Forderungskatalog an die neue Bayerische Staatsregierung

Dr. Gerald Quitterer

Statement zur Eröffnung des 82. Bayerischen Ärztinnen- und Ärztetages
Hört man in die aktuellen Debatten unserer Tage hinein, kann man den Eindruck gewinnen, wir lebten in einer Zeit, in der die Krisenmomente in immer dichterer Taktung folgen. Entwicklungen wie der neue Nahost-Konflikt, der Ukraine-Krieg, einbrechende Lieferketten bei Arzneimitteln, beispielsweise Asthmamedikamente, Energie-­Engpässe, steigende Inflation oder auch die Klimaveränderungen mit weltweiten Wetterextremen, ein Beispiel: das Delphin­sterben im Amazonas wegen zunehmender Wassertemperaturen, aber auch die Digitalisierung und der Einsatz von KI, was zu disruptiven Entwicklungen, auch in der medizinischen Versorgung, führen kann, zeigt uns schmerzlich auf, dass die Dynamik des Wandels zunimmt – und damit auch die Konjunktur des Begriffs „Krise“. Diese Entwicklungen führen jedenfalls zu der Wahrnehmung, dass auch die Unsicherheiten in unserer Gesellschaft größer werden. Wobei in der chinesischen Sprache sich das Wort „Krise“ aus zwei Schriftzeichen zusammensetzt, von denen das eine „Gefahr“ und das andere „Gelegenheit“ darstellt. Der Blick sollte auch auf die „Gelegenheiten/Chancen“ gerichtet werden. Vieles ist derzeit im Umbruch und verlangt neue Lösungen. Die ärztliche Selbstverwaltung ist davon nicht ausgenommen, auch sie muss immer wieder neu justiert und gegenüber politischem Kalkül und kommerziellen Interessen verteidigt werden. Nur so können wir unseren Auftrag in einer sich permanent wandelnden Welt dauerhaft erfüllen und insoweit zukunftsfest sein.

Bundesgesetzgebung in dichter Taktung

Eine immer dichtere Taktung – das trifft auch auf die Gesetzgebung aus dem Haus des Bundesgesundheitsministeriums zu, wobei sich die Qualität der Patientenversorgung oder der ­Arbeits- und Rahmenbedingungen für uns tätige Ärztinnen und Ärzte nicht verbessert. Im Gegenteil. Der Arztberuf ist durch zahlreiche Gesetze und Normen reglementiert, damit wird die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung auf hohem Niveau gesichert. Das gibt der Politik jedoch keinen Freifahrtschein, uns mit jedem Gesetz neue, zusätzliche Vorgaben zu machen, und uns mit Bürokratie zu überziehen ohne die ­Reflektion, ob diese tatsächlich eine Verbesserung der Rahmenbedingungen darstellt, unter der wir Ärztinnen und Ärzte arbeiten können. Gleichzeitig möchte man mit der Übertragung von Heilkunde an nichtärztliche Fachberufe deren Attraktivität steigern – während uns die notwendigen universitären Medizin-Studienplätze weiterhin fehlen.

Forderungen für den neuen Koalitionsvertrag

Die Wahl in Bayern liegt erst wenige Tage zurück, nun wollen CSU und Freie Wähler über die künftige Regierung verhandeln. Trotz offenkundiger Divergenzen haben sich beide Parteien gestern offiziell auf den Start ihrer Koalitionsverhandlungen verständigt. Hier an dieser Stelle, auf dem Bayerischen Ärztinnen- und Ärztetag, stelle ich wohlüberlegte Forderungen zur Aufnahme in den neuen Koalitionsvertrag. Wir brauchen ein klares Bekenntnis für unseren Berufsstand. Wir sind keine Mediziner, wir sind Ärztinnen und Ärzte. Wir brauchen eine eindeutige Positionierung zur Unterstützung der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte. Das habe ich im Wahlkampf weitgehend vermisst.

Krankenhausreform

Die stationäre Versorgung und die Krankenhäuser sind ganz klar ein wesentlicher Teil der Daseinsvorsorge, und von daher ist es geboten, zügig geeignete Reformen umzusetzen. Wir wollen uns daran beteiligen, bezieht uns ein! Die geplante Einführung einer Vorhaltevergütung für die Kliniken ist wichtig. Dadurch können Krankenhausstrukturen künftig unabhängig von der Leistungserbringung bereitgestellt werden. Keine gute Idee ist es, die Fallpauschalen zugunsten einer Vorhaltevergütung abzusenken. Auf ­diese Weise wirken Fehlanreize weiter, die schon bisher zu einer massiven Schieflage in unserem Gesundheitssystem geführt haben. Wichtig ist mir, dass die Länderkompetenzen in der Krankenhausplanung erhalten werden. Gerade in einem Flächenstaat wie Bayern, benötigen wir eine funktionierende Krankenhauslandschaft. Der Berufsalltag der Ärztinnen und Ärzte in den Krankenhäusern ist bereits heute von einer stetigen Arbeitsverdichtung geprägt. Auch hier verschenken wir einen erheblichen Teil wertvolle Arbeitszeit, die uns in der Patientenversorgung fehlt an Verwaltungstätigkeiten wie Datenerfassung und Dokumentation. Das muss sich dringend ändern!

Gleichermaßen brauchen wir eine Stärkung und Weiterentwicklung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, insbesondere zur besseren Vorbereitung auf Pandemien und gesundheitliche Notlagen. Dabei reichen die Maßnahmen, die im Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst auf den Weg gebracht wurden nicht aus. Wichtig ist vor allem eine nachhaltige und dauerhafte Verbesserung der Personalsituation.


Dr. Maria E. Fick, ehemalige 2. Vizepräsidentin der BLÄK, Dr. Max Kaplan, Ehrenpräsident der BLÄK, und Dr. Martin Breckner, 1. Vorsitzender des Ärztlichen Kreisverbandes Landshut (v. li.).

Niedergelassene stärken

Wir Ärztinnen und Ärzte im ambulanten Bereich sind Pfeiler der Versorgung, unsere Praxen sind Weiterbildungsstätten und die Förderung der Selbstständigkeit als tragende Säule in der Wirtschaft – wir sind auch Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber unter anderem für mehr als 76.000 Medizinische Fachangestellte – ist mehr als geboten. Im haus- und fachärztlichen Bereich finden wir keine Nachfolgerinnen und Nachfolger für die Praxen, weil die Rahmenbedingungen nicht mehr passen. Es besteht ein Ungleichgewicht zwischen Aufwand und Ertrag, überbordender Bürokratie und dem Zwang zur Anwendung einer dysfunktionalen Telematik-Infrastruktur mit Androhung von Strafzahlungen. Nun hat der Bundesrechnungshof jüngst einen Prüfbericht vorgelegt, in dem er auch noch die Streichung des kompletten Terminservice- und Versorgungsgesetzes (TSVG) fordert. Die dort verankerten und mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz teilweise ­modifizierten extrabudgetären Leistungen sollten entfallen. Damit wird die berechtigte Forderung der Praxen nach vollständiger Vergütung der erbrachten Leistungen in Frage gestellt, obwohl das TSVG dies gerade gefordert hatte. Das ist ein Angriff auf die ambulante Versorgung! In diesem Zusammenhang möchte ich die bisherige Positionierung zur Begrenzung der investorenbetriebenen Medizinischen Versorgungszentren (iMVZ) unterstützen!

Entbürokratisierung

Eine essenzielle Forderung an die neue Bayerische Staatsregierung ist die Entbürokratisierung. Für den zunehmenden Bürokratiedschungel in den Praxen nenne ich nur die neuen Vorgaben zur Erfassung von Patientendaten. In didaktisch und semantisch interoperabler Form (das lasse man sich einmal auf der Zunge zergehen) sollen diese aufbereitet und eingegeben werden, was für die Praxen einen exponentiellen Zuwachs an Bürokratie bedeuten würde. Entbürokratisierung heißt für mich nicht, darüber nachzudenken, welche ärztlichen Leistungen andere Gesundheitsfachberufe übernehmen könnten (Substitution). Nein, sondern vielmehr, an welcher Stelle im ­Behandlungsprozess wir Ärztinnen und Ärzte von Bürokratie entlastet werden können, damit wir wieder mehr Zeit für unsere ärztliche Tätigkeit und die Versorgung am Patienten haben! Auch eine Patientensteuerung gehört in meinen Forderungskatalog. Es muss wieder ein Einklang von überbordender Inanspruchnahme und schwindenden Ressourcen hergestellt werden, eine der großen Herausforderungen der Zukunft. Derzeit stellen wir fest, dass ein ungesteuerter Zugang zum Gesundheitswesen dieses solidarisch finanzierte System an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit bringt: Jeder zu jeder Zeit überall von jedem alles – dieser Anspruch muss auf den Prüfstand! Eine strukturierte medizinische Ersteinschätzung der Behandlungsanliegen und eine Lenkung an den richtigen Behandlungsort ist gerade in den Notaufnahmen der Krankenhäuser unter Einbeziehung der Niedergelassenen dringend notwendig. Hier sollen Digitalisierung und Algorithmen helfen.

Digitalisierung

Womit wir beim Stichwort Digitalisierung angekommen wären. Neben einer transparenten Umsetzung und hohen Standards beim Datenschutz sind fein differenziertere Widerspruchsmöglichkeiten unerlässlich. Eine granulare Einwilligung zur elektronischen Patientenakte muss barrierefrei möglich sein! Dies steht für die Freiheit und die Verantwortung in der ärztlichen ­Profession und damit für aktiven Patientenschutz. Das System muss für Ärztinnen und Ärzte und alle anderen Akteure in der Versorgung praktikabel bleiben und eine gemeinwohlorientierte Nutzung der Daten muss definiert werden. Digitale Anwendungen müssen uns und unsere Mitarbeitenden sinnvoll unterstützen und entlasten, damit wieder mehr Zeit für Diagnostik und ­Behandlung bleibt. Keinesfalls darf eintreten, dass Krankenkassen künftig auf der Basis von Abrechnungsdaten versichertenindividuelle Auswertungen durchführen, um so unmittelbar in die Patienten­behandlung eingreifen zu können. Dies würde Patientinnen und Patienten ebenso verunsichern wie deren behandelnde Ärztinnen und Ärzte. So etwas gefährdet das vertrauensvolle Arzt-Patienten-Verhältnis!

Arzneimittelengpässe

Ein weiteres drängendes Problem unserer Zeit zeigt sich im Arzneimittelsektor mit dem Fehlen wichtiger Arzneimittel, was sich im kommenden Herbst und Winter noch verstärken dürfte. Ich warne davor, die Arzneimittelversorgung in wenigen Händen zu konzentrieren, was zu starken Abhängigkeiten führt. Ich fordere deshalb die neue Staatsregierung auf, sich für eine Rückverlagerung der Produktion von kritischen Arzneimitteln nach Europa, ausgerichtet auf Nachhaltigkeit und Klimaneutralität, sowie einen Ausbau der Lagerhaltung einzusetzen. Auch die umweltschonende Verpackung von Arzneimitteln muss angegangen werden. Die Zeit für die Einführung eines „Fair-Trade-Gütesiegels“ ist reif!

Kindergesundheit

Viel gäbe es zu sagen zu Kindergesundheit und Gesundheitskompetenz. Ich plädiere hier wiederholt und eindringlich für eine frühzeitige Stärkung der Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen in Kindergärten und Schulen durch Aufnahme entsprechender Bildungsinhalte in die Lehrpläne. Vor allem durch Förderung gesunder Ernährung und von Bewegung kann auf diese Weise gesundheitsbewusstes Verhalten und damit eine wirksame Krankheitsprävention erreicht werden. Auch das zunehmende Suchtverhalten von Kindern und Jugendlichen, vor allem bei der Nutzung digitaler Medien, muss in den Blick genommen werden. Neben der Einrichtung eines Kinderbeauftragten in Bayern bin ich dafür, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen (und damit die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen umzusetzen), damit Kinder nicht Spielball von politischen Interessen, wie beispielsweise der Streichung des Rauchverbotes im Auto, werden. Und darüber hinaus braucht es eine stärkere Sensibilisierung der Bevölkerung zum Umgang mit Herausforderungen des Alltags und der sich verändernden Umwelt, wie Schutz vor Hitze oder vor neuen Erkrankungen. Dazu zählt der verantwortliche Umgang mit der eigenen Gesundheit und der der Mitmenschen. Gerade zu Beginn einer neuen Infektwelle ist es deshalb nötig, durch rücksichtvolles Handeln der Verbreitung von Krankheiten entgegenzuwirken. Auch künftige Umweltbelastungen können wir nur auf diese Weise meistern. Auch hier appelliere ich an die neue Staatsregierung, entsprechende Programme zusammen mit uns, der Ärzteschaft, zu entwickeln und umzusetzen.

Klimawandel und Gesundheit

Womit wir beim Thema Umwelt, Klimawandel und Gesundheit angelangt sind. Wir brauchen eine enkeltaugliche Gesundheitspolitik – das habe ich bereits mehrmals betont. Dazu gehört neben dem Ausbau der Prävention auch der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen. Gesundheitsschutz für die Zukunft bedeutet deshalb nicht nur weiterhin ein aktives Bekenntnis der neuen Bayerischen Staatsregierung zum Umweltschutz und zur Bekämpfung des Klimawandels, insbesondere unter dem Aspekt auf die Auswirkungen für die Gesundheit, sondern auch die Umsetzung bestehender und noch zu vereinbarender Ziele im Sinne von „Health in all policies“. Deshalb muss in diesem Zusammenhang auch das von der WHO 2010 geforderte Menschenrecht auf Wasser bei uns gesetzlich verankert werden. Daher auch Ja zur Düngeverordnung!

Last but not least: Ich werde nicht müde, mehr Studienplätze für Medizin an staatlichen Universitäten anzumahnen. Auch für die Umsetzung der neuen Approbationsordnung muss sich eine künftige Bayerische Gesundheitsministerin oder -minister im Bund einsetzen!

Schließen möchte ich die Ausführungen zu meinem Wunsch- oder Forderungskatalog an die Bayerische Staatsregierung mit der Personalfrage. In den vergangenen Tagen haben mich viele Kolleginnen und Kollegen aber auch ­Medienschaffende gefragt: Wer folgt auf Klaus Holetschek? Wer wird die neue Ministerin oder der neue Gesundheitsminister? Sehr verehrte Damen und Herren: Ich weiß es nicht. Die Persönlichkeit sollte jedoch Kompetenz und Leidenschaft für die gesundheitlichen Angelegenheiten in unserem Land mitbringen und die Vorhaben, die wir in Bayern teilweise bereits auf einen guten Weg gebracht haben, fortführen. Mit uns gemeinsam und mit der nötigen Wertschätzung für uns Ärztinnen und Ärzte. Meine Bereitschaft für eine konstruktive Zusammenarbeit sichere ich jedenfalls zu!

Wir können Krise!

In diesem Sinn ist der 82. Bayerische Ärztinnen- und Ärztetag eröffnet. Es gilt das gesprochene Wort!

 

 

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