Diagnostik und Therapie des chronischen Tinnitus

Ohrmuschel

Mit einer Prävalenz von etwa zehn Prozent ist Tinnitus, die Wahrnehmung eines Geräusches ohne entsprechenden akustischen Reiz, eine sehr häufige Störung. Häufig treten im Zusammenhang mit Tinnitus Schlafstörungen, Angst und Depressionen auf und es besteht eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensqualität.

In den vergangenen Jahrzehnten haben Fortschritte in den Neurowissenschaften und die Entwicklung von Tiermodellen zu einem zunehmenden Verständnis der Pathophysiologie von Tinnitus geführt. Weiter konnte gezeigt werden, dass es verschiedene Formen von Tinnitus gibt, die sich in ihrer Pathophysiologie und im Ansprechen auf spezifische Behandlungen unterscheiden.

Nach der Empfehlung der aktuellen interdisziplinären S3-Leitlinie ist der erste Schritt in der Behandlung von Tinnitus die umfassende Diagnose der ätiologischen Faktoren und der Komorbiditäten im Rahmen eines interdisziplinären Ansatzes.

Zur Behandlung steht neben der umfassenden Beratung und Psychoedukation („Tinnitus-Counseling“) vor allem die tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie als evidenzbasiertes Therapieverfahren zur Verfügung.

Weiterhin wird die Mitbehandlung von Komorbiditäten (zum Beispiel Hörstörung, Schlafstörung, Angst/Depression, Kiefergelenksbeschwerden) durch entsprechende Fachärzte empfohlen.

Für eine Arzneimittelbehandlung des chronisch-idiopathischen Tinnitus, hörtherapeutische Maßnahmen, transkranielle Magnet- oder Gleichstromstimulation, spezifische Formen der akustischen Stimulation sowie spezifische musiktherapeutische Maßnahmen liegen vielversprechende Daten aus Pilotstudien vor. Aufgrund der nicht ausreichenden Studienlage kann jedoch noch keine Empfehlung ausgesprochen werden.

Einleitung

Tinnitus ist ein häufiges Symptom des auditorischen Systems, das insbesondere in Verbindung mit Komorbiditäten zu schwerwiegender Krankheitsbelastung führen kann. Zu seiner Therapie haben sich zahlreiche Behandlungsformen verbreitet, wobei jedoch für viele dieser Behandlungsarten der wissenschaftliche Nachweis der Wirksamkeit fehlt.

In diesem Jahr wurde erstmals in Deutschland eine interdisziplinäre S3-Leitlinie erstellt (AWMF 2015), um die wissenschaftliche Evidenz in der Behandlung des chronischen Tinnitus darzustellen.

Definition

Der Begriff „Tinnitus“ (von lateinisch tinnire = klingeln) beschreibt eine Störung, bei der Betroffene ohne einen entsprechenden externen akustischen Stimulus Geräusche wahrnehmen. Typischerweise wird Tinnitus beschrieben als ein Pfeifen, Klingeln, Brummen, Rauschen oder Zischen. Tinnitus kann ein- oder beidseitig bestehen oder wird auch von manchen Patienten als im Kopf befindlich lokalisiert. Die Lautstärke von Tinnitus variiert von Patient zu Patient sehr stark. So beschreiben manche Patienten das Geräusch knapp über der Hörschwelle während andere über eine sehr hohe Intensität ihres Tinnitus berichten. Abzugrenzen vom „chronisch-idiopathischen“ bzw. „subjektiven“ Tinnitus ist der sehr seltene objektive Tinnitus, bei dem die Ohrgeräusche durch Muskelkontrakturen der Mittelohrmuskeln oder durch Strömungsgeräusche in Blutgefäßen erzeugt werden.

Epidemiologie

Zwischen fünf und 15 Prozent der Gesamtbevölkerung berichten vom Vorliegen eines Tinnitus und etwa ein Prozent der Bevölkerung ist in der Lebensqualität durch das Ohrgeräusch erheblich belastet. Der wichtigste Risikofaktor für die Tinnitusentstehung ist Schwerhörigkeit. Männer sind häufiger betroffen als Frauen und die Prävalenz nimmt mit steigendem Lebensalter zu.

Pathophysiologie des Tinnitus

Lange wurde Tinnitus als Erkrankung des Innenohres verstanden. Es zeigte sich jedoch, dass sich Tinnitus nach Durchtrennung des Hörnerven (zum Beispiel bei der operativen Entfernung eines Akustikusneurinoms) in der Regel verschlimmert. Dies zeigt die wesentliche Bedeutung des zentralen Nervensystems für die Pathophysiologie des chronischen Tinnitus auf. Inzwischen weiß man, dass dem Tinnitus eine gesteigerte Erregung entlang der gesamten zentralen auditorischen Bahn zugrunde liegt. Diese gesteigerte Nervenaktivität entsteht – ähnlich wie bei Phantomschmerzen – als kompensatorische Reaktion auf die in den meisten Fällen vorliegende Hörminderung (zum Beispiel bei Altersschwerhörigkeit, nach Lärmexposition oder durch ototoxische Substanzen). Aufgrund einer Schädigung im Innenohr erhält das Gehirn verminderte auditorische Informationen. Um diesen verminderten Input auszugleichen, werden Verstärkungsmechanismen aktiviert und es kommt zur Tinnituswahrnehmung. Das erklärt, dass der Tinnitus typischerweise auf der Seite und in dem Frequenzbereich auftritt, in dem auch die Hörstörung besteht. Hat jemand zum Beispiel einen Hörverlust im linken Ohr bei vier kHz, nimmt er typischerweise auch den Tinnituston links mit einer Frequenz von vier kHz wahr. Da somatosensorische Nervenbahnen im Hirnstamm mit der Hörbahn verschaltet werden, können auch Schmerzen und Muskelspannungsstörungen im Kiefergelenks- oder HWS-Bereich zur Aktivitätszunahme in der zentralen Hörbahn führen. Dies erklärt die klinische Beobachtung, dass auch HWS- oder Kiefergelenksbeschwerden für die Tinnitusentstehung und -wahrnehmung relevant sein können.

Patienten mit chronischem Tinnitus weisen jedoch nicht nur in auditorischen Strukturen funktionelle Veränderungen auf, sondern auch in limbischen, parietalen und frontalen Gehirnarealen. Diese Regionen stehen bei Tinnitus-patienten in intensiverer funktioneller Verbindung zur Hörrinde als bei gesunden Personen und spiegeln die Aufmerksamkeit auf den Tinnitus und die emotionale Belastung wieder (Abbildung 1).


Abbildung 1: Tinnitus und Gehirn – Zusammenhang zwischen Tinnituswahrnehmung, Aufmerksamkeitsfokussierung und emotionaler Belastung, sowie die dabei involvierten Gehirnareale. Bildquelle: Gehirn&Geist/MEGANIM 

Anamnese, weiterführende Diagnostik, Behandlungsindikation

Für die klinische Praxis wird ein schrittweises Vorgehen vorgeschlagen, das mit Anamnese, audiologischer und HNO-ärztlicher Untersuchung beginnt. Wichtige, zu eruierende anamnestische Aspekte sind Tinnitusdauer (akut vs. chronisch), pulsatiler Charakter, Modulierbarkeit des Tinnitus und Begleitsymptome wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen. Die HNO-ärztliche und audiologische Untersuchung des Hörvermögens sowie die Frequenz- und Lautstärkebestimmung des Ohrgeräusches sollten bei jedem Patienten erfolgen. Weitere diagnostische Schritte sind nur notwendig bei (1) akut aufgetretenem Tinnitus, (2) Hinweisen für eine möglicherweise gefährliche zugrundeliegenden Erkrankung (zum Beispiel: Karotisdissektion), (3) einer möglichen kausalen Behandlungsoption oder (4) ausgeprägter subjektiver Beeinträchtigung (Abbildung 2).


Abbildung 2: Tinnitus – Von der Befundung zur Behandlung. Evidenzbasierter diagnostischer und therapeutischer Algorithmus (modifiziert aus Kreuzer et al. „Deutsches Ärzteblatt“ Int 2013; 110(16): 278-84).

Pulssynchroner Tinnitus kann ein Symptom von Gefäßveränderungen (Gefäßschlingen, Aneurysmen, etc.) oder stark durchbluteten Tumoren (zum Beispiel Paragangliomen) darstellen und sollte entsprechend weiter neuroradiologisch abgeklärt werden. Bei einseitigem Tinnitus und deutlichen Seitendifferenzen im Hörvermögen des Patienten ist eine Magnetresonanztomografie zum Ausschluss einer Pathologie im Bereich der Cochlea, des inneren Gehörgangs und des Kleinhirnbrückenwinkels zu empfehlen. Bei Modulierbarkeit des Ohrgeräusches durch Kiefer- oder HWS-Bewegungen sollte eine zusätzliche physiotherapeutische oder (kiefer-)orthopädische Abklärung erwogen werden. Bei psychischer Komorbidität sollte eine psychiatrische Differenzialdiagnostik erfolgen. Zur Einschätzung des subjektiven Schweregrades stehen einfach durchführbare Screeninginstrumente (siehe Kasten Seite 563) oder validierte Fragebögen zur Verfügung.

Wenn Patienten im Zusammenhang mit ihrem Tinnitus unter keiner nennenswerten Einschränkung der individuellen Lebensqualität leiden, ist in der Regel die Aufklärung über die grundsätzlich gutartige Natur ihres Ohrgeräusches ausreichend. In der Mehrzahl der Fälle kommt es im Verlauf zu einer zunehmenden Gewöhnung an das Ohrgeräusch.



„Schweregradeinteilung“ 

Begleitsymptome von chronischem Tinnitus

Der durch Tinnitus ausgelöste Leidensdruck ist interindividuell sehr unterschiedlich und erklärt sich nur zu einem geringen Teil durch die Beschaffenheit des Tinnitus (Lautstärke, Frequenz etc.). Eine größere Rolle für die großen individuellen Unterschiede im Leidensdruck spielen Begleitsymptome wie Schlafstörungen, Konzentrationsprobleme, Kopfschmerzen, Hörminderung sowie psychische Störungen wie Angst und Depression. Insbesondere Patienten, die neben Tinnitus auch unter Misophonie (unangenehme Empfindung spezifischer Geräusche), Phonophobie (Angst vor spezifischen Geräuschen) oder Hyperakusis (Geräusche werden lauter und schmerzhaft empfunden) leiden, neigen zu teilweise stark ausgeprägtem Vermeidungsverhalten bis hin zur Entwicklung des Vollbildes einer Angststörung. Das Vermeidungsverhalten im Sinne einer Abschirmung von Umgebungsgeräuschen bei Tinnituspatienten ist dabei als kontraproduktiv und krankheitsaufrechterhaltend zu betrachten, da es kompensatorisch zu einer weiteren Sensibilisierung des zentralen auditorischen Systems führt. Insgesamt kommt der Diagnose und Behandlung von Begleitsymptomen eine große Rolle zu, weswegen eine umfassende Tinnitusbehandlung immer einen multidisziplinären Ansatz erfordert.

Counseling

Vielen Betroffenen wird das Bild einer hoffnungslosen Erkrankung vermittelt, was zu negativ geprägten Krankheitsmodellen und Coping-Strategien führen kann. Klärende psychoedukative Erläuterungen (im Bereich Tinnitus typischerweise als „Counseling“ bezeichnet) werden als grundlegende Komponente jeglicher Tinnitustherapie empfohlen. Dabei wird dem Patienten auf der Grundlage seiner individuellen anamnestischen und diagnostischen Befunde die Entstehung des Tinnitus erklärt und es werden Verhaltensempfehlungen für den Umgang mit dem Ohrgeräusch gegeben. Eine verständliche und verständnisvolle Aufklärung über die Mechanismen der Tinnitusentstehung und die grundsätzlich gutartige Natur des idiopathischen Tinnitus stellt die Grundlage für die Etablierung konstruktiver Kompensations- und Habituationsmechanismen dar. Durch die „Demystifizierung“ von Tinnitus werden Sorgen und Ängste reduziert. Das tiefergreifende Verständnis des Symptoms Tinnitus ermöglicht es dem Betroffenen, hilfreiche Strategien für den Umgang mit dem Tinnitus zu entwickeln.

Kognitive Verhaltenstherapie

Bei der kognitiven Verhaltenstherapie (KVT; auch CBT für „cognitive behavioral therapy“) handelt es sich um das bei Tinnitus am besten evaluierte Therapieverfahren. Das Ziel der Behandlung besteht darin, krankheitsverstärkende Muster auf kognitiver, emotionaler und verhaltensbezogener Ebene bewusst zu machen und entsprechend zu modifizieren. Ein typisches Beispiel für derartige krankheitsverstärkende Muster wäre die Annahme, der Tinnitus werde im Verlauf immer schlimmer und könne zu Taubheit führen (kognitiv). Die damit verbundene Angst vor der Zukunft (emotional) resultiert auf Verhaltensebene in einer dauernden Fokussierung auf den Tinnitus („Ist er seit gestern lauter geworden?“) und im Vermeiden jeglicher akustischer Exposition (was kontraproduktiv ist, da Ruhe in der Regel zu einer Zunahme der Tinnituswahrnehmung führt).

Die Interventionen der KVT zielen auf die Vermittlung von Strategien zur (a) Verringerung der Aufmerksamkeitsfokussierung auf die Ohrgeräusche, (b) Umbewertung des Tinnitus und seiner Konsequenzen sowie (c) einer verbesserten Bewältigung (zum Beispiel Vertrauen in die eigene Einflussnahme und Aufgabe von vermeidendem Verhalten). Zur KVT des Tinnitus wurden strukturierte Therapiemanuale sowohl für die Einzel- als auch die Gruppentherapie konzipiert. Eine Cochrane-Meta-Analyse von acht kontrollierten klinischen Studien zeigte für die kognitive Verhaltenstherapie im Vergleich zu den Kontrollbedingungen „keine Therapie“ und „andere Interventionen“ (wie zum Beispiel psychoedukativen Maßnahmen im Kurzkontakt) signifikante Verbesserungen der Lebensqualität und der Depressions-Scores, jedoch keinen Effekt auf die Tinnituslautstärke. Aufgrund dieses Ergebnisses wird der KVT in der aktuellen S3-Leitlinie als einzigem Therapieverfahren die höchste Evidenzstärke 1a in Bezug auf die Tinnitusbelastung und die Lebensqualität zugeschrieben. Für Selbstmanagement-Training mit KVT sowie für online-basierte verhaltenstherapeutische Programme zeigen einzelne Studien ebenfalls Effektivitätshinweise, während die Wirksamkeit der in Deutschland häufig üblichen stationären Psychotherapie bisher lediglich in Kohortenstudien und nicht durch randomisierte kontrollierte Studien evaluiert wurde. Einschränkend ist weiter festzustellen, dass nicht jeder Tinnituspatient bereit oder in der Lage ist, sich einer KVT zu unterziehen und dass die Verhaltenstherapie bei den Patienten, die bereits effiziente Bewältigungsstrategien anwenden, aber dennoch unter der Lautstärke des Tinnitus leiden, wenig wirksam ist.

Akustische Stimulation

Von den meisten Betroffenen wird Tinnitus gerade in Ruheumgebung besonders laut wahrgenommen. Im Gegenzug kann eine gezielte akustische Stimulation bei vielen Betroffenen den Tinnitus reduzieren und findet sich unter den am meisten angewandten therapeutischen Verfahren, auch wenn für diese Verfahren der höchste Evidenznachweis aufgrund kontrollierter Studien nicht vorliegt.

Nachdem Hörstörungen ursächlich für die Tinnitusentstehung sind, liegt es nahe, Hörgeräte zur Therapie einzusetzen. Bisher wurde jedoch die Wirkung von Hörgeräten auf die Wahrnehmung von Tinnitus nicht in randomisierten kontrollierten Studien nachgewiesen. In Beobachtungsstudien zeigte sich jedoch, dass insbesondere diejenigen Patienten von einer Hörgeräteversorgung profitieren, bei denen die Tinnitusfrequenz unter sechs kHz (und damit in dem Frequenzbereich, in dem Hörgeräte wirksam sind) liegt. Wenn der Tinnitus im Zusammenhang mit hochgradiger Hörminderung steht, kann die Versorgung mit Cochlea-Implantaten im Einzelfall eine hochwirksame Therapieform darstellen.

Tinnitusmasker („Noiser“) generieren entweder ein breitbandiges Rauschen oder individuell maßgeschneiderte Geräusche. Das Prinzip dieser Therapieform ist, dass der zusätzlich erzeugte Klang den Tinnitus entweder teilweise oder vollständig übertönt und dabei als weniger störend als der Tinnitus-Ton wahrgenommen wird. Trotz der ausgedehnten Verwendung der Maskingverfahren liegen nur vereinzelte kontrollierte Studien vor, sodass weder die Wirksamkeit eindeutig belegt ist, noch klar ist, ob es effektiver ist, den Tinnitus komplett oder partiell zu maskieren. Für die klinische Praxis kann empfohlen werden, dass diejenigen Masking-Strategien verwendet werden sollten, die subjektiv als angenehm empfunden werden, wobei nicht nur spezielle, kommerziell erhältliche Geräte angewandt werden können. Als preisgünstige Variante können auch Zimmerspringbrunnen oder Tonträger mit Meeresrauschen, Windgeräuschen oder ähnlichem eingesetzt werden. Die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) stellt eine spezielle Kombination von Counseling und auditorischer Stimulation durch Masker bzw. Hörgeräte dar. Einige Studien belegen positive Effekte der Methode. Aufgrund des Fehlens qualitativ hochwertiger kontrollierter Studien ist die klinische Effektivität der TRT jedoch als nicht eindeutig belegt anzusehen.

Verschiedene Formen von auditorischem Training wurden bei Tinnitus untersucht, zum Beispiel Frequenz-Diskriminations-Training oder Übungen zur Objektidentifikation und -lokalisation. Auch hier liegt jedoch bisher kein Wirksamkeitsnachweis durch methodisch hochwertige randomisierte kontrollierte Studien vor.

Auch individualisierte akustische Stimulationsformen, die sich an der individuell bestimmten Tinnitusfrequenz orientieren, wurden zur Tinnitusbehandlung entwickelt. Diesen Verfahren ist gemeinsam, dass durch frequenzgefilterte Musik oder entsprechend generierte Töne die neuronale Aktivität, die dem Tinnitus zugrunde liegt, gezielt reduziert werden soll. Für verschiedene Verfahren (Neuromonics, Taylor Made Notched Music Training – TMNMT, Coordinated Reset) liegen vielversprechende Ergebnisse aus Pilotstudien vor. Dennoch sind die Verfahren derzeit noch als experimentell anzusehen, bis die Ergebnisse in großen, randomisierten kontrollierten Studien bestätigt werden können. Das gleiche gilt für die manualisierte Musiktherapie, für die in einer kontrollierten Pilotstudie nach neun Sitzungen eine Reduktion des Tinnitusschweregrades nachgewiesen werden konnte.

Pharmakotherapie des Tinnitus

Zahlreiche Pharmaka mit unterschiedlichen Wirkprinzipien wurden zur Behandlung von Tinnitus untersucht. Für manche Präparate finden sich in einzelnen randomisierten klinischen Studien Hinweise für eine mögliche Wirksamkeit, es liegen jedoch für kein einziges Präparat replizierte positive Ergebnisse von randomisierten klinischen Studien mit ausreichender Evidenz oder positive Ergebnisse von Metaanalysen vor. Dementsprechend ist auch weder von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) noch von der Food and Drug Administration (FDA) in den USA ein Präparat für die Behandlung von chronischem Tinnitus zugelassen.

Die Indikation zur Pharmakotherapie beschränkt sich daher auf die Behandlung von Komorbiditäten wie Angst-, Schlaf- und depressiven Störungen. Die pharmakologische Behandlung dieser Komorbiditäten entsprechend der gültigen Leitlinien wird dabei ausdrücklich empfohlen, da eine suffiziente Behandlung der Komorbiditäten die Gesamtbelastung der Patienten deutlich verringert.

Bei akutem Tinnitus im Zusammenhang mit akuten Hörstörungen kann die pharmakologische Behandlung der akuten Hörstörung indiziert sein. Dabei besteht für die orale sowie für die intratympanische Steroidbehandlung eine gewisse Evidenz. Die Gabe von Hydroxyethylstärke (HAES) ist bei fehlendem Wirksamkeitsnachweis und in Anbetracht des Nebenwirkungsprofils als obsolet zu betrachten.

Gehirnstimulationsverfahren

Mit zunehmender Kenntnis über die neuronalen Mechanismen des Tinnitus wurden in den vergangenen zehn Jahren Gehirnstimulationsverfahren als neuartige Therapieverfahren untersucht. Für die repetitive transkranielle Magnetstimulation von auditorischen Gehirnarealen sind basierend auf systematischen Reviews kurzzeitige Behandlungseffekte nachweisbar. Es sind jedoch weitere Studien notwendig, um Aussagen über länger anhaltende Effekte machen zu können. Daher muss derzeit eine Empfehlung noch offen bleiben. Auch andere Gehirnstimulationsverfahren wie die transkranielle Elektrostimulation, die Vagusnervstimulation und die tiefe Hirnstimulation werden derzeit zur Tinnitustherapie untersucht. Deren endgültige Wirksamkeit kann jedoch derzeitig noch nicht beurteilt werden.

Komplementäre Therapieverfahren

Vielfältige weitere und zum Teil auch alternative Therapieverfahren, wie zum Beispiel Lasertherapie, hyperbare Sauerstofftherapie und Akupunktur wurden zur Tinnitustherapie untersucht. Ein Nutzen dieser Maßnahmen zur Behandlung von chronischem Tinnitus ist nicht belegt. Es finden sich jedoch Hinweise dafür, dass Selbsthilfe (zum Beispiel im Rahmen von Selbsthilfegruppen) zur Tinnitusbewältigung beitragen kann. Wenn Tinnitus mit Beschwerden im Bereich des Kiefergelenkes oder der HWS einhergeht, dann können physiotherapeutische Maßnahmen zur Behandlung dieser Komorbiditäten indiziert sein.

Diskussion

Trotz der Häufigkeit des Symptoms Tinnitus und seiner sozioökonomischen Bedeutung ist die Standardisierung in der Behandlung noch auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Das zeigt sich auch daran, dass erst in diesem Jahr in Deutschland eine S3-Leitlinie erstellt wurde und auch die erste US-amerikanische Leitlinie erst im Jahre 2014 veröffentlicht wurde.

Die Gründe dafür liegen in der sehr heterogenen methodischen Qualität von Therapiestudien, was auch in allen verfügbaren Cochrane Meta-Analysen im Bereich Tinnitus zum Ausdruck gebracht wird. Auch existiert derzeit kein valides objektives Maß, um das Vorhandensein von Tinnitus bzw. die Effekte potenzieller Behandlungsansätze zu messen. Für die meisten der derzeit angewandten Behandlungsmethoden bei Tinnitus liegt nur begrenzte Evidenz vor. In vielen Behandlungsstudien zeigten sich positive Effekte für einzelne Patienten, aber nicht für das gesamte untersuchte Kollektiv. Dies scheint zumindest zum Teil auf die Heterogenität von Tinnitus zurückzuführen zu sein. Es wird angenommen, dass sich unter dem Oberbegriff „Tinnitus“ verschiedene klinisch und pathophysiologisch zu unterscheidende Subtypen verbergen, die in unterschiedlicher Weise auf einzelne Therapieformen ansprechen.

Trotz der Verfügbarkeit verschiedener vielfältiger Therapieformen bleibt die Behandlung des chronischen Tinnitus anhaltend eine Herausforderung, jedoch besteht kein Anlass zu therapeutischem Nihilismus. Die ärztliche Aussage „da kann man nichts machen“ sollte der Vergangenheit angehören. Dabei ist die Zusammenarbeit der verschiedenen Fachdisziplinen in der Diagnostik und Therapie des Tinnitus von entscheidender Bedeutung. Dies zeigt sich exemplarisch in einer großen randomisierten kontrollierten Studie, in der ein gestuftes multidisziplinäres Therapieprogramm evaluiert wurde, das im Wesentlichen aus Counseling, auditorischer Stimulation, Verhaltenstherapie und psychosozialer Betreuung besteht und bei dem klinische Psychologen, Bewegungstherapeuten, Physiotherapeuten, Audiologen, Sozialarbeiter und Sprachtherapeuten involviert waren. Das gestufte multidisziplinäre Therapieprogramm war der Standardtherapie nach zwölf Monaten hochsignifikant überlegen im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensqualität, den Tinnitusschweregrad und die Behinderung durch das Ohrgeräusch.

Auch ist es für Patienten mit chronischem Tinnitus entscheidend, ob der direkt behandelnde Arzt mit offenkundiger Hilflosigkeit auf die geschilderten Beschwerden reagiert, oder ob vielmehr das Angebot einer therapeutischen Beziehungsgestaltung durchgängig aufrechterhalten wird. Es ist von großer Bedeutung, dass diese Patienten mit ihrem behandelnden Arzt einen verlässlichen Ansprechpartner und professionellen Berater an ihrer Seite wissen, mit dem sie die jeweiligen nächsten diagnostischen und therapeutischen Schritte nach einer kritischen Abwägung der Behandlungsindikation gemeinsam angehen können. Viele Patienten fühlen sich nach Ausschluss somatisch ursächlicher Grundlagen des Tinnitus bereits nach einer Aufklärung über die grundsätzlich gutartige Natur der Ohrgeräusche entlastet, was den Weg für die Entwicklung von positiven Coping- und Habituationsstrategien öffnet. Wissenschaftliche Anstrengungen in der Zukunft sollten dennoch darauf abzielen, Ansätze zu finden, die nicht nur die Folgen der Tinnituswahrnehmung beeinflussen, sondern auch die Qualität und Quantität der Tinnituswahrnehmung an sich reduzieren.

 

Das Literaturverzeichnis kann bei den Verfassern angefordert oder im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Die Autoren erklären, dass sie keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten haben, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.


Privatdozent Dr. Berthold Langguth


 Dr. Veronika Vielsmeier


Professor Dr. Tobias Kleinjung

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