Gerontopsychiatrie – highlighted

Gerontopsychiatrie
Demenz – Depression – Delir

Die durchschnittliche Lebenserwartung hat in den vergangenen hundert Jahren von 47 auf 83 Jahre (Frauen) und 78 Jahre (Männer) zugenommen. Bis 2060 wird sie sich auf über 89 Jahre (Frauen) und 85 Jahre (Männer) erhöhen [1]. In Deutschland wird die Anzahl Demenzkranker auf 1,2 Millionen geschätzt [2]. Das Risiko an einer Demenz zu erkranken, steigt mit zunehmendem Alter. Datenanalysen lassen ebenso einen Anstieg der Depressionsrate vermuten (4 Prozent bei 20 bis 29-jährigen, 14 Prozent bei 70 bis 79-jährigen) [3, 33]. Auch das Phänomen der Polypharmazie nimmt mit steigendem Alter zu bzw. ist mit dessen Auswirkungen verbunden, insbesondere ab 85 Jahren [4]. Mit zunehmender Lebenserwartung stehen Ärzte einer Patientengruppe gegenüber, die aufgrund ihrer Aetas und Multimorbidität besonderer Kompetenz in Bezug auf gerontopsychiatrische Behandlungsansätze bedarf.

Fall 1: „Die tüttelige Schwiegermutter“

Anamnese

Eine 84-Jährige kommt in Begleitung ihrer Schwiegertochter zum Erstgespräch in unser Memory-Zentrum und berichtet über eine langsam zunehmende Vergesslichkeit seit dem Tod ihres Ehemannes vor fünf Jahren. Jetzt, seit dem plötzlichen Tod ihres älteren Sohnes vor einigen Wochen, leide sie außerdem unter Ein- und Durchschlafstörungen, ihre Stimmung sei deutlich gedrückt und sie fühle sich schwach. Im alltäglichen Leben brauche sie kaum Hilfe, auf Nachfragen berichtet sie, sich jedoch häufig über ihr Tun bei der Schwiegertochter rückzuversichern. Ihr räumliches Orientierungsvermögen sei im Vergleich zu früher „etwas schlechter“. Früher habe sie gerne genäht, das mache sie jetzt nicht mehr. Fremdanamnestisch gibt die Schwiegertochter an, dass sich die Patientin seit einigen Jahren immer öfter zum Beispiel an Arztkontakte oder Terminabsprachen nicht mehr erinnern könne. Sie verlege oder verstecke häufig ihren Schmuck, Geldbeutel oder andere Dinge und finde diese meist alleine nicht wieder. In fremder Umgebung benötige sie Orientierungshilfen. In den vergangenen Jahren habe es wiederholt Phasen von Niedergestimmtheit gegeben, diese seien aber nie behandelt worden. Im Alltag benötige ihre Schwiegermutter inzwischen Unterstützung, zum Beispiel bei der Regelung finanzieller Angelegenheiten, der Vorbereitung ihrer Medikamente oder bei der Planung und Organisation von Terminen. An körperlichen Vorerkrankungen bestehe langjährig ein arterieller Hypertonus.

Diagnostik und Befund

Im psychopathologischen Befund zeigen sich bei der allseits orientierten Patientin eine affektive Niedergestimmtheit mit psychomotorischer Unruhe und Agitiertheit. Im formalen Gedankengang fallen eine Sprunghaftigkeit sowie eine Weitschweifigkeit auf. Es imponieren zudem leichte Merkfähigkeitsstörungen. Im Rahmen der leitliniengerechten, syndromalen und ätiologischen Differenzialdiagnostik [5] wird neben der Eigen- und Fremdanamnese, der klinischen Untersuchung, der Routinelabordiagnostik und kognitiven Screenings, eine ausführliche neuropsychologische Diagnostik, eine weiterführende Labordiagnostik sowie eine zerebrale Bildgebung durchgeführt. Über eine Liquoruntersuchung wird die Patientin im Beisein ihrer Schwiegertochter ausführlich aufgeklärt, sie entscheidet sich aber dagegen. Der neurologische Untersuchungsbefund und das Labor sind unauffällig. Im aktuellen cCT (zerebrale Computertomografie) – eine zerebrale Kernspintomografie (cMRT) wird von der Patientin bei Klaustrophobie nicht gewünscht – zeigt sich eine leichtgradige globale Atrophie sowie eine leicht- bis mittelgradige Mikroangiopathie. In der Elektroenzephalografie (EEG) fällt eine geringe Verlangsamung des Grundrhythmus auf. Die neuropsychologische Leistungsdiagnostik mittels CERAD-Testbatterie und ergänzende Verfahren weisen neben psychomotorischer Verlangsamung, visuellen Wahrnehmungsdefiziten und Beeinträchtigungen im Benennen auf Einbußen im episodischen Gedächtnis hin. Bei der CERAD-Testbatterie (Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease) handelt es sich um ein standardisiertes Instrument zur differenzierteren Erfassung kognitiver Defizite bei Patienten mit Demenz. Diese umfasst die Bereiche Sprache, Orientierung, episodisches Gedächtnis sowie konstruktive Praxis [6]. Aus der Selbstbeurteilung zu affektiven Symptomen GDS (Geriatric Depression Scale) [7] ergeben sich keine Hinweise auf eine klinisch relevante depressive Symptomatik. Bei der Kurzversion der GDS-Skala werden 15 Ja/Nein-Fragen spontan beantwortet, je nach errechneter Punktzahl kann eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit einer vorliegenden Depression gemacht werden (Tabelle 1). Die Fremdbeurteilung zum Alltagsverhalten der Patientin mittels Bayer-ADL-Skala weist auf Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Alltags hin. Die Bayer-ADL-Skala dient insbesondere zur Einschätzung der Alltagskompetenz bei älteren Patienten, die zu Hause leben und unter leicht bis mittelschweren kognitiven Defiziten leiden. Entscheidend ist dabei, dass es sich um eine Fremdbeurteilung handelt und die Fragen somit durch einen nahen, am besten im Haushalt des Betroffenen lebenden Angehörigen, ausgefüllt werden sollten. Das Ergebnis ist als Instrument der Verlaufsbeurteilung besonders hilfreich [8].


Diagnose

In Zusammenschau der Befunde wird die Diagnose eines leichtgradig demenziellen Syndroms vom Alzheimer-Typ, gemischte Form (ICD-10: F00.2) (Tabelle 2) [9] sowie einer Anpassungsstörung nach Tod des Sohnes (ICD-10: F43.2) gestellt. Im Rahmen eines Abschlussgesprächs werden mit der Patientin im Beisein ihrer Schwiegertochter die Diagnose, Therapieoptionen, sinnvolle Verhaltensweisen im Umgang mit der Erkrankung sowie Hilfe- und Unterstützungsangeboten ausführlich besprochen.


Therapie

Gemäß der aktuellen, 2016 überarbeiteten, S3-Leitlinie Demenzen [5] wurden sowohl eine pharmakologische Therapie mit einem Antidementivum als auch psychosoziale Behandlungsmaßnahmen begonnen. Da kardiale Ursachen (QT-Zeit-Verlängerung) einer Behandlung der ersten Wahl mit einem Acetylcholinesterasehemmer entgegenstanden, leiteten wir eine Medikation mit Memantin (Zieldosis 20 mg) ein. Zur Stabilisierung und Leistungssteigerung wird die Patientin in ein wöchentlich stattfindendes, standardisiertes ambulantes Behandlungsprogram „Aktiv+++“ an unserem Memory-Zentrum über mehrere Monate hinweg eingebunden, welches kognitive Stimulation [10] und körperliche Aktivierung beinhaltet. An der parallel zur Behandlung der Patientin stattfindenden Angehörigenschulung will die Schwiegertochter aufgrund ihrer Berufstätigkeit zu einem späteren Zeitpunkt teilnehmen.

Verlauf

Eine im Anschluss an die Behandlungsmaßnahmen durchgeführte Verlaufsuntersuchung (MMST, Mini-Mental-Status-Test) nach etwa sechs Monaten zeigt im Vergleich zur Voruntersuchung tendenziell bessere Leistungen in der visuellen Verarbeitungsgeschwindigkeit, im Wiedererkennen zuvor gelernten verbalen Materials, im logisch-schlussfolgernden Denken, in der Wortflüssigkeit sowie in der Globalbeurteilung kognitiver Kapazitäten. Der MMST dient bei der Demenzdiagnostik als neurokognitive Screening- und Verlaufsuntersuchung. In Interviewform werden über neun verschiedene Bereiche kognitiver Funktionen getestet (zeitliche und räumliche Orientierung, Merk- und Erinnerungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Sprache und Sprachverständnis, Lesen und Schreiben, Zeichnen und Rechnen). Die maximal zu erreichende Punktzahl beträgt 30. Anhand der vom Patienten erreichten Punkte kann eine erste Einschätzung getroffen werden, ob und in welchem Ausmaß eine kognitive Einschränkung wahrscheinlich ist, zudem kann der Test als besonders schnell durchführbares Instrument in der Verlaufskontrolle verwendet werden [11]. Tendenziell schlechtere Leistungen erzielt die Patientin im verbalen Arbeitsgedächtnis und in der verbalen Lern- und Merkfähigkeit, wobei insbesondere in den ersten beiden Lerndurchgängen erhebliche Aufmerksamkeits- und Konzentrationseinbußen zu beobachten sind. Aus der Fremdbeurteilung zum Alltagsverhalten der Patientin (Bayer-ADL-Skala) [8] resultiert ein stabiles Ergebnis (Abbildung 1).


Abbildung 1: Abbildung 1: Neuropsychologische Anfangs- und Verlaufsuntersuchung der 84-jährigen Patientin mit Alzheimer-Demenz vor (Prätestung: 7. Dezember 2018) und nach (Posttestung: 17. Juni 2019) Teilnahme an einer wöchentlich stattfindenden, mehrmonatigen psychosozialen Intervention.

Demenzielles Syndrom

In dem hier aufgeführten Fallbeispiel zeigt sich, dass die Durchführung leitliniengerechter Dia­gnostik bei kognitiven Einbußen im höheren Alter zu einer verlässlichen Diagnose eines demenziellen Syndroms führen kann. Die durch die Diagnose indizierte Behandlung, bestehend aus psychopharmakologischen und psychosozialen Maßnahmen, trägt zur Stabilisierung der demenziellen Symptomatik bei. Der Patientin wurde die Fortführung der medikamentösen antidementiven Therapie sowie der psychosozialen Behandlungsmaßnahmen empfohlen.

Notiert

» Eine differenzierte, leitliniengerechte Diagnostik in der Demenzabklärung führt meist zur Diagnose.
» Die Verwendung standardisierter Tests inklusive Fremdbeurteilungsbögen ermöglicht eine valide Verlaufsbeurteilung.
» Eine Einbeziehung und Psychoedukation der Angehörigen soll so früh wie möglich erfolgen.

Fall 2: „Wird mein Mann dement?“ Wenn die Psyche verrückt spielt Anamnese

Ein 75-jähriger Patient stellt sich in Begleitung seiner Ehefrau in unserer PIA (psychiatrische Ins-titutsambulanz) vor. Er berichtet, er leide unter motorischer, nächtlicher Unruhe mit permanent bestehenden Missempfindungen und konsekutiven Schlafstörungen. Die Ehefrau ergänzt, dass ihr Mann darüber hinaus nachts verwirrt, ängstlich und getrieben sei und in der Wohnung umherlaufe. Zudem fühle er sich beobachtet und bestohlen. Insgesamt sei er von der Stimmung niedergedrückt und habe wenig Antrieb und Motivation. Die Ehefrau ist sehr besorgt, ihr Mann könne sich etwas antun. Der Patient befürchtet, an Alzheimer-Demenz erkrankt zu sein und habe in diesem Zusammenhang akute Suizidgedanken geäußert.

Im Vorfeld des Ambulanztermins waren die Diagnosen eines Restless-legs-Syndroms sowie einer leichtgradigen Polyneuropathie gestellt worden. Wegen erstgenannter Diagnose besteht eine Behandlung mit Rotigotin, einem Dopaminrezeptor-Agonisten, der neben der Behandlung des idiopathischen Parkinson-Syndroms auch zur Behandlung des Restless-legs-Syndroms eingesetzt wird und Levodopa/Benserazid. Eine passagere Therapie mit Gabapentin und Tilidin zur Besserung der Missempfindungen habe zu keinem Erfolg geführt. Aufgrund der depressiven Symptomatik sei Escitalopram ergänzt worden.

Diagnostik und Befund

Psychopathologisch zeigt sich der Patient zu allen Qualitäten orientiert. Im interpersonellen Kontakt ist er hilfesuchend und klagsam. Seine mnestischen Funktionen sind intakt. Der formale Gedankengang ist verlangsamt. Es fallen wahnhafte Symptome in Form von Verfolgungs-, Bestehlungs- und Verarmungsideen bei ausgeprägter depressiver Affektivität auf. Die Schwingungsfähigkeit ist reduziert. Psychomotorik und Antrieb imponieren vermindert. Es bestehen akute Suizidgedanken.

In der zerebralen Bildgebung mittels cCT findet sich ein altersentsprechender Befund. Ebenso ergeben sich in der Routinelabordiagnostik keine wegweisenden Befunde. In der Elektroenzephalografie (EEG) in Ruhe zeigt sich ein regelrechtes alpha-EEG. Im neurokognitiven Screening ergeben sich keine Hinweise auf eine demenzielle Entwicklung.

Diagnose

In Zusammenschau der Befunde mit depressiv-klagsamen Affekt, verminderter Schwingungsfähigkeit, reduziertem Antrieb und wahnhafter Begleitsymptomatik sowie regelrechter zerebraler Bildgebung und unauffälliger neurokognitiver Testung ist somit die Diagnose einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen zu stellen (ICD-10: F32.2).

Therapie

Aufgrund der Suizidalität erfolgte die stationäre Aufnahme. Wegen der unter antidepressiver Therapie persistierenden depressiven Symptomatik, verordnen wir anstelle des Escitaloprams das duale (serotonerg und noradrenerg wirksame) Antidepressivum Venlafaxin, worunter sich im Verlauf einerseits die depressive Affektlage bessert, andererseits die Missempfindungen als wesentlich erträglicher gewertet werden. Bei anhaltenden wahnhaften Symptomen wird die dopaminerge Therapie mit Rotigotin und Levodopa beendet, die psychotische Symptomatik nimmt danach spürbar ab. Trotz Zunahme des nächtlichen Bewegungsdranges nach Absetzen von Rotigotin und Levodopa wird die Medikation um 0,5 mg Risperidon zur Nacht erweitert, um die wahnhafte Begleitsymptomatik gänzlich einzudämmen.

Verlauf

Der Patient wirkt hierunter im Verlauf deutlich entlastet, wahnhaftes Erleben oder Suizidalität lässt sich nicht mehr eruieren, die psychomotorische Unruhe nimmt ab und der Bewegungsdrang wird nach eigenen Angaben nicht mehr als relevant empfunden.

Die medikamentöse Einstellung gestaltet sich hier aufgrund der Komorbiditäten schwierig. Durch die dopaminerge Therapie des Restless-legs-Syndroms hat sich zwar der Bewegungsdrang initial vermindert, es verstärkt sich dafür aber die wahnhafte Komponente. Die wahnhaften Symptome können wiederum durch die antipsychotische Therapie mit Risperidon beherrscht werden, diese erhöht im Gegenzug jedoch durch ihren antidopaminergen Effekt den Bewegungsdrang, der jedoch aufgrund der minimalen Dosis von Risperidon nicht deutlich zunahm. Die Besserung der depressiven Symptomatik sowie die Remission der psychotischen Begleitsymptomatik wirken sich schließlich bei unserem Fall mit zuletzt gut stabilisiertem psychischem Zustand, positiv auf die Restless-legs-Symptomatik und die polyneuropathisch bedingten Parästhesien aus.

Depression

Die Lebenszeitprävalenz für eine Depression, egal welcher Form, liegt in Deutschland wie international bei 16 bis 20 Prozent [12, 13]. Frauen in Deutschland haben mit einer Zwölfmonatsprävalenz für eine unipolare Depression von 10,6 Prozent ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko wie Männer [14]. Auch wenn wiederholt diskutiert wird, ob dieses Geschlechterphänomen nicht zum Beispiel auf einer unzureichenden Diagnosestellung bei Männern oder an einem invalidem Diagnosesystem liegen könnte, kann entsprechend den bisherigen Daten von einem deutlichen Überwiegen der Depression beim weiblichen Geschlecht ausgegangen werden. Das Depressionsrisiko steigt ferner beim älteren Menschen mit körperlichen Komorbiditäten an [3]. Im Hinblick auf die Gesundung scheint das Alter alleine die Prognose jedoch nicht zu beeinflussen, hier spielen das Vorhandensein eines Partners, ein stützendes soziales Umfeld, psychische und somatische Komorbiditäten die entscheidende Rolle [15 bis 19]. Die Differenzierung zwischen den Symptomen somatischer Erkrankungen und den Beschwerden der Depression stellt eine schwierige Aufgabe dar [20] – insbesondere, wenn wie in diesem Fall aufgrund der berichteten Verwirrtheit, differenzialdiagnostisch eine Demenz von einer sogenannten „depressiogenen Pseudodemenz“ abzugrenzen ist (Tabelle 3) [21]. Hierbei ist auch zu beachten, dass Patienten, die an einer Depression leiden, ein doppelt so hohes Risiko besitzen, im Laufe ihres Lebens an einer Alzheimer-Demenz zu erkranken [22].


Die Depressionsbehandlung hat ein großes Spektrum, das von „watchfulwaiting“ bis zur Elektrokrampf-Therapie reicht. Mit jedem Patienten muss somit individuell ein Therapiekonzept vereinbart und dieses regelmäßig reevaluiert und gegebenenfalls angepasst werden.

Notiert

» Komorbiditäten erschweren die Depres­sionsbehandlung älterer Patienten, weswegen vor Medikationsbeginn Interaktionen, Wechselwirkungen und mögliche Verschlechterungen anderer Erkrankungen mittels Risiko-Nutzen-Abwägung bedacht werden müssen.
» Eine Demenz und eine „Pseudodemenz“ lassen sich oft bereits durch Anamnese und klinische Befunderhebung unterscheiden.

Fall 3: Der verwirrte Nachbar

Anamnese

Ein 64-Jähriger (ledig, alleinlebend, Rentner) wird nach Wohnungsöffnung verwirrt und verwahrlost in die Klinik gebracht. Der Betroffene ist desorientiert, situationsverkennend und psychomotorisch unruhig. Eine Eigenanamnese ist nicht erhebbar, fremdanamnestisch lässt sich eruieren, dass der Betroffene seit mehreren Monaten zunehmend Alltagskompetenz und Gedächtnisleistung verloren habe.

Diagnostik und Befunde

Ein fokal-neurologisches Defizit findet sich in der körperlichen Untersuchung nicht. Der Betroffene ist in der Vigilanz schwankend, situationsverkennend und kann keinerlei Aufgaben selbst übernehmen. Aufforderungen befolgt er nicht, es besteht eine Harn- und Stuhlinkontinenz und fremdaggressives Verhalten.

Die Laboruntersuchungen mit Blutbild, Gerinnung, Elektrolyten, TSH basal, Leber- und Nierenwerten, Blutfetten, HBA1c sowie CRP, Creatinkinase und Troponin I sind normwertig. Ein Infektfokus findet sich nicht. Die Serologie für TPHA, HIV und Hepatitis C ist negativ, für Hepatitis B zeigt sich die Konstellation einer abgelaufenen, ausgeheilten Infektion. Im nativen cCT lässt sich keine akute Affektion nachweisen, auffällig ist jedoch eine ausgeprägte symmetrische, fronto-temporal betonte Atrophie (Abbildungen 2, 3 und 4). Nach notfallmäßiger Lumbalpunktion ist der Liquorstatus bei regelrechter Zellzahl ohne wegweisenden Befund. Die Proteine 14 bis 33 sind negativ, es findet sich jedoch eine Erhöhung der Tau-Proteine mit einem Alpha-Tau von 784 pg/ml bei einem Referenzbereich von < 605 und einem p-Tau-Protein von 92,6 pg/ml bei einem Referenzbereich von < 61 bei gleichzeitig erniedrigtem ß-Amyloid-Quotienten (42/40) (x10) von 0,49 bei einem Referenzbereich von > 0,6. Eine Erhöhung der Tau-Proteine (Gesamt-Tau) ist ein Zeichen eines neurodegenerativen Prozesses. Bei der Alzheimer-Demenz kommt es durch eine fehlerhafte Hyperphosphorilierung (p-Tau-Protein, Phospho-Tau-Protein) zur intrazellulären Ablagerung der Tau-Proteine und somit zum Zelluntergang. Amyloid-Beta 42 und 40 gelten als neurotoxisch und sind Peptide, die extrazellulär akkumulieren und die senilen Plaques bei der Alzheimer-Erkrankung darstellen. Durch die Aggregatbildung kommt es bei der Alzheimer-Demenz zu einer Erniedrigung der gemessenen Peptide.

 


Abbildung 2: Zerebrale Computertomografie nativ, transversale Schichtung. Frontotemporal betonte Atrophie bei 71-jähriger Patientin mit Alzheimer-Demenz.

Diagnose

In Zusammenschau der Befunde ist somit die Diagnose eines Delirs bei Alzheimer-Demenz mit frühem Beginn zu stellen (ICD-10: F05.1; F00.0). Für das Delir typisch ist die akute Verschlechterung, des sich bis dahin selbst versorgenden Patienten sowie der fluktuierende Verlauf mit Störungen von Bewusstsein, Aufmerksamkeit und Orientierung. Als wahrscheinlicher Auslöser ist die Exsikkose zu sehen, wobei die vorbestehende demenzielle Erkrankung in unserem Fallbeispiel als entscheidender Risikofaktor zur Entwicklung eines manifesten Delirs zu sehen ist. Die Diagnose einer Alzheimer-Demenz lässt sich insbesondere anhand des klinischen Bildes nach Abklingen des akuten Delirs, der zerebralen Bildgebung, des Befundes der Neurodegenerationsmarker im Liquor sowie des fremdanamnestisch berichteten klinischen und zeitlichen Krankheitsverlaufs im Vorfeld stellen.

Therapie

Wir behandeln strukturierend, sedierend und entaktualisierend mit Risperidon und Lorazepam. Zunächst müssen nach der Diagnosefindung auslösende Faktoren identifiziert und im Idealfall kausal behandelt werden. Ein Beispiel wäre eine leitliniengerechte antibiotische Behandlung eines Infektes, der Ausgleich eines Flüssigkeitsmangels oder einer Elektrolytentgleisung. Der Patient war initial exsikkiert, sodass umgehend eine intravenöse Flüssigkeitssubstitution eingeleitet wurde. Medikamentös rücken in der Behandlung bei älteren Patienten neben dem klassischerweise eingesetzten, auch international in der Literatur immer noch als „Goldstandard“ gewerteten, niedrig dosierten Haloperidol zum Teil auch atypische Neuroleptika wie unter anderem Risperidon, Quetiapin, und Olanzapin in den Vordergrund. Diskutiert wird hier eine gleichwertige Wirkung bei günstigerem Nebenwirkungsprofil, zum Beispiel weniger das extrapyramidalmotorische System (EPMS) betreffend [24, 25]. Benzodiazepine hingegen sollten nur im konkreten Bedarfsfall eingesetzt werden (Sedativa-Entzug, Anfälle, Agitation) [23, 24, 25]. Ergänzend sollten flankierende Therapieansätze wie zum Beispiel Stressreduktion, Orientierungshilfen und Einbindung von Angehörigen genutzt werden (Tabelle 4).

Verlauf

Nach langwierigem und schwierigem Behandlungsverlauf gelang es, den Patienten wieder zu remobilisieren. Die führende medikamentöse Behandlung bestand aus Antipsychotika (Risperidon) und zu Beginn des Aufenthaltes aus Lorazepam bei ausgeprägter Unruhe und Agitation. Der Patient war zuletzt selbstständig auf Stationsebene mobil. Psychopathologisch verblieb jedoch eine vollständige Desorientierung, weswegen die Entlassung in eine beschützte Einrichtung erfolgen musste.

Delir

Patienten im höheren Lebensalter sind besonders gefährdet, ein Delir zu entwickeln [23, 26, 27, 28]. Die Prävalenz des Delirs beim älteren, hospitalisierten Patienten liegt bei bis zu 50 Prozent [29]. Der Hauptrisikofaktor für ein Delir stellt das primäre Vorhandensein einer demenziellen Erkrankung dar (Tabelle 5) [26 bis 30].

Patienten mit Demenz haben im Anschluss an ein Delir ein 33-prozentiges Risiko, langfristig in einer Einrichtung untergebracht werden zu müssen, wobei nur 20 Prozent der Delirpatienten ohne vordiagnostizierte Demenz hiervon betroffen sind [31]. Das klinische Bild des Delirs ist sehr variabel und oft schwierig von einer Demenz abzugrenzen. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist der akute Beginn des Delirs, im Vergleich zu dem schleichenden Beginn einer demenziellen Entwicklung. Delir­typisch sind zudem Fluktuationen der Symptome, die üblicherweise in Frequenz und Ausmaß die Schwankungen bei einer Demenz übertreffen [5]. Ein Delir kann sowohl hyper- (fünf Prozent) als auch hypoaktiv (30 Prozent) sein, Mischformen (65 Prozent) werden laut Literatur am häufigsten beobachtet [26, 32].

Notiert

» Ein Delir ist bei älteren Patienten häufig und sollte insbesondere im stationären Rahmen bei Zustandsverschlechterung differenzialdiagnostisch bedacht werden.
» Als Erstes sollte nach Diagnosestellung eines Delirs eine Überprüfung der aktuellen Medikation sowie eine Ursachensuche und -behandlung erfolgen.
» Delirien sind lebensbedrohlich und müssen als ernstzunehmende, eigenständige Krankheitsbilder gesehen werden.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Autoren 


Dr. Katharina Grobholz

 
Dr. rer. biol. hum. Verena Buschert

 
Dr. Alexander Kuss

 
Privatdozent Dr. Jens Benninghoff

Zentrum für Altersmedizin und Entwicklungsstörungen, kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost, Vockestraße 72, 85540 Haar

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