Die Not mit dem Notfall

Dr. Andreas Botzlar, 1. Vizepräsident der BLÄK

Was ist ein Notfall? Wir Ärztinnen und Ärzte können auf diese Frage eine eindeutige medizinische Antwort geben. Was aber wird gemeinhin unter dem Begriff verstanden? Manchmal hilft ein Blick in das Wörterbuch: „Der Notfall ist eine unerwartete Situation, in der man schnell Hilfe braucht“, heißt es da. Auch diese Definition scheint mir recht eindeutig zu sein. Ein Notfall duldet keinen Aufschub, rasche Hilfe ist erforderlich. Was aber verstehen die Millionen von Menschen unter einem Notfall, die Tag für Tag in die zentralen Notaufnahmen kommen, aber eigentlich gar kein Notfall im Wortsinn sind?

Das Problem in nackten Zahlen: In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der Patienten in den Notaufnahmen Deutschlands verdoppelt – auf inzwischen rund 25 Millionen Fälle pro Jahr, darunter rund 60 Prozent ambulante Fälle. Wirklich aufhorchen lässt nicht allein das ständig wachsende Aufkommen, sondern vor allem die Tatsache, dass nach übereinstimmenden Angaben mehrerer Studien etwa 40 Prozent der Patienten genauso gut vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) hätten behandelt werden können. Mit anderen Worten: Eine große Anzahl der Patienten kommt – und auch keineswegs nur nachts, am Wochenende und an Feiertagen – ins Krankenhaus, ohne dass ein wirklicher Notfall vorliegt, der im Krankenhaus behandelt werden müsste.

Nun könnte man es sich einfach machen und darüber klagen, dass die Patienten nicht wissen, welche Versorgungsebene für sie die richtige ist. Oder über „Dr. Google“ schimpfen, nach dessen Konsultation die Patienten auf einmal Symptome verspüren, die sie vorher gar nicht hatten. Oder das ganze Phänomen ein überzogenes Anspruchsverhalten nennen und den Patienten ihren „Medizin-Konsum“ vorhalten, wie es kürzlich ein Vertreter der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) auf einem Forum des Marburger Bundes in Berlin zur Notfallversorgung getan hat.

An all diesen Einschätzungen ist etwas dran – da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber das Klagelied über die unwissenden, womöglich ignoranten Patienten hilft uns nicht weiter. Wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, dass fundiertes Gesundheitswissen in breiten Bevölkerungsschichten nicht mehr so vorhanden ist, wie wir uns das wünschen. Patienten fällt es bei Beschwerden oft schwer, die Behandlungsdringlichkeit richtig einzuschätzen. In vielen Fällen ist auch nicht mehr die lebenserfahrene Großmutter verfügbar, die zur Beruhigung der Lage beitragen kann, wenn das Kind erhöhte Temperatur hat. Subjektiv fühlen sich Menschen häufig kränker, als sie tatsächlich sind. Hinzu kommt: Es ist den Patienten nicht zuzumuten, erst im Sozialgesetzbuch V nachzuschauen, wer für sie zuständig ist. Und dieses Wissen kann man auch nicht einfach voraussetzen. Es muss stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden.

Ein wichtiger Schritt ist, die 116 117 als bundesweite Rufnummer des KV-Notdienstes viel stärker bekannt zu machen. Nach der KBV-Versichertenbefragung 2017 können nur neun Prozent der Versicherten die Rufnummer tatsächlich richtig benennen. Nach wie vor überwiege die Unkenntnis, schreibt die „Forschungsgruppe Wahlen“ im Berichtsband zur Umfrage. Weiter heißt es: „Selbst unter Befragten, die angeben, die Nummer für den ärztlichen Bereitschaftsdienst zu kennen, kann eine relative Mehrheit von 35 Prozent dann überhaupt keine konkrete Telefonnummer benennen. Zahlreiche andere Antworten entfallen auf die ‚112‘ von Feuerwehr und Rettungsdienst, die Polizeinummer ‚110‘ oder die mancherorts weiterhin für Krankentransporte geschaltete Telefonnummer ‚19 222‘.“

Es ist deshalb sehr zu begrüßen, wenn die KVen nun gemeinsam in einer bundesweiten Kampagne nicht nur die Rufnummer 116 117, sondern damit auch den Ärztlichen Bereitschaftsdienst bekannter machen. Die Kassenärztliche Vereinigung Bayerns hat schon ein dichtes Netz an Bereitschaftspraxen geknüpft, viele davon an Kliniken. Das allein wird aber nicht ausreichen, um die derzeitigen Kommunikationsbrüche und Fehlallokationen zu beheben. Das allein wird aber nicht ausreichen, um die derzeitigen Kommunikationsbrüche und Fehlallokationen zu beheben. Die Politik muss unter anderem die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Rufnummer des ärztlichen Bereitschaftsdienstes 116 117 nicht nur tagsüber, wie es in Bayern bereits etabliert wird, erreicht werden kann, sondern auch mit der Notfallnummer 112 koordiniert wird, wie es von einer Vielzahl maßgeblicher Experten empfohlen wird. Notfallpatienten sollten zukünftig durch eine standardisierte, dabei aber unkomplizierte Ersteinschätzung durch entsprechend geschultes Personal in allen Anlaufstellen der Notfallversorgung ohne Umwege in die für sie passende Versorgungsebene geleitet werden. Dazu bedarf es nicht nur der telefonischen, sondern letztlich auch der vollständigen informationstechnischen Vernetzung aller Akteure.

Die großen Verbände und Institutionen der Ärzteschaft sind sich inzwischen weitgehend einig darin, dass integrierte Leitstellen und gemeinsame medizinische Anlaufstellen von Krankenhäusern und niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten, wie beispielsweise in Bayern durch die Errichtung von Bereitschaftspraxen an Kliniken umgesetzt, die richtige Antwort auf die Probleme sind. Auch im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD ist dieses Ziel vorgegeben.

Letztlich geht es darum, die Notaufnahme und die dort arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vor der ständigen Überlastung zu schützen, die heute vielfach die Regel ist. Nur so können wir sicherstellen, dass die wirklichen Notfälle – die Schwerkranken und Schwerverletzten – rasch jene Hilfe bekommen, die sie benötigen. Je länger die Notaufnahmen in den Kliniken mit Patienten überfüllt bleiben, die ebenso gut im ambulanten Bereich versorgt werden könnten, desto größer wird die Gefährdung derjenigen Patienten, die tatsächlich ein Notfall sind.

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