Belastende Verläufe - Folgen für die Patientensicherheit

Dr. Christian Schlesiger

Ein Behandlungsfehler mit Schädigung eines Patienten hinterlässt auch beim beteiligten Arzt Spuren. Unter dem Titel „Der betroffene Arzt“ berichtete das „Bayerische Ärzteblatt“ in seiner Ausgabe 1-2/2013 erstmals über das sogenannte „Second Victim“-Phänomen aus Sicht des Arztes. In diesem Artikel soll der Bogen zurück zum Patienten gespannt und die Betrachtung des Phänomens um die Frage erweitert werden, welche Auswirkungen es auf die Patientensicherheit haben kann.

Patientensicherheit – Faktor Mensch

Das Ziel aller Aktivitäten zur Patientensicherheit ist die Prävention von unerwünschten Ereignissen. Die Bemühungen um eine Verbesserung der Patientensicherheit sind seit vielen Jahren erfolgreich und erstrecken sich auf unterschiedliche Themen und Bereiche: „Critical-Incident-Reporting-Systeme“ (CIRS) wurden etabliert, Anforderungen an klinische Risikomanagementsysteme definiert, fehleranfällige organisatorische Prozesse auf den Prüfstand gestellt, Schnittstellen optimiert, Checklisten erstellt u.v.m. „Kommunikation und Patientensicherheit“ steht auf der Agenda der diesjährigen Jahrestagung des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS). Mit Blick auf den „Risikofaktor Mensch“ wird in der Regel vor allem dessen fachliche Qualifikation betrachtet. Ein aus meiner Sicht wichtiger Aspekt darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, nämlich die Frage, wie sich schwere Behandlungskomplikationen oder -fehler auf das Befinden und somit auch auf die Leistungsfähigkeit des betroffenen Arztes auswirken. Ich meine, dass es nur einem Arzt in einer stabilen seelischen Homöostase möglich ist, auch in belastenden und kritischen Situationen, wie der einer schweren Behandlungskomplikation oder eines -fehlers, seine Leistungsfähigkeit zu erhalten und seine medizinischen Fähigkeiten abzurufen. Den allermeisten Ärzten gelingt dies. Manche brauchen Unterstützung.

Zentrale Bedürfnisse und seelische Gesundheit

Jeder Mensch bemüht sich durch sein Verhalten – unbewusst oder bewusst –, für ihn zentrale Bedürfnisse zu befriedigen und korrespondierende Ängste zu vermeiden. Gelingt ihm dies, geht es ihm – vereinfacht gesagt – gut. Werden zentrale Bedürfnisse nicht befriedigt, entsteht Anspannung bzw. Angst. Eine bekannte Kategorisierung zentraler menschlicher Bedürfnisse stammt von Abraham Maslow. In Abbildung 1 wird die auf ihn zurückgehende „Bedürfnis-hierarchie“ dargestellt. 



Abbildung 1: Bedürfnishierarchie nach Maslow (1971)

Überträgt man die dort aufgeführten Bedürfniskategorien auf den klinischen Alltag, ergeben sich beispielsweise folgende Bedürfnisaspekte:

- Ebene der fundamentalen physiologischen Bedürfnisse → ausgeruht sein
- Ebene der Sicherheitsbedürfnisse → langfristiges Vertragsverhältnis mit der Klinik, „sicherer Job“
- Ebene der sozialen Bedürfnisse → freundlicher, kollegialer Umgang miteinander im Team
- Ebene der Ich- oder Individualbedürfnisse → Erfolg in der ärztlichen Tätigkeit, Wertschätzung und Lob durch Kollegen/Patienten
- Ebene der Selbstverwirklichung → Orientierung an eigenen Werten – „ein guter Arzt sein“

Gerade für diejenigen Ärzte, die ihre Arbeit am Patienten als Berufung verstehen und den Großteil ihrer Kraft und Zeit in ihre Arbeit investieren, ist das, was sie im Rahmen ihrer Tätigkeit erleben, maßgeblich für ihre psychische Homöostase.

Medizinischer Zwischenfall – Ein potenzieller Stressor

Eines steht fest: Auch der sorgfältig arbeitende Arzt wird, wenn er eine ausreichend große Zahl von Patienten behandelt, irgendwann einen Patienten gesundheitlich schädigen, sei es aufgrund eines persönlichen Fehlers, oder „schicksalhaft“. Ein solches Ereignis stört die psychische Homöostase auf mehreren Ebenen. Das Ausmaß der Störung hängt dabei von vielen Faktoren ab, beispielsweise von der Schwere der entstandenen Schädigung, vom Ausmaß der persönlichen Verantwortung, von der individuellen Disposition des betroffenen Arztes, von der an seinem Arbeitsplatz herrschenden Fehlerkultur etc. Die Störung kann alle Ebenen der Maslow’schen Bedürfnishierarchie erfassen, zum Beispiel:

- Ebene der fundamentalen physiologischen Bedürfnisse → Schlafstörungen
- Ebene der Sicherheitsbedürfnisse → Sorge vor Kündigung/keine Vertragsverlängerung
- Ebene der sozialen Bedürfnisse → Gefühl, nun im Team isoliert, ausgeschlossen zu sein
- Ebene der Ich- oder Individualbedürfnisse → Gefühl, versagt zu haben, Prestigeverlust
- Ebene der Selbstverwirklichung → Gefühl, gegen eigene Werte und Ansprüche verstoßen zu haben

Dies kann im betroffenen Arzt erheblichen Stress, Anspannung und Angst erzeugen; ausgerechnet in einer Situation, in der der Patient besondere Ansprüche an den Arzt stellt: Gerade der durch den Zwischenfall verunsicherte Patient braucht den Arzt, um zu klären, wie es mit ihm weitergeht und was genau passiert ist. Im Falle eines Behandlungsfehlervorwurfs verlangt der Patient, dass der Arzt sich seinen Vorwürfen stellt – eine für den Arzt extrem anspruchsvolle und herausfordernde Situation.

Stress, Leistungsfähigkeit und Patientensicherheit

Untersuchungen haben gezeigt, dass eine Zunahme des Aktivierungs- bzw. Anspannungsniveaus zunächst zu einer Steigerung der Leistung führt, ab einem bestimmten Anspannungsniveau aber wieder zu einer Abnahme der Leistung, zum Beispiel „Black-out“ bei Prüfungsangst. Es gibt ein mittleres Aktivierungsniveau, in dem hohe Leistungsfähigkeit abgerufen werden kann. Abbildung 2 gibt diesen Zusammenhang, der auch als „Yerkes-Dodson-Gesetz“ bekannt wurde, wieder.



Abbildung 2: „Yerkes-Dodson-Gesetz“

Wie stark der einzelne Mensch auf Stressoren mit Anspannung reagiert, ist individuell. In einer potenziell stark stresserzeugenden Situation, wie zum Beispiel der nach einem schweren Behandlungsfehler, muss man allerdings damit rechnen, dass die Leistungsfähigkeit des betroffenen Arztes sinkt. Das Ziel muss nun sein, das Anspannungsniveau möglichst bald so zu reduzieren, dass der Arzt wieder in einen Bereich mittlerer Anspannung und somit hoher Leistungsfähigkeit gelangt. Gelingt dies nicht, muss gegebenenfalls mit einer erhöhten Fehlerwahrscheinlichkeit gerechnet werden. Abhängig von der individuellen Disposition und Vulnerabilität des betroffenen Arztes, seiner Persönlichkeit und weiteren Faktoren („Resilienz“) können im späteren Verlauf dysfunktionale Reaktionen wie Depressivität, Angstsyndrome, Medikamenten- und Alkoholkonsum oder auch exzessives Absichern bzw. Aufgabe des Berufs etc. die Folge sein. 

Was bedeutet dies für die Patientensicherheit? Sowohl der akute, stressbedingte Leistungsabfall, als auch nachfolgende dysfunktionale Reaktionen können die Patientensicherheit beeinträchtigen. Allein die von Ärzten in einer Studie häufig geäußerten Schlafstörungen nach einem Behandlungsfehler stellen einen Risikofaktor für die Patientensicherheit dar, da hierdurch die Leistungsfähigkeit und insbesondere die Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt sind. Möglich sind ferner Störungen der Aufmerksamkeit und Merkfähigkeit, Verlangsamung, motorische Einschränkungen etc. Verunsicherte Ärzte können auch mit übertriebenen Untersuchungen zur Absicherung eines unklaren Befundes oder mit Unsicherheit und Ambivalenz in dringenden klinischen Entscheidungen reagieren. In diesem Zustand kann der betroffene Arzt dem Patienten nicht mehr die optimale Therapie bieten. Es ist also auch im Interesse des Patienten, dass der Arzt baldmöglichst wieder „in seiner Mitte“ ist.

Lösungsansätze

„Critical Incident Stress Management“-Programme für Ärzte analog den bereits in anderen Berufen etablierten Programmen sind ebenso mögliche Lösungsansätze wie „Peer-Support-Systeme“. Wichtig ist zudem, Ärzte in besonders risikoreichen Tätigkeitsfeldern für die Thematik zu sensibilisieren. So hat beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) gemeinsam mit dem Berufsverband Deutscher Anästhesisten (BDA) 2013 „Empfehlungen zum Umgang mit schweren Behandlungskomplikationen und belastenden Verläufen“ veröffentlicht. Hinweisen möchte ich auch auf die Broschüre „Reden ist Gold – Kommunikation nach einem Zwischenfall“ des APS, in der auch die Kommunikation mit dem betroffenen Mitarbeiter thematisiert wird. Grundsätzlich ist es Führungsaufgabe, für den einzelnen betroffenen Mitarbeiter geeignete Strategien zu finden. Hinsichtlich der akuten Stressoren nach einem Zwischenfall könnte der Vorgesetzte beispielsweise folgende, konkrete Maßnahmen entlang der Maslow’schen Kategorien ableiten:
 
- Gegebenenfalls kurze Auszeit, ausreichend Schlaf ermöglichen
- Sicherheit vermitteln: „Du gehörst weiterhin zu uns. Dein Job ist sicher.“
- Zusammenhalt im Team zeigen: „Wir stehen das gemeinsam durch, ich komme mit zum Angehörigengespräch.“ Einer Isolierung im Team entgegenwirken.
- Fachliche Kompetenz bestätigen: „Du bist ein guter Arzt.“
- Überhöhte, perfektionistische Ansprüche hinterfragen.

Gelingt die Bewältigung nicht und kommt es zur Symptombildung, ist gegebenenfalls professionelle Unterstützung angezeigt. 

Abschließend möchte ich festhalten, dass es nicht nur ein Akt der Kollegialität und Menschlichkeit, sondern auch aus Sicht der Patientensicherheit geboten ist, betroffene Ärzte zu unterstützen und ihnen beizustehen. Ein in diesem Sinne vorbildliches Verhalten von Vorgesetzten und Kollegen ist gelebte Fehler- und Sicherheitskultur und färbt auch auf das weitere Personal im Sinne eines „Lernens am Modell“ ab.

Schriftliche Fassung des Vortrags über das „Second Victim“-Phänomen im Rahmen der Ständigen Konferenz „Qualitätssicherung“ der Bundesärztekammer.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.


Dr. Christian Schlesiger
 

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