Als Arzt in der Antarktis. Den Beruf auf Eis gelegt?

Pinguine in der Antarktis

Seit 36 Jahren unterhält das Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung mit der jeweils aktuellen Version der Neumayer-Station (seit 2009 befindet sich die Neumayer-Station III in Betrieb) eine ganzjährig besetzte Forschungseinrichtung in der Antarktis. Während der dreimonatigen Sommersaison leben und arbeiten hier bis zu 60 Personen, während der neunmonatigen Wintersaison regulär neun, aktuell zwölf Personen. Neben den Wissenschaftlern aus Meteorologie, Atmosphärenchemie und Geophysik auch ein Koch, ein Ingenieur, ein Elektriker, ein Funker und ein Arzt, dem zugleich die Rolle des Stationsleiters zukommt.


Polarlichter über der Neumayer-Station III, die das Alfred-Wegener-Institut ganzjährig in der Antarktis betreibt.

14 Monate Antarktis

Über die Stellenanzeige bin ich schon vor vielen Jahren im Deutschen Ärzteblatt gestolpert. Die Vorstellung, mein Wissen und Können auch an einem ungewöhnlichen Ort einzusetzen, hat immer schon einen gewissen Reiz auf mich ausgeübt. Eine Leidenschaft für Reisen, insbesondere auch in unwirtliche Gegenden und eine Neugier auf die Welt und das Leben helfen wahrscheinlich auch.

Voraussetzungen

Fachlich richtet sich die Ausschreibung explizit an Chirurgen. Erfahrung in der Intensiv- und Notfallmedizin sind von Vorteil. Darüber hinaus sollte man natürlich gesund, körperlich belastbar, im Rahmen abenteuerlustig und überaus teamfähig sein. 

Vorbereitung

Während einer viermonatigen Vorbereitungszeit in Bremerhaven lernt sich zunächst einmal das Team kennen. Während dieser Zeit steht eine Vielzahl von gemeinsamen Kursen und Seminaren auf dem Programm: Vom Bergkurs mit dem Erlernen von Rettungstechniken, zum Beispiel aus Gletscherspalten, und Biwakieren auf dem Gletscher, über die einwöchige Brandschutzausbildung und den Kettensägenschein bis hin zum Umweltschutzseminar und diversen Konfliktmanagementseminaren. Um auch fachlich gut für das breite Spektrum der Aufgabe gerüstet zu sein, habe ich drei Wochen in einer Zahnarztpraxis und drei Wochen in der Anästhesie hospitiert.

Patienten verlegen

Wir stehen hier ziemlich alleine auf unserem Schelfeis. Die nächsten Nachbarn auf der süd-afrikanischen Station wohnen über 230 Kilometer entfernt. Mit dem Pistenbully und bei den hiesigen Bedingungen – wir sprechen von teilweise schwierigem Gelände und insbesondere im Winter von Temperaturen unter -45 °C und Stürmen in Orkanstärke – ein weiter Weg. Die üblichen Verkehrsmittel, wie Eisbrecher und Flugzeuge, können die Station während der neunmonatigen Wintersaison nicht, oder wenn überhaupt, dann nur unter extremen Bedingungen und mit einem mindestens einwöchigen, realistisch eher noch längeren, Vorlauf erreichen.

Medizinisch autark

Es gibt einen Behandlungsraum und einen OP. Zusätzlich ein Büro mit Apotheke. Die Apotheke ist wirklich sehr gut ausgestattet, vergleichbar mit einer Krankenhausapotheke. Die gängigen Medikamente sind dabei genauso vorhanden wie weniger gebräuchliche. Von der Alteplase für die Lysetherapie bis zum Zinkoxid-Eugenol zur Unterfüllung von Cavitäten ist alles vorhanden.


Der Behandlungsraum an der Neumayer-Station III in der Antarktis.

Apparative Ausstattung

An diagnostischen Möglichkeiten stehen neben der klinischen Untersuchung ein Sonografiegerät, konventionelles Röntgen, Zahnröntgen sowie ein C-Bogen zur Verfügung. Wir haben ein 12-Kanal EKG, Laborgeräte mit der Möglichkeit das Blutbild und klinisch-chemische Parameter zu bestimmen und jede Menge anderer Instrumente, bis hin zum Impressionstonometer zur Messung des Augen-innendrucks.

Therapeutische Möglichkeiten

Die Notfallausrüstung entspricht mit Corpuls, Oxylog usw. in etwa der eines Notarzteinsatzfahrzeuges. Dann gibt es den Behandlungsraum und natürlich noch den OP mit allem, was man sich vorstellen kann. Zur Intubation steht ein Videolaryngoskop, zur Narkose eine reguläre Einheit zur Verfügung. Das chirurgische Instrumentarium ist unter anderem mit einem viszeralchirurgischen, einem gynäkologischen, einem unfallchirurgischen und einem gefäßchirurgischen Sieb umfassend. Für all das haben wir selbstverständlich auch einen Sterilisator. Außerdem verfügen wir hier über eine mobile Zahnbehandlungseinheit.

Weites Spektrum medizinischer Hilfeleistung

Das Spektrum des Machbaren ist tatsächlich groß. Ich würde sagen, dass die Grenzen hier am ehesten durch die Fähigkeiten des Arztes und im Zweifel die fehlende Manpower gesetzt sind.


Bei schlechter Sicht wird eine Handleine benutzt, um das Spurenstoffobservatorium sicher zu erreichen.

Externe Hilfe

Telemedizinisch sind wir über Satellit mit der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin im Krankenhaus Reinkenheide in Bremerhaven verbunden. Im Zweifel stehen uns die Kollegen von dort aus mit Rat und Unterstützung bei der Narkoseführung zur Seite. Das funktioniert gut, die telemedizinische Einrichtung wird regelmäßig getestet.

Medizinische Beschwerden in der Antarktis

Mit Erkältungen im Sinne eines deutschen Schnupfens sind wir, zumindest während der Phase der Überwinterung, nicht konfrontiert. An die mitgebrachten Erreger hat man sich gewöhnt und neue kommen nicht hinzu. Die Kälte kann die oberen Atemwege und Augen natürlich trotzdem reizen. Immer mal wieder kommt es auch zu kleineren Erfrierungen, bei entsprechenden Bedingungen, im Fahrtwind auf dem Skidoo beispielsweise, ist bereits eine kurzzeitige Exposition ungeschützter Haut ausreichend. Bisher ist aber alles folgenlos abgeheilt. Kleinere allgemeinmedizinische Beschwerden treten natürlich auch hier auf und unsere Zahnbehandlungseinheit war wiederholt im Einsatz. Eine Bandverletzung im Knie konnte konservativ behandelt werden; hier ist mitunter auch etwas Kreativität gefragt. Unser Ingenieur hat in der Metallwerkstatt für eine steife Knieorthese ein im Bewegungsumfang einstellbares Gelenk hergestellt.

Den Arztberuf auf Eis gelegt?

Die Aufgabe bietet eine einzigartige Möglichkeit zu Lernen und seinen, auch fachlichen, Horizont zu erweitern. Ich würde keinesfalls sagen, dass man mit ihr den Arztberuf auf Eis legt. Vielmehr verlegt man ihn auf das Eis. Erfreulicherweise musste ich bisher tatsächlich nicht allzu oft medizinisch tätig werden. Aber das Hospital mitsamt Inventar und Apotheke muss natürlich genauso wie die Telemedizin regelmäßig geprüft, gewartet und instandgehalten werden. Zudem fällt die mikrobiologische Überprüfung des Trinkwassers, die Arbeitssicherheit, die Sicherheitsausstattung für die Arbeit im Feld usw. in mein Ressort. Darüber hinaus betreue ich eine recht groß angelegte, mehrjährige medizinische Studie.

Medizinische Studie

Die Studie wurde in der Hauptsache von der Charité Berlin, der Ludwig-Maximilians-Universität München, der University of Pennsylvania und der NASA aufgelegt und wird vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und dem Alfred-Wegener-Institut (AWI) gefördert bzw. unterstützt. Vor dem Hintergrund der Weltraummedizin, plakativ sei beispielsweise eine Marsmission genannt, sollen hier physiologische und psychologische Veränderungen durch die Isolation und die hier herrschenden Bedingungen untersucht werden. Da ergeben sich natürlich spannende Fragen. Wie reagiert das Immunsystem in dieser reizarmen Umgebung, wie das vegetative Nervensystem. Lassen die kognitiven Fähigkeiten nach, das Reaktionsvermögen, das dreidimensionale Denken mitsamt dem Orientierungsvermögen? Welche Dynamik herrscht in der Gruppe usw.

Das Teleobjektiv erlaubt es dem Fotografen, den nächsten Nachbarn per Zoom ganz nahe zu kommen: Kaiserpinguin-Kolonie in der Atkabucht.

Methoden und Tests

Wir entnehmen Blut-, Speichel- und alle möglichen weiteren Proben, prozessieren sie auf unterschiedlichste Weise und asservieren sie, die Kryokonservierung ist hier ja weniger ein Problem. Wir tragen Activity-Tracker und schreiben regelmäßig 24h-EKGs. Die kognitiven Tests kann man sich ungefähr wie den Test für medizinische Studiengänge vorstellen. Allerdings haben wir zusätzlich noch den original NASA-Simulator für das Andocken von Modulen an die Internationale Raumstation ISS hier, was im Übrigen gar nicht so einfach ist. Also das Andocken. Daneben gibt es zahlreiche psychologische Fragebögen sowie eine Vor- und Nachbereitung mit Untersuchungen in Berlin.

Studienort Neumayer-Station

Neben der hier offensichtlich gegebenen Isolation ist die Neumayer-Station durch die vergleichsweise geringe Gruppengröße ein besonders geeignetes Modell für eine Raumfahrtmission. Auf der amerikanischen Amundsen-Scott-Station am Südpol oder der Mc Murdo-Station in der Gegend des Ross-Meeres überwintern deutlich mehr Personen.

Stationsleiter

Die genannten Aufgaben als Arzt machen nur etwa die Hälfte meiner Tätigkeit aus. Als Stationsleiter bin ich unter anderem auch für die Sicherheit des Teams und der Station, den Brandschutz mitsamt Übungen, die Markierung der Trassen usw. verantwortlich. Weiter gehören Organisation, die Kommunikation im Inneren und nach Außen sowie die Öffentlichkeitsarbeit dazu.

Entschluss bereut?

Den Entschluss, in die Antarktis zu gehen, habe ich nicht eine Sekunde bereut. Die Möglichkeit, gemeinsam mit einem wunderbaren Team motivierter, kompetenter, außergewöhnlicher und von ihrer Arbeit begeisterter Menschen an diesem absolut faszinierenden Ort leben und arbeiten zu können, empfinde ich als ein großes Glück.

Autor
Dr. Tim Heitland, MHBA, kommt aus München, ist Facharzt für Chirurgie, Viszeralchirurgie, spezielle Viszeralchirurgie, Proktologe und unter anderem in Besitz der Fachkunde Rettungsdienst.

 

 

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