Der „interessante Fall“ aus der Gutachterstelle - Folge 6: Haftung bei unvollständiger Befunderhebung

Der "interessante Fall"

Die Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen bei der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) möchte anhand ausgewählter, anonymisierter Fallbeispiele Kolleginnen und Kollegen für bestimmte klinische und rechtliche Themen sensibilisieren und somit in ihrer täglichen Arbeit unterstützen.

In der hausärztlichen Praxis wird der behandelnde Arzt mit einer Vielfalt an Symptomen und Krankheitsbildern konfrontiert. Sicher kann man von ihm nicht verlangen, dass er immer mit dem ersten Griff in die richtige „diagnostische Schublade“ greift. Wenn aber eine schwerwiegende Erkrankung differenzialdiagnostisch zumindest im Raum steht, muss er am Ball bleiben, bis er entweder die zutreffende Diagnose gestellt oder mögliche für den Patienten bedrohliche Erkrankungen sicher ausgeschlossen hat. Tut er das nicht, droht regelmäßig als juristische Konsequenz der Befunderhebungsfehler mit haftungsrechtlich schwerwiegenden Konsequenzen.

Medizinischer Sachverhalt

Ein Patient stellte sich wegen eines seit länger bestehenden trockenen Reizhustens bei seinem Hausarzt (Facharzt für Innere Medizin) vor. Dieser auskultierte die Lunge und inspizierte den Rachenring. Beide Untersuchungen ergaben keine Auffälligkeiten. Der Arzt verschrieb dem Patienten einen kodeinhaltigen Hustensaft. Die nächste Vorstellung erfolgte knapp einen Monat später. In der Behandlungsdokumentation wird neben dem weiter bestehenden, allerdings „leichteren“ Husten, ein Gewichtsverlust von sechs Kilogramm sowie Nachtschweiß und nächtliches Fieber vermerkt. Eine Blutuntersuchung erbrachte eine Erhöhung der Leukozyten auf 10.2/nl, eine Erniedrigung des Hämoglobins auf 11,3 g/dl und eine Erhöhung des CRP-Wertes auf 32,1 mg/l. Das Ergebnis einer am Folgetag durchgeführten Sonografie der Bauchorgane war, bis auf eine „grenzwertig große“ Milz, unauffällig. Eine vom Hausarzt in Auftrag gegebene Röntgenuntersuchung der Lunge, die eine Woche später durchgeführt wurde, zeigte „vermehrte streifige peribronchiale Strukturen links im Mittel-Unterfeld sowie rechts dorsobasal“; der Befund wurde als „vereinbar mit geringen entzündlichen Veränderungen, zum Beispiel auch atypischer Pneumonie“ beschrieben. Im weiteren Verlauf stellten sich die auffälligen Laborwerte (Anämie, Leukozytose und CRP-Erhöhung) im Wesentlichen unverändert dar. Ein Differenzialblutbild zeigte eine Erhöhung der neutrophilen Leukozyten (82 Prozent) und eine Erniedrigung der Lymphozyten (13 Prozent). Ca. sieben Wochen nach der Erstkonsultation wurde wegen des Verdachts auf eine Eisenmangelanämie mit der intravenösen Gabe eines Eisenpräparats begonnen; insgesamt erfolgten fünf Injektionen. Weitere Untersuchungen wurden in der Krankenakte nicht dokumentiert. Zwei Monate nach der Erstkonsultation erfolgte eine Krankenhauseinweisung des Patienten. Im Krankenhaus wurde die Diagnose einer hochgradigen Aortenklappeninsuffizienz bei dringendem Verdacht auf eine infektiöse Aortenklappenendokarditis gestellt und eine kalkulierte Antibiotikatherapie eingeleitet. Aufgrund der Aortenklappeninsuffizienz, einer dekompensierten globalen Herzinsuffizienz mit großen beidseitigen Pleuraergüssen und einer hochgradigen beidseitigen Lungenstauung wurde die Indikation für einen dringlichen Aortenklappenersatz gestellt und der Patient in eine Klinik für Herzchirurgie verlegt, wo der operative Eingriff kurz darauf auch durchgeführt wurde.

Vorwurf

Der Patient wandte sich über seinen Rechtsanwalt an die Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen. Er bat um Überprüfung der Behandlung und führte aus, dass sein Hausarzt – aus seiner Sicht fehlerhaft – nicht an die tatsächlich vorliegende Diagnose einer Aortenklappenendokarditis gedacht bzw. keine weiterführenden Untersuchungen und auch keine Überweisung an einen Kardiologen veranlasst habe. Der Arzt sei fälschlicherweise von einer malignen Erkrankung ausgegangen.
Der Patient ging davon aus, dass bei einer rechtzeitigen korrekten Diagnosestellung eine Herzoperation und die weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen (unter anderem eingeschränkte Leistungsfähigkeit) hätten verhindert werden können.

Gutachten

Nachdem sich der beschuldigte Arzt und die zuständige Haftpflichtversicherung mit der Durchführung des freiwilligen Gutachterverfahrens einverstanden erklärt hatten, holte die Gutachterstelle ein externes Sachverständigengutachten ein, mit dem geklärt werden sollte, ob die durchgeführte Behandlung dem zu fordernden medizinischen (Mindest-)Standard entsprach.
Der Gutachter führte in seiner Stellungnahme aus, dass es sich bei dem Symptomkomplex aus Gewichtsverlust, Fieber und Nachtschweiß um eine sogenannte „B-Symptomatik“ handele, die ein Anzeichen für eine schwere, den ganzen Körper betreffende Erkrankung sei. Beim Vorliegen einer B-Symptomatik müsse man differenzialdiagnostisch insbesondere an zwei Erkrankungsgruppen denken: Einerseits an eine infektiöse Erkrankung (zum Beispiel Tuberkulose, Sarkoidose, bakterielle oder virale Infektionen), andererseits an eine Tumorerkrankung (zum Beispiel Leukämien, Lymphome, solide Malignome).
Bei derartigen schwerwiegenden Erkrankungen sei es besonders wichtig, in möglichst kurzer Zeit durch geeignete Untersuchungen zu einer definitiven Diagnose zu kommen. Im vorliegenden Fall wäre aus Sicht des Gutachters die Differenzialdiagnostik bis zur endgültigen Klärung in „beide Richtungen“ zu verfolgen gewesen, das heißt bis zum Nachweis bzw. Ausschluss einer infektiösen oder bösartigen Erkrankung.
Es war nach Auffassung des Gutachters nachvollziehbar, dass der Arzt bei der vorliegenden Symp­tomatik an eine bösartige Erkrankung gedacht hatte. Allerdings erfolgte weder eine endgültige abgesicherte Diagnosestellung noch ein zeitnahes, sorgfältiges „Abarbeiten“ der wichtigsten Differenzialdiagnosen.
Beispielsweise wäre hinsichtlich des lang anhaltenden trockenen Hustens zusätzlich zur Röntgen-Thorax-Aufnahme eine Lungenfunktionsprüfung erforderlich gewesen, gegebenenfalls auch eine weiterführende Diagnostik durch einen Lungenfacharzt, so der Gutachter.
In jedem Falle hätten im Verlauf weitere körperliche Untersuchungen mit Auskultation der Lunge und des Herzens, eine Temperaturmessung und ein EKG durchgeführt werden müssen, gegebenenfalls ferner eine Überweisung zu einem Kardiologen.
Die in der Sonografie als grenzwertig groß beschriebene Milz hätte in Verbindung mit dem chronischen Husten und der bestehenden ­B-Symptomatik als (unspezifisches) Zeichen für eine mögliche Endokarditis gedeutet werden können.
Zusammenfassend legte sich der Antragsgegner zu früh auf eine Diagnose fest und unterließ die aus Sicht des Gutachters zeitnah gebotene differenzialdiagnostische Abklärung des Symptomkomplexes aus chronischem Husten, B-Symptomatik und erhöhten Entzündungsparametern.
Wäre beispielsweise im Rahmen der differenzialdiagnostischen Abklärung eine Echokardiografie durchgeführt worden, wäre nach Auffassung des Gutachters bei dieser Untersuchung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiges Ergebnis (Nachweis von Vegetationen an der Aortenklappe) sichtbar geworden. Infolge dieses Befundes hätte zeitnah eine Antibiotikatherapie eingeleitet werden müssen, wodurch ein Klappenersatz möglicherweise hätte verhindert werden können.

Entscheidung der Gutachterstelle

Nach Ansicht der Gutachterkommission war es nicht falsch, bei der vorliegenden Symptomkonstellation an eine maligne Erkrankung gedacht und eine entsprechende Diagnostik durchgeführt bzw. veranlasst zu haben.
Genauso wie der eingeschaltete externe Gutachter bewertete die Kommission es aber als behandlungsfehlerhaft, dass der Antragsgegner differenzialdiagnostisch im Rahmen des Nachweises bzw. Ausschlusses einer infektiösen Erkrankung offensichtlich nicht an das Vorliegen einer Endokarditis gedacht und keine diesbezügliche weiterführende Diagnostik durchgeführt oder veranlasst hatte. Es fehlte insbesondere ein in dieser Situation häufig richtungsweisender kardialer Auskultationsbefund und ein Echokardiogramm.
Das externe Gutachten ließ allerdings offen, ob auch bei standardgemäßer ärztlicher Behandlung die Herzoperation des Patienten hätte verhindert werden können. Der Kausalzusammenhang zwischen dem festgestellten Fehler und dem vom Patienten vorgetragenen Gesundheitsschaden war also zweifelhaft. Nachdem grundsätzlich der Patient die Beweislast dafür trägt, dass der Fehler zu einem Gesundheitsschaden geführt hat, und dieser Beweis nicht erbracht werden konnte, hätte dies dazu geführt, dass dem Patienten kein Schadensersatzanspruch zusteht.
Nach Auffassung der Kommission war allerdings das ärztliche Vorgehen als Befunderhebungsfehler zu bewerten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs führt eine fehlerhafte Unterlassung der medizinisch gebotenen Befunderhebung zu einer Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Schaden, wenn sich bei der gebotenen Befunderhebung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit (> 50 Prozent) ein reaktionspflichtiges positives Ergebnis gezeigt hätte und wenn sich die Nichtreaktion hierauf als grob fehlerhaft darstellen würde.
So lag der Fall hier. Eine Überweisung zum Kardiologen wäre zweifelsfrei geboten gewesen. Eine Echokardiografie hätte, wie auch der Gutachter ausführt, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Nachweis von Vegetationen an der Aortenklappe geführt und damit die Endokarditis nachgewiesen. Eine Nichtreaktion hierauf würde sich als grob fehlerhaft darstellen; außerdem hätte eine zeitnahe Antibiotikatherapie unter Umständen den Klappenersatz verhindern können.
Durch die Annahme des Befunderhebungsfehlers kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass der Antragsgegner (Beweislastumkehr) zu beweisen hatte, dass der von ihm begangene Behandlungsfehler den Gesundheitsschaden (Aortenklappenersatz usw.) nicht verursacht hat. Diesen Beweis konnte der Antragsgegner jedoch nicht erbringen.
Aus Beweislastgründen war deshalb anzunehmen, dass die fortgeschrittene infektiöse Endokarditis mit dem Erfordernis des Klappenersatzes und die sich daraus ergebenden Einschränkungen des körperlichen Leistungsvermögens durch den Behandlungsfehler mitverursacht worden ist.
Der Nachweis des Befunderhebungsfehlers begründete somit im vorliegenden Fall die Haftung des Antragsgegners.

 

Autoren:
Dr. Wilfried Rothenberger
Dr. Christian Schlesiger
Alban Braun

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