Das heutige und künftige Gesundheitssystem in Bayern

Arbeitstagung des 76. Bayerischen Ärztetages

Klänge von Mozart, Grußworte aus Lokal- und Landespolitik und eine Keynote über das Medizinstudium und den Wissenschaftsbezug in den kommenden Jahren stimmten die über 300 geladenen Gäste bei der Auftaktveranstaltung zum Bayerischen Ärztetag in Rosenheim in die Beratungen des 76. Bayerischen Ärztetages ein.


Gabriele Bauer, Dr. Wolfgang Rechl, Dr. Max Kaplan, Melanie Huml, Dr. Heidemarie Lux und Universitätsprofessor Dr. Markus Müller (v. li.) bei der Eröffnungsveranstaltung des 76. Bayerischen Ärztetages.

Öffentliche Diskussion

In seiner Begrüßung erklärte der Präsident der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK), Dr. Max Kaplan, die Themen, die auf dem Bayerischen Ärztetag diskutiert werden, in einem persönlichen Schreiben an Staatsminister Dr. Marcel Huber bereits in die laufenden Koalitionsverhandlungen eingebracht zu haben. Er nannte Punkte und Beschlüsse zu aktuellen gesundheits- und medizinpolitischen Themen, die auch nach der Bundestagswahl – trotz anderer politischer Vorzeichen – die gleichen geblieben seien, nämlich: Die erforderliche Stärkung der ärztlichen Freiberuflichkeit, die Förderung des ärztlichen Nachwuchses, die Notwendigkeit von bedarfsgerechten Konzepten für Kooperationen im Gesundheitswesen und die künftige Rolle des Arztes. Wichtig seien außerdem die Weiterentwicklung einer sektorenübergreifenden Versorgung und Qualitätssicherung sowie der Erhalt des dualen Krankenversicherungssystems bei gleichzeitiger Novellierung der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung. Auch sei es nicht nachvollziehbar, wie auf der Grundlage der überarbeiteten Leitlinien zur Überprüfung von Heilpraktiker-Anwärtern die Gefahrenabwehr und damit Patienten-sicherheit erfolgen soll. Völlig verkannt werde die Komplexität des medizinischen Kontextes, insbesondere das Ausmaß des notwendigen medizinischen Wissens, das für eine gefahrenminimierte Ausübung der Heilkunde notwendig ist. „Jetzt ist es unsere Chance, uns zu positionieren, wozu wir unseren Bayerischen Ärztetag auch wahrnehmen sollten“, appellierte Kaplan an die Gäste.


Gabriele Bauer: „Zum Mediziner gehört ebenso viel Herz wie Hirn“.

Hervorragende Vernetzung

Gabriele Bauer, Oberbürgermeisterin der Stadt Rosenheim, lobte in ihrem Grußwort das Engagement der Region Rosenheim und die Anstrengungen der Ärztinnen und Ärzte, die medizinische Versorgung der „Perle am Inn“ auf einem hohen Niveau zu halten. „Die Stadt und der Landkreis Rosenheim haben bayernweit das dichteste Netz an Kliniken und Krankenhäusern, die ein weites Spektrum möglicher Behandlungen und Therapien abdecken.“ Auch sei die Versorgung mit niedergelassenen Ärzten aller Fachrichtungen hervorragend. Dafür investiere die Stadt und mit ihr der Landkreis eine Menge. Ortansässige Kliniken kooperierten mit Universitätskliniken in München und sorgten für einen herausragenden Ruf. Anspruch sei es, auf Höhe der technischen Entwicklung zu bleiben, die Stationen auf dem neuesten Stand zu halten und für Ärzte wie für das Pflegepersonal optimale Bedingungen zu schaffen. Dies erfordere außerordentlich hohe Investitionen und die Bereitschaft, einen Investitionsschwerpunkt zu setzen. „Wir sind dazu bereit und wollen hier eindeutige Prioritäten setzen“, versicherte Bauer. Sie verwies auch auf die Herausforderungen, die das heutige Gesundheitswesen an die Ärzte und alle anderen Gesundheitsberufe stelle. Der Mangel an Allgemeinärzten, aber auch die Engpässe bei der künftigen Versorgung mit Fachärzten, zum Beispiel für Kinderheilkunde, müsse ernstgenommen werden. Bauer appellierte, in Zukunft für ausreichend qualifizierten Nachwuchs sorgen zu müssen. Sie stellte infrage, ob das derzeitige System der Studienzulassung adäquat sei. Das Medizinstudium sei, ohne Frage, eines der anspruchsvollsten überhaupt, jedoch „gehört zum Mediziner ebenso viel Herz wie Hirn“, betonte die Oberbürgermeisterin. Es sei legitim, die Frage zu stellen, ob bei der Auswahl der Studenten die soziale Kompetenz nicht mit der Abiturnote gleichgestellt werden sollte.

Attraktivität der Ausbildung steigern

Bauer sprach auch über die angespannte personelle Situation in der Pflege und auf einigen Geburtsstationen. Mancherorts müssten diese aufgrund des Hebammenmangels vorübergehend schließen. Hier seien dringend Maßnahmen zur Attraktivitätssteigerung erforderlich. Ob dies im Bereich der Krankenpflege durch die Einführung der generalistischen Ausbildung nach dem neuen Pflegeberufegesetz gelingen werde, bleibe abzuwarten. „Ich sehe die Lösung nicht in einer Akademisierung der Pflegeberufe, wie dies oftmals gefordert wird“, betonte Bauer und bekam Applaus. Hingegen müsse die Attraktivität der Ausbildung gesteigert und der Stellenwert der beruflichen Bildung erhöht werden.


Prominenz in der ersten Reihe.

Ärztlicher Nachwuchs

Auch die Bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege, Melanie Huml (CSU), nahm in ihrem Grußwort Bezug zu der personellen Situation in den Gesundheitsberufen und betonte den steigenden Bedarf an Ärztinnen und Ärzten. Dies zeige auch die Entwicklung der Anzahl der ausländischen Ärzte in Bayern, die innerhalb eines Jahres um neun Prozent gestiegen sei. „Auf Dauer sollten wir es nicht darauf anlegen, Ärzte aus dem Ausland zu importieren“, warnte Huml. Auch könne es nicht sein, dass begabte junge Menschen darauf angewiesen seien, im Ausland einen Medizinstudienplatz zu erhalten. Huml forderte eine flächendeckende Umsetzung des Masterplans Medizinstudium 2020 und monierte die Trägheit der anderen Länder. Anders als in Bayern, wo mit einer neuen medizinischen Fakultät in Augsburg künftig 252 zusätzliche Medizinstudienplätze geschaffen werden, hätten die meisten Wissenschafts- und Gesundheitsminister noch keine finanziellen Mittel aufgebracht, um in die zukünftige medizinische Versorgung zu investieren. Sie werde dafür kämpfen, dass auch die anderen Länder die Zahl ihrer Medizinstudienplätze erhöhen. Zudem müsse der Zugang zum Medizinstudium reformiert werden. Wie Bauer betonte auch Huml, die Auswahlkriterien der Hochschulen erweitern zu müssen. „Alleine die Abiturnote ist keine Garantie, dass jemand ein guter, den Patienten zugewandter Arzt wird.“ Auch die Erfahrung oder eine Ausbildung in medizinischen Berufen sollte stärker gewichtet werden. Die Ministerin verwies zudem auf die Notwendigkeit, die Allgemeinmedizin zu stärken und forderte an allen medizinischen Fakultäten Lehrstühle für Allgemeinmedizin einzurichten. Im Praktischen Jahr sollten die Studierenden nicht nur die hochspezialisierte Universitätsmedizin kennenlernen, sondern auch die ambulante Praxis. Um den Nachwuchs dauerhaft im ländlichen Raum anzusiedeln, sei es erforderlich dortige Lehrkrankenhäuser einzubinden.

Nachhaltige Finanzierung

„Die Sicherstellung der medizinischen Versorgung gelingt jedoch nicht durch die Ausbildung der Ärzte allein“, sagte Huml. Eine verantwortungsvolle und nachhaltige Finanzierung des Gesundheitssystems sei genauso entscheidend. Sie betonte die Bedeutung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung. Kritisch äußerte sie sich zum morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA). Dieser könne die regionalen Kostenunterschiede für Gesundheitsleistungen in Deutschland nicht ausgleichen. Es brauche hier eine regionale Komponente. Inzwischen habe der Fehlbetrag zwischen Leistungsausgaben der Krankenkassen und Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds zwischen 2009 und 2014 mindestens eine Milliarde Euro erreicht.

Koalitionsverhandlungen

Mit Blick auf die Sondierungen in Berlin machte die Ministerin deutlich, dass um Kompromisse und Lösungen in manchen Bereichen intensiv gerungen werden müsse. Sie betonte die Verantwortung eines jeden Einzelnen, einen zukunftsorientierten Regierungsfahrplan zu entwerfen, der das große Ganze berücksichtige. Nur mit einer nachhaltigen Finanzierung des Gesundheitswesens gelänge der Erhalt einer qualitativ hochwertigen Versorgung. Wichtig sei zudem, sich den Themen zu widmen, die die Menschen aufrüttelten, wie zum Beispiel der Hebammenmangel und die hohen Haftpflichtprämien der Belegärzte im Bereich Geburtshilfe. Huml forderte eine Reduzierung der Haftpflichtprämien und schlug vor, die Geburtshilfe in die Richtlinie zu den Sicherstellungszuschlägen des G-BA mitaufzunehmen.

Universitätsprofessor Dr. Markus Müller: „Ressourcenüberschuss im Bereich der medizinischen Versorgung oder die ‚Droge Arzt‘“.

„Medizinstudium am Turning Point“

Universitätsprofessor Dr. med. univ. Markus Müller, Rektor der Medizinischen Universität Wien, warf in seiner Keynote einen Blick auf die Entwicklungen der medizinischen Versorgung in naher und in ferner Zukunft. Zunächst blickte er zurück und sprach über die Situation an den österreichischen Universitäten in den Neunzigerjahren. Damals habe es noch keine Zulassungsbeschränkungen zum Studium gegeben, was eine Ärzteschwemme und schlechte Arbeitsbedingungen nach sich gezogen habe. Zwar gebe es heute in Österreich wie in den meisten Ländern eine Zulassungsbeschränkung für das Medizinstudium, zugleich herrsche in Wien und im ganzen Land heute ein Ressourcenüberschuss im Bereich der medizinischen Versorgung. Müller nannte es die „Droge Arzt“. Egal, wie viele Krankenhäuser in der Vergangenheit gebaut worden seien, es habe immer genügend Ärzte in Österreich gegeben. Resultat dieser Entwicklung sei, dass eine stagnierend hohe Bettendichte heute einen effizienteren Umgang mit Geldern und Arbeitskräften im ärztlichen Bereich erforderte.

Herausforderungen heute und in Zukunft

Heute sei der Ärztemangel in der Peripherie bei einer gleichzeitig immer mobiler werdenden jungen Generation das gegenwärtige Bild. „Wir stehen damit vor großen Herausforderungen, vor disruptiven Veränderungen“, nannte es Müller. Die jungen Leute stünden in einem globalen Wettbewerb, der in vielen Köpfen Unbehagen auslöse. Österreich als „Nettoexporteur“ von ausgebildeten Ärzten sei hierbei keineswegs effizient. Im Zuge von Urbanisierung, Globalisierung und Digitalisierung verließen rund 30 Prozent der Absolventen eines Medizinstudiums das Land. Gleichzeitig hätten die Universitäten beständig den Anspruch, an der Front des Wissens zu stehen und sich – entsprechend der gesellschaftlichen Änderungen – zu reformieren.

Müller knüpfte mit der Frage an, inwieweit die klassisch-akademische Medizinerausbildung noch legitimiert sei. Akademische Bildung sei kein Prozess individueller Reifung sondern werde nach dem österreichischen Philosophen Konrad Liessmann, als „ökonomisches Glücks- und Erfolgsversprechen“ einer Wissenschaftsgesellschaft wahrgenommen. Heute sei dies eine Paradoxie, da der Rohstoff „Wissen“, die „geschützte Wissensgilde“, wie Müller sie nennt, durch die digitale Revolution demokratisiert und ökonomisch entwertet worden sei. Heute habe jeder zu jedem Zeitpunkt Zugang zu jeder Form des Wissens. Die Folgen dessen seien ein sinkender „return on investment“ und eine immer größere Zahl an Diplomen, eine „education bubble“.


Gabriele Henn (Flöte), Katja Maderer (Violine), Sophie Kiening (Viola) und Dr. Jochen Henn (Violoncello), stimmten die Gäste der Auftaktveranstaltung des Bayerischen Ärztetages mit einem Flötenquartett von Mozart ein (v. li.).

Zukunftsthesen

So stelle sich die Frage, wozu es eigentlich Universitäten gebe und vor allem, wie es nun weitergehe mit der wissenschaftlich-akademischen Bildung? Müller skizzierte vier Zukunftsthesen, in denen er umriss, wie die Welt in naher und in ferner Zukunft sein könnte und worin die Aufgaben der Universitäten dann liegen. Zunächst müsse man davon ausgehen, dass sich die Praxis der Medizin weiter wandeln werde. Diagnosen und Therapien werden sich durch „omics“-Technologien1 und den Trend der Personalisierung verändern. So werden die Digitalisierung und ihre schnell wachsenden Kinder, die „Artificial Intelligence“ und das „Machine Learning“, wie Müller es nennt, die Routineversorgung revolutionieren und menschliche Arbeitskraft und Expertise langfristig ersetzen. Müller prognostizierte, dass medizinische Forschung und die Versorgungsroutine nicht mehr streng getrennt abliefen und in Zukunft ein Kontinuum bildeten. Bereits jetzt werde ein immer größerer Teil der Patienten in klinischen Studien behandelt. „Early access“ und „adaptive appropoval“, also stufenweise Zulassungsprozesse wie bereits heute von der Europäischen Zulassungsbehörde angeregt, werden tägliche Praxis werden. Weiter führte Müller aus, dass in der Medizin viele komplett neue Arbeitsplätze entstehen würden. Er sprach von den sogenannten „health care workers“, die sich innerhalb einer Spezialisierungspyramide und einem stark differenzierten Ausbildungssystem bewegten. So werde, und damit kam Müller zu seiner abschließenden These, in Zukunft ein stärker differenziertes Angebot für „health care workers“ benötigt. Bereits jetzt führe der Erfolg der wissenschaftsorientierten Medizin zu einer stark steigenden Zahl an Gründungen neuer Universitäten und Ausbildungsstätten, vor allem in Asien, in denen Roboter Arbeitsprozesse bereits übernähmen. Für die Wissenschaft und für die Universitäten bedeute dies, dass die Forschungs-Universitäten künftig an der Spitze stünden, die in der Lage seien, moderne wissenschaftliche Curricula anzubieten. Die Basis bildeten forschungsfreie Institutionen. Ärzte werden damit künftig primär an starken, zukunftsorientierten Standorten mit Forschungs-Universitäten ausgebildet.

„Für die Zukunft der akademischen Ausbildung sind diese Thesen entscheidend“, schloss Müller. Er mahnte, in einem globalen Wettbewerb mehr auf wissenschaftlich orientierte Inhalte, also T-shape, und die Fähigkeit zum Umgang mit Konvergenzthemen setzen zu müssen. Zugleich machte er klar: „Universitäre Medizin kann aber auch nicht alle Probleme ineffizienter Gesundheitssysteme, der Demografie und der Urbanisierung lösen.“

Sophia Pelzer (BLÄK)

 

 

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