Brüsseler Notbremse bei umstrittener Medizinprodukteverordnung – können Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten aufatmen?

Medizinprodukteverordnung

Medizinprodukte sind neben den Arzneimitteln unverzichtbare Arbeits- und Hilfsmittel der modernen Medizin. Die Produktpalette umfasst unter anderem Verbandsstoffe, ­medizinische Hilfsmittel, chirurgische Instrumente, Katheter, Endoskope, Implantate und reicht bis hin zu Nasentropfen und medizinischer Software. Europäischer Marktführer ist die stark mittelständisch geprägte deutsche Medizintechnikindustrie mit mehr als 235.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie einem Gesamtjahresumsatz von über 36 Milliarden Euro (2021).


Die Voraussetzung für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten ist die CE-Kennzeichnung, für die grundlegende Sicherheits- und Leistungsanforderungen erfüllt werden müssen („Konformitätsbewertung“). Seit dem 26. Mai 2021 löst die Verordnung (EU) 2017/745 über Medizinprodukte (Medical Device Regulation; kurz MDR) jahrzehnte­lang gültige und vorbildlich funktionierende Vorschriften und Prozesse des Inverkehrbringens und der Bereitstellung auf dem Markt von Medizinprodukten ab – für die europäische Medizinproduktebranche ein regulatorischer Orkan.

Für die EU-Kommission war der PIP-Brustimplantate-Skandal Mitauslöser für die MDR-Novellierung mit dem erklärten Ziel, maximale Transparenz und Patientensicherheit zu schaffen. Die Verordnung macht neue Daten, Nachweise und klinische Studien für alle neuen Medizinprodukte, aber genauso auch für alle seit Jahren im Markt erfolgreich angewandten Bestandsprodukte zwingend notwendig.

Die MDR hat sich nach Umfragen der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) und den Medizinprodukteverbänden als teuer, extrem bürokratisch, zeitaufwendig und nicht praxistauglich erwiesen.  Unternehmen sind mit deutlich mehr Bürokratie und erheblichen Kostensteigerungen konfrontiert, die insbesondere die Entwicklung und Vermarktung von Nischenprodukten oft unrentabel machen.

Benannte Stellen

Um die 90.000 Wörter umfassende MDR mit über 70 Leitfäden zur Erläuterung des schwer verständlichen und teilweise fehlerhaften Textes überhaupt interpretieren und die erforderliche Dokumentation zusammenstellen zu können, sind die Unternehmen gezwungen, Fachleute einzustellen, welche auf dem Arbeitsmarkt nicht vorhanden sind. Das gilt auch auf der Seite der zulassenden Benannten Stellen, die unter erhöhten Anforderungen neu akkreditiert werden müssen („Joint Assessments“). Die geforderten klinischen Studien lassen sich nicht realisieren, da die entsprechenden Ethik-Kommissionen sowie Medizinerinnen und Mediziner aufwendige Prüfungen an bewährten Produkten ablehnen. Die Anzahl der Benannten Stellen nahm in den vergangenen Jahren stark ab, ein entscheidender Engpass für die Ausstellung neuer Zertifikate. Von den einst 80 Benannten Stellen sind aktuell nur 37 für die MDR akkreditiert. Noch müssen rund 23.000 von ursprünglich 25.000 Produktgruppenzertifikaten bis zum Ende der Übergangsperiode im Mai 2024 in die MDR überführt werden. In den vergangenen zwei Jahren wurden erst etwas mehr als 1.900 fertiggestellt, mit dem Zertifizierungstempo würden damit im Jahr 2024 voraussichtlich ca. 80 Prozent aller verfügbaren Medizinprodukte vom Markt verschwinden. Etliche Spezialprodukte sind schon heute nicht mehr verfügbar. Der Mangel schon länger spürbar. „Es gibt einzelne Produkte, die es so im Moment praktisch nicht gibt“, klagte Professor Dr. Matthias Gorenflo, Ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinderkardiologie und angeborene Herzfehler am Universitätsklinikum Heidelberg. Dann müsse man Kollegen in anderen Zentren ansprechen, „ob sie noch etwas übrig haben“, erläuterte er der Funke Mediengruppe. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, berichtete über alarmierende Entwicklungen aus den deutschen Krankenhäusern zu fehlenden Medizinprodukten, besonders bei Nischenprodukten, auch für Kinder und Neugeborene. Die bislang bei Neugeborenen verwendeten Ballonkatheter sind vom Markt verschwunden. „Die Krankenhäuser sind hier auf Lagerbestände und eine einzige nur unzureichende Alternative angewiesen.“

Eine Umfrage des DIHK belegt Produktionseinstellungen unter anderem bei Baby-Stents oder Radiofrequenzperforationskathetern für verklebte Herzklappen bei Neugeborenen. Diverse chirurgische Instrumente, Elektroden, Katheter, Endoskope, Implantate sowie Röntgentische, Sitz- und Aufstehbetten oder Elektrostimulationsgeräte. Für viele dieser Produkte gibt es keine Alternativen, insbesondere in der Kinderheilkunde, der Urologie, Orthopädie, Traumatologie, Rehabilitation und Rheumatologie und der ­Geburtshilfe/Gynäkologie. Stehen aber bestimmte Nischenprodukte für die medizinische Versorgung nicht mehr zur Verfügung, kann das zu einem vermehrten Einsatz von Produkten führen, die für diesen Zweck nicht zugelassen sind.

Fast jeder zweite Betrieb hat seine Innovationsprojekte nicht weiterentwickelt– im Bereich der Pädiatrie sind es sogar mehr als zwei Drittel der Unternehmen. Ein Fünftel der Unternehmen weicht bei der Erstzulassung ihrer medizintechnischen Innovationen auf andere Märkte wie etwa die USA oder Asien aus. Dies hat auch negative Auswirkungen auf die klinische Forschung und Entwicklung in Europa, da in der Folge klinische Datenerhebungen und Studien ebenfalls in die Länder der Erstzulassung verlagert werden.

Übergangsfrist

Wie im Frühjahr 2022 die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage zu der sich anbahnenden Katastrophe den Standpunkt vertrat, dass die Umsetzung der MDR sehr zufriedenstellend laufen würde, wird sicher ein Rätsel bleiben. Gesundheitsminister Karl Lauterbach beantwortete im Sommer eine parlamentarische Anfrage der CDU-Abgeordneten Diana Stöcker noch folgendermaßen: „Die Europäische Kommission lehnt zum jetzigen Zeitpunkt gesetzgeberische Maßnahmen, wie etwa eine Verlängerung der Übergangszeit ab, da dies die Probleme nicht lösen, sondern nur verschieben würde.“ Politiker aus Bayern und Baden-Württemberg schickten dem Minister einen „Brandbrief“ und Dr. Gerald Quitterer, Präsident der Bayerischen Landesärztekammer, intervenierte dazu sogar persönlich in Brüssel (Siehe auch Bayerisches Ärzteblatt 12/2022, ­S. 648). Passend vor dem letzten ­EPSCO-Meeting (EU-Gesundheitsministertreffen) kam ein vernichtendes Schreiben zur jetzigen Situation aus der Industrie, unterzeichnet von ca. 300 europäischen und US-Firmen, letztlich gerichtet an die EU-Gesundheitskommissarin. Nach zähem Ringen hat am 6. Januar die EU-Kommission einen Legislativvorschlag zur Änderung der MDR veröffentlicht. Wie im Feedback-Portal der Kommission zu ersehen ist, wird die Ankündigung in den Fachkreisen überwiegend positiv aufgenommen. Es steht damit auch zu erwarten, dass der Vorschlag im beschleunigten Mitentscheidungsverfahren vom Europäischen Parlament und dem Rat noch im Frühjahr angenommen werden wird. Damit wäre die akute Krise bei der Versorgung mit Medizinprodukten erst einmal abgewendet und die Übergangsfrist, nach der alle nicht bis Mai 2024 neu zertifizierten Medizinprodukte vom Markt verschwunden wären, um drei Jahre (Produkte der Risikoklassen III und IIb bis 2027) bzw. vier Jahre (alle anderen Produkte bis 2028) verlängert. Weiterhin soll eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden, die Möglichkeiten aufzeigen soll, wie zukünftig Nischenprodukte und Produkte für seltene Erkrankungen (Orphan Devices) in der MDR besonders geregelt werden. Bis zum Jahr 2027 soll im Auftrag der EU Kommission eine Evaluation über den Erfolg der Implementierung der MDR erfolgen.

Auch wenn die angekündigte Verlängerung der Übergangsfrist faktisch einen temporären ­Bestandsschutz für bewährte und sichere Altprodukte bedeutet, bewirkt sie aber lediglich eine Verlagerung des Problems in die Zukunft. Die strukturellen Probleme der MDR bleiben ungelöst, die erheblichen Kostensteigerungen von durchschnittlich 100 Prozent für die Konformitätsbewertung durch die Benannten Stellen, sowie die gravierende Verlängerung der Dauer der Bewertungsverfahren, welche insbesondere den kleinen Unternehmen große Schwierigkeiten bereiten. Hinzu kommen die Rechtsunsicherheit schaffende, sich zum Teil widersprechende Vielzahl der Leitfäden zur MDR und die immer noch nicht vollständig funktionierende Datenbank EUDAMED. Wenn es für die klein-volumigen Spezialprodukte keine Ausnahmeregelung gibt, werden diese für immer vom Markt verschwinden. Massive Preiserhöhungen bei den verbleibenden Medizinprodukten sind zu erwarten oder unvermeidlich. Die in der Umfrage des DIHK festgestellten Abwanderungstendenzen werden sich verstärken, Produktinnovationen werden zunächst im außereuropäischen Ausland eingeführt, insbesondere in den USA. Weitere logische Schritte sind die Verlagerung der F&E-Abteilungen als auch der klinischen Datenerhebungen und Studien ins Ausland. Die vom Verband forschender Arzneimittelhersteller (VFA) kürzlich veröffentliche Studie zum Abrutschen des Studienstandortes Deutschland und der Erosion der Fähigkeit, auf internationalem Niveau Studien durchzuführen, spricht Bände.

Eine echte Lösung sähe anders aus: eine grundlegende Überarbeitung der Verordnung mit Anforderungen an die Produktdokumentation, die an die tatsächlichen Produktrisiken angepasst sind, Entbürokratisierung und Beschleunigung der Zulassungsprozesse, Schaffung der Voraussetzungen für eine schnellere Akkreditierung weiterer Benannter Stellen.

Die Brüsseler Notbremse wird Ärzten und ­Patienten lediglich eine Atempause verschaffen.

https://www.spectaris.de/fileadmin/Content/Medizintechnik/Zahlen-Fakten-Publikationen/SPECTARIS_Jahrbuch_2022-2023_11-2022_Lesezeichen_2.pdf

https://www.dihk.de/de/themen-und-positionen/wirtschaftspolitik/gesundheitswirtschaft/eu-rechtsrahmen-fuer-medizinprodukte-praxisuntauglich-70752

https://health.ec.europa.eu/system/files/2023-01/mdr_proposal.pdf


https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13684-Medical-devices-transition-period-extension_en

https://www.vfa.de/de/presse/pressemitteilungen/pm-037-2022-studienstandort-deutschland-braucht-trendumkehr.html


Autoren

Privatdozent Dr. Dr. Jörg M. Schierholz
(MD, PhD; Physician and Chemist), Andechserstr. 70, 82319 Starnberg

Dr. Heinz Loevenich
MeTeCo – MedizinTechnikConsulting, Haldenstr. 7, 52249 Eschweiler

Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Dieter Adam
ehem. Dr. von Haunersches Kinderspital der Universität München

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