Drei Highlights aus der Toxikologie

Toxikologie

Akute Vergiftungen sind für etwa fünf bis zehn Prozent der Notarzteinsätze in Deutschland verantwortlich. Die Giftnotruf- oder Giftinformationszentralen sind für akute Vergiftungsfälle 24 Stunden unter der Nummer 19240 (plus Ortsvorwahl) erreichbar, zum Beispiel der Giftnotruf München, Abteilung für Klinische Toxikologie Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München unter 089 19240.

Ein wichtiger Bestandteil der Abteilung und eine vom Freistaat Bayern benannte Institution ist der Giftnotruf München, der im Jahr 2016 knapp 36.000 Anfragen zu etwa 42.000 Giftstoffen beraten hat. Auf das Bundesgebiet bezogen lassen sich jährlich ca. 210.000 Humanexpositionen schätzen. Die häufigsten Noxen sind hierbei pharmazeutische Produkte, gefolgt von Reinigungsmitteln, Pflanzen und Pilzen sowie Kosmetika und Chemikalien. In Bayern erfolgten die Anrufe in 18 Prozent von Klinikärzten sowie sechs Prozent Rettungsdiensten und fünf Prozent niedergelassenen Ärzten. Mit knapp 70 Prozent stellten Laien die größte Gruppe Hilfesuchender dar [1].

Sowohl akute Intoxikationen als auch die Ingestion von potenziell schädlichen Sub-
stanzen stellen damit eine häufige Behandlungssituation präklinisch wie klinisch dar. Drei exemplarische Behandlungssituationen aus der Toxikologie sollen im Folgenden mitsamt Behandlungsempfehlung erläutert werden.

Die Erstmaßnahmen bei Vergiftungen umfassen neben dem ABCDE-Schema (Airway-Breathing-Circulation-Disability-Environment) die primäre und sekundäre Giftentfernung, die Asservierung sowie die Verabreichung eines Antidots (Tabellen 1 bis 4).


Tabelle 1: ABCDE-Schema [7].


Tabelle 2: Primäre Giftelimination [2].

 

 Tabelle 3: Sekundäre Giftelimination [2].

 


Tabelle 4: Übersicht über Noxe und verfügbare Antidota.


Unter dem Begriff der primären Giftelimination werden Maßnahmen zusammengefasst, die eine Giftresorption verhindern oder verzögern bzw. eine Entfernung des Gifts vor Aufnahme in den Körperkreislauf/Körpergewebe ermöglichen. Bei oraler Aufnahme zählen hierzu induziertes Erbrechen, die Durchführung einer Magenspülung, die Verabreichung eines Absorbens (zum Beispiel Aktivkohle) sowie die Verabreichung eines osmotischen Laxans (zum Beispiel Na-Sulfat). Im Falle einer inhalativen Aufnahme wäre die Entfernung aus dem Gefahrenbereich, bei epidermaler Aufnahme das Abwaschen sowie Entfernen kontaminierter Kleidung und bei okularer Eintrittspforte die Augenspülung unter fließendem Wasser zu nennen [2].

Für die Verabreichung von Aktivkohle wird von den internationalen Gesellschaften empfohlen, binnen 60 Minuten nach Ingestion 0,5 bis 1 g/kg KG (max. 50 g) bzw. Aktivkohle im zehnfachen Überschuss zur ingestierten Noxe zu verabreichen [3-6]. Eine Maßnahme, die sich auch bei Vergiftungen im Kindesalter großer Praktikabilität erfreut. Bei vigilanzgeminderten Patienten empfiehlt sich nach Sicherung der Atemwege eine Applikation via Magensonde.

Mit dem Begriff der sekundären Giftelimination wird die Entfernung des Giftstoffes aus dem Körperkreislauf/Körpergewebe nach Resorption, also die Steigerung der Gesamt-Clearance sowie die Verkürzung der Halbwertszeit bezeichnet. Als Maßnahmen können die alkalische Diurese mit Natriumhydrogencarbonat 8,4 Prozent (Ziel pH im Urin > 8) sowie die repetitive Kohlegabe und extrakorporale Verfahren zur Giftelimination – zum Beispiel die Hämodialyse/-filtration – genannt werden [2].

Im Folgenden sollen drei Vergiftungsszenarien dargestellt werden, deren Behandlung sich aufgrund der hohen Verfügbarkeit und Anwendung der Substanzen, häufig wiederfindet.

Exemplarische Vergiftungsszenarien

Notfall

Betablocker-Überdosierung

Betablocker sind häufig verordnete Medikamente und werden als Antihypertensiva, Antianginosa und Antiarrhythmika eingesetzt. Die Gabe nach Myokardinfarkt wird ebenso wie bei kompensierter chronischer Herzinsuffizienz als prognostisch günstig eingestuft.

Insgesamt wird zwischen lipophilen Substanzen, zum Beispiel Bupranolol und Propranolol sowie lipophil/hydrophilen Betarezeptorblockern, zum Beispiel Bisoprolol, Nebivolol, Metoprolol und Pindolol sowie hydrophilen Substanzen, zum Beispiel Atenolol und Nadolol, unterschieden. Die Toxizität der Substanzen nimmt von lipophil zu hydrophil ab.

Durch die Wirkung am Betarezeptor kommt es zu einer kompetitiven Hemmung endogener und exogener adrenerger Substanzen. Die Hemmung der ß1-Rezeptoren am Herzen wirkt negativ inotrop, dromotrop und chronotrop, im Fettgewebe kommt es zur Hemmung der Lipolyse sowie an der Niere zur verminderten Freisetzung von Renin.

Die Hemmung der ß2-Rezeptoren bewirkt an der glatten Muskulatur eine Hemmung der Dilatation, wodurch es zur Konstriktion oder Tonuserhöhung kommt, im Pankreas kommt es zur Hemmung der Insulinfreisetzung sowie am Skelettmuskel zur Hemmung der Glykogenolyse.

Der Wirkbeginn bei akuter Intoxikation kann bereits nach 30 Minuten bis hin zu zwölf Stunden eintreten. In der Regel sind Überdosierungen mit Bradykardie, AV-Block I-II° sowie peripherer Zyanose, Oligurie und Azidose verbunden. Bei lipophilen Substanzen kann es durch Passage der Blut-Hirn-Schranke zu zentralen Wirkungen wie Schwindel, Benommenheit und Bewusstlosigkeit, aber auch zu Erregung mit Erbrechen und Krampfanfällen kommen. Zudem kann ß2-vermittelt eine Bronchospastik mit Dyspnoe sowie eine Hypoglykämie (vor allem bei Kindern) auftreten.

Die Therapie bei Vergiftungen sollte dem ABCDE-Schema folgen. Nach Sicherung der Atemwege kann eine Aktivkohlegabe via Magensonde, bei Patienten mit ausreichender Vigilanz auch per os erfolgen. Bei Hypotonie sollte die Therapie neben der moderaten Volumengabe auch Katecholamine einschließen, hier wird Adrenalin (gegebenenfalls auch Dopamin bei Bradykardie) als kompetitiver Antagonist am ß-Rezeptor als Mittel der ersten Wahl gesehen. Noradrenalin sollte wegen der Nachlast­erhöhung zurückhaltend eingesetzt werden. Sollte trotz hoher Dosierung kein ausreichender mittlerer arterieller Druck (MAP) erzielt werden können, ist eine hochdosierte Insulin-Glucose-Therapie (euglykämische Hochdosis-Insulin-Therapie; 1-10 IU Insulin/kg KG/h) zu erwägen. Bei lipophilen ß-Blockern und anderweitig nicht stabilisierbaren Kreislaufverhältnissen kann schließlich die hochdosierte intravenöse Lipid-Therapie (ILE, 20-prozentige Lipidlösung, zum Beispiel Intralipid®) versucht werden – stellt aber sicherlich eine Reservetherapie dar. Schließlich bleiben extrakorporale Verfahren als ultima ratio der Kreislaufunterstützung.

Glukagon als positiv inotrop, chronotrop und dromotrop wirkende Substanz, die unabhängig vom ß-Rezeptor über Aktivierung der Adenylatcyclase wirkt, wird häufig empfohlen, ist nach unserer Erfahrung aber von limitierter Wirksamkeit. Bei bradykarden Rhythmusstörungen kann Atropin sowie die Anlage eines passageren Schrittmachers indiziert sein [8, 9].

Abwendbar gefährlicher Verlauf

Paracetamol-Intoxikation

Paracetamol ist ein frei verkäufliches, apothekenpflichtiges Medikament, das sich aufgrund seiner guten Verträglichkeit bereits im Kindesalter als Analgetikum und Antipyretikum großer Anwendung erfreut. Mit einer Halbwertszeit von zwei Stunden und einer Wirkdauer von sechs bis acht Stunden ist es bei Fieber und Schmerzen sogar in der Schwangerschaft zugelassen. Aufgrund der großen Anzahl von Vergiftungen sind Packungen mit einer Medikamentenmenge > 10 g seit 2009 rezeptpflichtig [8].

Insgesamt sollte der Erwachsene eine Tagesmaximaldosis von 4 g, verteilt auf mehrere Einzeldosen, nicht überschreiten. Eine toxische Wirkung ist beim Lebergesunden ab 150 bis 200 mg/kg KG, bei Patienten mit vorbekannter eingeschränkter Leberfunktion (zum Beispiel Lebererkrankungen, Fasten, Komedikation mit Enzyminduktoren) bereits ab 100 mg/kg KG möglich.

Die Vergiftung lässt sich in vier Phasen einteilen:

» Initialphase (0 bis 24 Stunden): unspezifische Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Schwitzen und Lethargie, diese Phase kann auch symptomfrei ablaufen.
» Zwischenphase (24 bis 48 Stunden): häufig subjektives Wohlbefinden, Beginn INR-Anstieg (Quickabfall) und Transaminasenanstieg.
» Hepatische Phase (dritter bis vierter Tag): Leberzellnekrose mit exzessivem Transaminasenanstieg und tubulärer Nekrose durch toxische Stoffwechselprodukte, Laborchemisch: metabolische Azidose, Hypokaliämie, Hypophosphatämie, Anstieg von Nierenretentionsparametern.
» Erholungsphase (ab fünftem Tag): Normalisierung der Leberwerte am siebten bis achten Tag, meist restitutio ad integrum, selten (aber möglich) fulminanter Leberzerfall nach drei bis sechs Tagen.

Als Antidot steht intravenöses Acetylcystein (zum Beispiel Fluimucil® Antidot 20 Prozent) zur Verfügung. Vor Beginn der Therapie sollte Paracetamol ab vier Stunden nach Ingestion im Blut quantifiziert werden. Die Interpretation und Indikation für die Therapie kann zum Beispiel anhand des Rumack-Matthew-Nomogramms erfolgen (Abbildung 1).


Abbildung 1: Rumack-Matthew-Nomogramm, Paracetamol-Plasma-Konzentration (mg/l) gegen Stunden nach Ingestion [9].

Acetylcystein führt zur Regeneration von Glutathion, das für die hepatische Glukuronidierung des Paracetamols und somit für dessen Abbau die entscheidende Rolle spielt. Bei Glutathion-Depletion entstehen toxische Metabolite (zum Beispiel NAPQI), das wesentlich für die Hepatotoxizität verantwortlich gemacht wird.

Bei begründetem Verdacht auf eine Intoxikation mit Paracetamol ≥ 200 mg/kg KG oder ≥ 100 mg/kg KG beim Risikopatienten (bzw. Paracetamolspiegel im Plasma > 150 mg/l bzw. > 100 mg/l vier Stunden nach Ingestion), sollte eine Therapie mit Acetylcystein eingeleitet werden. Hierfür sollte Acetylcystein nach Schema (Initial 150 mg/kg KG intravenös über 15 Minuten, dann 50 mg/kg KG über vier Stunden und im Anschluss 100 mg/kg KG über 16 Stunden) verabreicht werden. Als Nebenwirkung kann es in bis zu zehn Prozent der Fälle 15 bis 75 Minuten nach Infusionsbeginn zum Auftreten einer histaminergen Reaktion mit Flush, Pruritus, Übelkeit und Tachykardie kommen. Je nach Schwere der Reaktion wird im Allgemeinen eine Unterbrechung der Infusion sowie die Applikation eines Antihistaminikums empfohlen. Ein Fortsetzen der Infusion mit verlangsamter Geschwindigkeit ist in diesen Fällen empfehlenswert [8, 9]. Um die Nebenwirkungsraten zu minimieren und um Verwechslungen bei der Zubereitung bzw. Applikation des Drei-Stufen-Schemas zu minimieren, existieren verkürzte bzw. vereinfachte, aber wahrscheinlich äquieffektive Infusionsschemata. Diese sind derzeit noch nicht als Standardtherapie anzusehen [10].

Begleitend ist je nach Schweregrad eine intensivmedizinische Betreuung des Patienten und abhängig von der Gesamtsituation auch eine Lebertransplantation zu diskutieren. Hierzu existieren verschiedene Prognosemodelle des Paracetamol-induzierten akuten Leberversagens (zum Beispiel King´s-College-Kriterien).

Häufige Behandlungssituation

Anticholinerges Syndrom nach Doxylamin – Doxylamin ist ein in Schlafmitteln (zum Beispiel Hoggar® Night) enthaltenes Antihistaminikum und Hypnotikum. Es wird zur ersten Generation der Antihistaminika gezählt und zeichnet sich durch eine geringe Spezifität für den H1-Rezeptor sowie anticholinerge, antiserotonerge sowie antiadrenerge Effekte aus. Das Präparat ist apothekenpflichtig, aber rezeptfrei und erfreut sich daher häufiger Anwendung.

Wegen der leichten Verfügbarkeit kommt es häufig zu Überdosierungen in selbstschädigender Absicht. Im Allgemeinen sollten Erwachsene eine Tagesmaximaldosis von 75 mg nicht überschreiten. Ab einer Einnahmedosis von 500 mg ist mit leichten, ab ca. 1 g mit schwerwiegenderen Vergiftungssymptomen zu rechnen.

Doxylamin hat eine Halbwertszeit von acht bis zehn Stunden sowie eine Wirkdauer von vier bis sechs Stunden und wird überwiegend unverändert renal ausgeschieden.

An Wirkungen können neben antihistaminergen Effekten wie einer ZNS-Dämpfung mit Sedierung auch eine Toleranzentwicklung beobachtet werden. Zudem können antiadrenerge und antiserotonerge Effekte, Hypotonie, Reflextachykardie sowie Appetitzunahme beobachtet werden. Typische anticholinerge Nebenwirkungen betreffen Miktionsstörungen, Akkomodationsstörungen und gastrointestinale Beschwerden.

Die Symptomatik einer Überdosierung besteht in der anticholinergen Wirkung und zeichnet sich durch die typische Tetrade aus Mundtrockenheit, Tachykardie, Mydriasis und agitierter Verwirrtheit aus (sogenanntes zentrales anticholinerges Syndrom). Somnolenz, Agitation, Desorientiertheit, motorische Unruhe bis zu Halluzinationen können auftreten. Gefährliche Vergiftungen sind gekennzeichnet durch Somnolenz bis Koma, Atemdepression, zerebrale Krampfanfälle und vereinzelt auch Muskelschäden (erhöhte Kreatinkinase). Letztere können direkte oder indirekte Vergiftungsfolgen sein.

Neben den vorwiegend primären Gift-Eliminationsverfahren kann bei Überwiegen anticholinerger Symptome (zentrales anticholinerges Syndrom) Physostigminsalicylat (zum Beispiel Anticholium®; 0,03 bis 0,04 mg/kg KG intravenös) über einige Minuten, gegebenenfalls gefolgt von einer Dauerinfusion (Erwachsene in der Regel maximal 2 mg/h) als effektives und rasch wirkendes Antidot unter kontinuierlicher Monitorüberwachung eingesetzt werden. Kontraindiziert ist dessen Anwendung bei QRS-Komplexverbreiterung > 120 ms, zerebralen Krampfanfällen und Bradykardien.

Die Halbwertszeit von Doxylamin ist mit etwa acht bis zehn Stunden deutlich länger als die von Physostigmin, eine Anwendung nach initial erfolgreicher Therapie sollte daher bis zum Abklingen der Vergiftungssymptome repetitiv oder als Dauerinfusion erfolgen [8, 9].

Zusammenfassend steht auch bei der Behandlung von Vergiftungen zunächst ein Vorgehen nach ABCDE-Schema im Vordergrund. Nach Sicherung der Vitalfunktionen ist es möglich, die beobachteten Symptome anhand von Toxidromen (klinische Symptome, die Stoffklassen zugeordnet werden können) einer oder mehrerer dieser Klassen zuzuordnen.

Zur Hilfestellung bei der Identifizierung der Noxe sowie zum Erhalt von Behandlungsempfehlungen empfiehlt es sich, Kontakt mit einer der Giftinformationszentralen aufzunehmen.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Autoren


Sabrina Schmoll, Assistenzärztin

 


Universitätsprofessor Dr. Florian Eyer, Chefarzt


Abteilung für klinische Toxikologie, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, Ismaninger Straße 22, 81675 München

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