhumanismus. Diskutiert ­wurde, ob die Überwindung menschlicher Grenzen durch Datenverarbeitung, Tracking, Implantate usw. bevorstände und wir ein „Mischwesen aus biologischem Organismus und Maschine“ kreierten. Ein weiteres Referat hieß „Arbeitsschutz als Treppenwitz“. Hierzu wurden Studien und Umfragen zur Arbeitszufriedenheit und Arbeitssituation junger Ärztinnen und Ärzte präsentiert und interpretiert und die psychische Gesundheit junger Ärzte diskutiert. In „Modern Health – Wieso wir dick, müde und willenlos sind“ zeigten die drei Internisten, wie die Informationstechnologie des 21. Jahrhunderts den Gesundheitssektor ebenso durchdringt wie andere Bereiche der Wirtschaft. Die Potenziale der IT würden noch nicht voll ausgeschöpft oder eben überbewertet. Am Schlusstag präsentierte Weiß „Science around the World“ – unglaubliche Studien zum Lachen und Nachdenken.

Professor Dr. René Gottschalk bestritt den viel beachteten Themenblock „Der Öffentliche Gesundheitsdienst: Herausforderungen durch Globalisierung und Klimawandel. Umweltmedizin, Reisemedizin im Zeitalter der Globalisierung und des Klimawandels“. Auf seinem thematischen Rundgang nahm Gottschalk sein Auditorium mit zu „Flughäfen im Kontext von Epi-/Pandemien“, zu „Emerging Infectious Diseases“, zur „Historie der Impfungen (ohne COVID-19)“ und zum „Öffentlichen Gesundheitsdienst im Kontext von COVID-19“. Es ging dabei um viele Aspekte: Fledermäuse, Reiseverkehr, Infektionswege oder Maskenpflicht. Kindertraumatologie, eine für die D-Arzt-Pflichtfortbildung zertifizierte Veranstaltung von Professor Dr. Peter Strohm ­komplettierte das medizinische Programm.


Abbildung 4: Professor Dr. René Gottschalks Thema: „Reisemedizin im Zeitalter der Globalisierung und des Klimawandels“.


Gesundheits- und Berufspolitik

Gesundheitspolitisch war der Seminarkongress mit hochkarätigen Referenten und Akteurinnen/Akteuren besetzt.

Dr. Gerald Quitterer sprach über die „Versorgung im Team – Kooperation mit anderen Gesundheitsberufen“ und betonte, dass eine Zusammenarbeit mit anderen Fachberufen im Gesundheitswesen geboten sei, aber „als Entlastung für die Ärztinnen und Ärzte, nicht im Sinne einer eigenständigen Ausübung heilkundlicher Maßnahmen anstelle des Arztes. Um die medizinische Versorgung auch in Zukunft flächendeckend zu gewährleisten, braucht es mehr Ärzte, keinen Arztersatz“. Doch der Reihe nach: Für Quitterer resultiere der Anspruch der Patienten aus dem Dienstleistungsvertrag mit dem Arzt aus der persönlichen Leistungserbringung. Dennoch könnten Leistungen delegiert werden, was in den Praxen als Teamversorgung bereits gelebt werde, jedoch von der Politik, die anderen Gesundheitsberufen heilkundliche Maßnahmen übertragen ­möchte, offensichtlich nicht wahrgenommen werde. Der Anspruch anderer Gesundheits­berufe, abgeleitet aus ihrer Bildungsordnung oder einer angestrebten Akademisierung aber auch zu gering wahrgenommener Wertschätzung ihrer bisherigen Tätigkeit, sei enorm. „Doch an eigenständige Berufsangehörige, die in keinem Anstellungsverhältnis bei einem Arzt stehen, können wegen fehlender Weisungsbefugnis keine Leistungen delegiert werden“, so Quitterer. Um zu definieren, was originäre ärztliche Leistungen seien, also der sogenannte Arztvorbehalt, könne man – so Quitterer – auf die Kompetenzen in der Weiterbildungsordnung für Ärzte zurückgreifen. „Der Sicherstellungauftrag und die ärztliche Selbstverwaltung sollen nicht durch andere Versorgungsstrukturen aufgeweicht werden, nur weil die politischen Entscheidungsträger die Voraussetzungen für ein mehr an Ärztinnen und Ärzten durch mehr Studienplätze Medizin, nicht schaffen möchten“, so Quitterer. Die Entlastung von nicht originär ärztlichen Aufgaben sei erforderlich, um eine gemeinsame Patientenversorgung in der Zukunft zu schaffen, jedoch im Sinn eines Miteinanders und einer Aufgabenteilung. Hier sah der BLÄK-Präsident die Möglichkeit der Delegation. Impfungen hingegen seien „gar keine delegierfähige Leistung an Apothekerinnen und Apotheker“: „Dabei brauchen wir auch keine Entlastung“, sagte Quitterer abschließend.

Dr. Klaus Reinhardt – hatte seinen Vortrag mit „Health in All Policies? (HiAP)“ überschrieben. Dieser gesundheitswissenschaftliche und zugleich gesamtgesellschaftliche Politikansatz, der hinter dem HiAP-Konzept liege, sei zwar durchaus vom Begriff her bekannt, dennoch habe sich dieses gesundheitspolitisch sinnvolle Konzept bisher nicht durchsetzen können. Hinter „Gesundheit in allen Politikbereichen zu denken und entsprechend politisch und gesellschaftlich zu handeln, verbirgt sich vor allem ein Gedanke, und zwar der, dass Gesundheit, Prävention und Gesundheitsförderung, aber auch gesundheitliche Versorgung nicht allein Aufgaben des Gesundheitssektors sind, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellen, die in allen Bereichen des öffentlichen Handelns gefördert und verfolgt werden sollte“, so Reinhardt. Der BÄK-Präsident zeigte internationale Erfahrungen und Erfahrungen mit HiAP in Deutschland auf. Schließlich ­stellte Reinhardt die Aktivitäten der BÄK und ihre aktuellen Forderungen vor: „Ein neues Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit bietet tatsächlich hervorragende Möglichkeiten, die vorhandenen strukturellen und inhaltlichen Probleme anzugehen, wenn die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen werden. Dies gilt nicht nur für die aktuelle und die zukünftigen Pandemien, sondern auch für andere drängende Public-Health-Themen“. Das Institut sollte eine gesamtgesellschaftliche Sicht von Gesundheit und Krankheit mit dem Ziel einer HiAP-Strategie haben.


Abbildung 5: Dr. Cornelius Weiß, Vorstandsmitglied BDI, referierte zu „Medizin im digitalen Zeitalter der Transformation“.

„Sicherstellung der ärztlichen Versorgung aus Sicht der KVB“ nannte Dr. Wolfgang Krombholz, Vorsitzender des Vorstands der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) seinen Vortrag. Hierin kritisierte Krombholz insbesondere das Eindringen von Finanzinvestoren in die medizinische Versorgung. Diese bedrohten die verfassungsrechtlich garantierte ärztliche Therapiefreiheit. Vor allem Private-Equity-Gesellschaften hätten in den vergangenen Jahren mit der Übernahme von Krankenhäusern und anderen Einrichtungen die Grundlage geschaffen, um großflächig Vertragsarztsitze zu erwerben, diese in investorengetragenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) zusammenzufassen, auf Rendite zu trimmen und später als Praxisketten mit maximalem Gewinn weiterverkaufen zu können.

Mit „Neufassung der internationalen Berufsordnung – Verweigerung von ärztlichen Leistungen aus Gewissensgründen“, von Dr. Otmar Kloiber ging der gesundheitspolitische Themenblock zu Ende. Die daran anschließende Diskussion, die um die ärztliche Mitwirkung bzw. Verweigerung, beispielsweise bei Schönheitsoperationen oder weiteren nicht lebensnotwendigen Eingriffen und Behandlungen, ging, wurde von Dr. Max Kaplan, Ehrenpräsident der BLÄK, moderiert.

„Grado – più di un‘ isola“ („Grado – mehr als eine Insel“), so wirbt der bekannte Ort an der oberen Adria um seine Gäste. Analog können wir heute formulieren: „Grado – più d‘ un congresso e convegno di medicina“ oder eben „Grado – mehr als ein ärztlicher Seminarkongress“ so Präsident Quitterer abschließend.

Dagmar Nedbal (BLÄK)

 

 

 

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