Die Zeit drängt

Dr. Gerald Quitterer

Auf den ersten Blick mag die Botschaft, dass auch 2023 die Zahl der Ärztinnen und Ärzte erneut gestiegen ist, nur Positives vermuten lassen. Betrachtet man jedoch die Trends der kürzlich veröffentlichten Ärztestatistik der Bundesärztekammer genauer – und auch die Zahlen in Bayern bestätigen dies – wird deutlich, dass wir in den nächsten Jahren vor erheblichen Problemen in der flächendeckenden Gesundheitsversorgung stehen werden. Das Paradox, mehr Ärztinnen und Ärzte bei immer größer werdenden Versorgungs­lücken, ist nichts Neues.

Die aktuellen Zahlen unterstreichen jedoch nochmal eindrucksvoll, dass, bedingt durch den demografischen Wandel und den bevorstehenden Eintritt der Baby-Bommer in den Ruhestand, das Gesundheitssystem in Deutschland auf die Probe gestellt wird. 46 Prozent aller im Beruf tätigen Ärztinnen und Ärzte sind über 50 Jahre alt und im hausärztlichen Bereich beträgt der Anteil sogar 69 Prozent. Hinzu kommt der Trend zunehmender Arbeit in Teilzeit, vor allem unter jüngeren Ärztinnen und Ärzten. Das abnehmende Angebot ärztlicher Versorgung trifft auf den größten gesellschaftlichen ­Umbruch der jüngeren deutschen Geschichte. Sehenden Auges: In den nächsten 15 Jahren gehen in Deutschland fast 13 Millionen Menschen in ­Rente. Der Versorgungsbedarf in unserer älter werdenden Gesellschaft steigt kontinuierlich, nicht zuletzt aufgrund der zu ­erwartenden gesundheitlichen Folgen des Klimawandels. Wie will die Gesellschaft all diese Effekte kompensieren?

Nachvollziehbar ist, dass wir dafür zusätzliche Medizinstudienplätze benötigen. Allein in Westdeutschland gab es 1990 ungefähr so viele wie heute in der ganzen Republik. Über die Zeit wurde es jedoch versäumt, ausreichend Medizinstudienplätze zu schaffen, um dem prognostizierten Versorgungsengpass stärker entgegenzuwirken. Es heißt nun also auch, das bestehende System effizienter zu gestalten, die Patientenlenkung zu koordinieren und zu optimieren sowie Arbeitszeitpotenziale, beispielsweise durch ein verbessertes Angebot bei der Kinderbetreuung oder beim beruflichen Wiedereinstieg zu heben. Die Ärztinnen und Ärzte sowie andere Gesundheitsfachberufe arbeiten schon jetzt an der Belastungsgrenze. Vor dem Hintergrund des wachsenden Versorgungsbedarfs findet derzeit kaum ein gesteuerter Zugang zu den relevanten Versorgungs­ebenen statt. Wir können uns jedoch die unstrukturierte Inanspruchnahme der ärztlichen Ressourcen nicht länger leisten.

Versorgungssteuerung und Koordination

Dies beschreibt die Ausgangslage vor dem 128. Deutschen Ärztetag, der vom 7. bis 10. Mai in Mainz stattfand. Erfreulich und umso wichtiger ist es, dass sich ein Leitantrag des Vorstandes der Bundes­ärztekammer in diesem Jahr dem Thema der Versorgungssteuerung und besseren Koordination der Patientinnen und Patienten annahm. Schwerpunkte dieses Antrages zielen unter anderem auf den gesteuerten Zugang zur Regelversorgung und zur Notfallversorgung sowie den Aspekt der Sektorenverbindung ab. So soll die primärärztliche Versorgung durch die Hausärztin/den Hausarzt, das sind Allgemeinärztinnen und -ärzte, Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte sowie hausärztliche tätige Internistinnen und Internisten, gestärkt und die im SGB V bereits formulierte ­hausarztzentrierte Versorgung (HzV), die sich bewährt hat, weiter ausgebaut werden. Der unmittelbare Zugang zu und die Behandlungskoordination durch Fachärztinnen und Fachärzte muss dabei ebenfalls beschrieben werden und die freie Arztwahl erhalten bleiben. Bei der Notfallversorgung soll die Steuerung nach Dringlichkeit und in die adäquate Versorgungsebene mithilfe einer validierten standardisierten medizinischen Ersteinschätzung erfolgen. Dies ist der richtige Weg. Es heißt jetzt, auch vor dem Hintergrund der stockenden und sich immer wieder verändernden Gesetzgebungsprozesse des Bundes­gesundheitsministeriums, die Potenziale der Selbstverwaltung voll auszuschöpfen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Die Schnelllebigkeit und Unberechenbarkeit der Politik in Berlin hat jüngst wieder einmal der neue Referentenentwurf des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) gezeigt – nach knapp eineinhalbjährigen Diskussionen rund um Gesundheitskioske und -regionen sind beide Inhalte aus dem Entwurf gestrichen worden. Dass ein flächendeckendes Ausrollen von Gesundheitskiosken zwar spät aber doch noch gestoppt wurde, ist richtig. Die ins Gesetz aufgenommene Entbudgetierung der hausärztlichen Leistungen muss jetzt zügig über die Ziellinie gebracht werden. Sie muss in einem weiteren Schritt gleichermaßen für die fachärztlichen Leistungen erfolgen. Aussagen seitens des Bundesgesundheitsministers, wonach wir uns keine zwei Facharztschienen leisten können, sind brandgefährlich. Für das funktionierende System der ambulanten fachärztlichen Versorgung, für die Weiterbildung, die im niedergelassenen Bereich in Bayern durch rund 8.300 Fachärztinnen und -ärzte erfolgt sowie für die Ausbildung der Medizinischen Fachangestellten. Damit würde ein bedeutender Wirtschaftsfaktor im Gesundheitswesen gefährdet, ganz abgesehen vom unterschiedlichen Versorgungsauftrag beider Bereiche. Praxen sind ein Garant für wohnortnahe, gute ärztliche Versorgung der Patientinnen und Patienten. Übrigens, ein nicht zu unterschätzender und wichtiger Standortvorteil für die heimische Wirtschaft.

Der Entwurf des Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetzes (KHVVG) ist ein weiterer Angriff auf die ambulante Versorgung und insbesondere die Autonomie der Selbstverwaltung. In einem ungleichen Wettbewerb sollen definierte Kliniken als „sektorenübergreifende Versorgungseinrichtungen“ auch in nicht unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Planungs­bereichen zur haus- und fachärztlichen Versorgung unbefristet und unbedingt zugelassen werden. Solche Pläne gehen an den Realitäten der ambulanten Versorgung vorbei und gefährden diese, weshalb sie auf keinen Fall in den Gesetzesentwurf Eingang finden dürfen.

Ein Dilemma aus ärztlicher Sicht ist weiterhin die Umsetzung der neuen Approbationsordnung, die noch immer nicht konkretisiert und von Kabinettssitzung zu Kabinettssitzung geschoben wird. Ein ­Dilemma deshalb, weil uns die Politik mit dem Hinweis auf die Kosten vor die Entscheidung stellt: entweder mehr Studienplätze oder die neue Approbationsordnung. Beides darf nicht zur Disposition stehen. Hier heißt es jetzt den Druck auf die Politik weiter hochzuhalten. Denn die neue Approbationsordnung ist mitentscheidend für die Zukunft unseres Gesundheitswesens. Die Zeit drängt.

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