Ärztliches Handeln in Zeiten der Klima- und Umweltkrisen

Klima- und Umweltkrisen

Anpassung des Internationalen Medizinethikkodex (ICoME) des Weltärztebundes

Die Klimakrise, das Artensterben sowie weitere anthropogene Umweltveränderungen wie Luft- und Wasserverschmutzung, sind auch Gesundheitskrisen. Wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, wie problematisch und vielfältig die mit diesen Veränderungen einhergehenden Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit sind, werden seit Jahren immer zahlreicher und eindeutiger [1, 2, 3].

Bereits in den vergangenen Jahren hat der Weltärztebund an verschiedenen Stellen ausdrücklich dafür plädiert, die Dringlichkeit der Klima- und Umweltkrisen ernst zu nehmen und an die entsprechende Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten appelliert [4 bis 7]. Auch die deutsche Ärzteschaft hat im Rahmen des 125. Deutschen Ärztetages im November 2021 Forderungen für tiefgreifende Veränderungen im Gesundheitswesen und darüber hinaus verabschiedet, um den Klima- und Umweltkrisen zu begegnen und ihre negativen Auswirkungen zu minimieren [8]. Der Weltärztebund beschäftigt sich seit seiner Gründung unter anderem mit der Entwicklung ethischer Standards für die medizinische ­Praxis und Forschung. Der Internationale Medizinethikkodex (engl. International Code of Medical Ethics, ICoME) definiert ärztliche ethische Berufspflichten und steht im Einklang mit anderen Kodizes des Weltärzte­bundes, wie zum Beispiel dem ärztlichen Gelöbnis in der Genfer Deklaration. https://www.wma.net/policies-post/wma-international-code-of-medical-ethics/

In diesem Beitrag möchten wir die revidierte Version des ICoME vorstellen sowie Implikationen daraus für das ärztliche Handeln aus ethischer Perspektive einordnen.

Die Neufassung des Internationalen Medizinethikkodex

Im Oktober 2022 wurde im Rahmen der 73. Generalversammlung des Weltärztebundes in Berlin nach einem zweijährigen Konsultationsprozess eine Revision des ICoME verabschiedet [9, 10].

Im Rahmen des Revisionsprozesses wurden ­etliche Veränderungen hinsichtlich des ärztlichen Selbstverständnisses, ihrer beruflichen Pflichten und ihres Handlungsrahmens sowie des zugrundeliegenden Verständnisses von Gesundheit vorgenommen (Tabelle 1) [11].

Ethische Diskussion

In der revidierten Version des ICoME gibt es entscheidende Veränderungen, die für ärztliches Handeln in Zeiten von Klima- und Umweltkrisen relevant sind: Eine Erweiterung der ärztlichen Sorgfaltspflichten, die sich nun nicht mehr nur auf die individuelle Person ­beziehen. Stattdessen sollen auch die Gesellschaft, ­Aspekte von Public und Global Health sowie das Wohlergehen zukünftiger Generationen in der ärztlichen Praxis beachtet werden. Des Weiteren wird die umweltbezogene Nachhaltigkeit als handlungsleitendes Prinzip eingeführt. Diese Sorgfaltspflichten werden neben den bekannten Prinzipien der Patientinnen- und Patienten-Autonomie und des Nicht-Schadens benannt. Der Kodex sagt nichts über die Hierarchie dieser ethischen Prinzipien aus und leitet nicht an, welches Prinzip bei bestimmten, konkreten Entscheidungen priorisiert werden sollte, falls sie im Konflikt stehen. Es ist allerdings vorstellbar, dass beispielsweise das individuelle Patientenwohl (im Rahmen einer akut notwendigen medizinischen Intervention) gegenüber einer potenziellen Umweltschädlichkeit dieser Intervention abgewogen werden muss. So könnte es sein, dass ein Medikament stark klimaschädlich ist, aber dass die akut erkrankte Person dieses Medikament braucht. Der Kodex beschreibt nicht, ob und wie Ärzte das individuelle Wohl gegenüber dem gesellschaftlichen und dem der zukünftigen Generationen abwägen sollten.

Die Veränderungen des ICoME können ethisch gerechtfertigt sein. Erstens, weil es empirisch belegt ist, dass das Gesundheitssystem mit zum anthropogenen Klimawandel beiträgt. Zweitens, weil es belastbare empirische Erkenntnisse über die Auswirkungen der von den Klima- und Umweltkrisen auf die Gesundheit gibt. Und drittens, weil das Verständnis von Gesundheit und krankheitsbedingenden Faktoren, welches dem ärztlichen Handeln zugrunde liegt, über die letzten Jahrzehnte in einem Wandel hin zu einem verstärkten Fokus auf umweltbezogene und strukturelle Determinanten von Gesundheit begriffen ist. Davon ausgehend lässt sich die Relevanz von Maßnahmen der (Verhältnis)Prävention und Gesundheitsförderung, die auch Zusatznutzen für Klima und Umwelt (co-benefits) haben können, ableiten. Darauf basierend muss es eine – sich ständig anpassende – Verständigung darüber geben, was als Arbeits­bereich von Ärzten gilt, welche Handlungen also als ärztliche Handlungen definiert werden und welche ethischen Normen dafür gelten.

Aufgrund der Krankheitsbilder, die zum Beispiel durch an Frequenz und Intensität zunehmenden Hitze- oder Starkregenereignisse (mit)bedingt werden, ist die klinische (Akut-)Medizin direkt von den Auswirkungen der Klima- und Umweltkrisen betroffen und muss sich in Diagnostik, Therapie und Prävention anpassen. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass wirtschaftliche, soziokulturelle und politische Einflussfaktoren einen größeren Einfluss auf Gesundheit und Wohl­ergehen haben können als die medizinische Versorgung oder der individuelle Lebensstil. Dieser Einfluss macht laut Studien 30 bis 55 Prozent der gesundheitlichen Outcomes aus [12, 13]. Ein modernes Gesundheitsverständnis, dem diese ­Erkenntnisse zugrunde liegen, ist das ­sogenannte bio-psycho-soziale Modell, welches bereits in der medizinischen Ausbildung in Deutschland verankert ist [14]. Die jüngeren Konzepte One Health und Planetary Health basieren zudem auf der Erkenntnis, dass die Gesundheit von Menschen und anderen Lebewesen heute und in Zukunft untrennbar von der Beschaffenheit (und größtmöglichen Intaktheit) ökologischer Systeme und Prozesse, wie dem Klima, abhängt [15, 16]. Eine Berücksichtigung dieser Dimen­sionen in der Medizin, und im ärztlichen Berufsethos, ist geboten, denn sie sind entscheidende Elemente zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit im Anthropozän.

Schlussfolgerungen hinsichtlich ärztlichen Handelns im Anthropozän

Der neue ICoME blendet die Gesundheit von Gruppen und klima-/umweltbezogene Einflussfaktoren auf Erkrankungen nicht aus. Er stellt Individualethik und populationsbezogene Ethik nicht konflikthaft gegenüber. Im Gegenteil, er bietet – erstmalig in der Abfassung medizinethischer Kodizes – einen angemessenen und überzeugenden Rahmen, um individuelle und gesellschaftliche, bzw. planetare Belange zu integrieren. Er ist angesichts der wissenschaftlich gesicherten gesundheitlichen Bedrohung durch die Klima- und Umweltkrisen aus unserer Sicht folgerichtig. Die sozialen und ökologischen ­Determinanten im Sinne der Gesundheit aller heute und in ­Zukunft Lebenden im Blick zu behalten, ist angesichts des genuin ärztlichen Handlungsauftrags, nicht zu schaden und Gesundheit zu bewahren, angezeigt. Damit besteht auch kein Zweifel an der grundsätzlichen Notwendigkeit, auszuloten, inwieweit die ärztliche Tätigkeit um präventive und gesundheitsförderliche Aktivitäten auch mit Blick auf die planetare Gesundheit und zukünftige Generationen, erweitert und möglichst ressourcenschonend ausgeübt werden kann. Angesichts vieler regulatorischer und finanzieller Hürden sind jedoch auch bessere Rahmenbedingungen, Anreize und Empfehlungen aus Politik, Selbstverwaltung und Fachgesellschaften notwendig, um ärztliches Handeln für Klimaschutz und ­-anpassung zu erleichtern [17].

Das empirisch untermauerte Verständnis für den Zusammenhang zwischen strukturellen Gegebenheiten, Klima und Gesundheit hebt die Verpflichtung, individuelle Krankheit zu heilen und Leid zu mindern, nicht auf. Durch das bessere Verständnis für die empirischen Zusammenhänge wird jedoch die Notwendigkeit von Prävention, sowie für den Erhalt der Bevölkerungsgesundheit und der natürlichen Lebensgrundlagen auch für ­zukünftige Generationen gesteigert [18], woraus sich wiederum praktische Handlungen ableiten lassen (siehe Kasten).

Die Linderung von individuellem Leid durch Ärzte wird ohne Zweifel auch weiterhin als ethisch-moralisch geboten gelten. Sie gehört zu den Kernaufgaben der ärztlichen Profession. Doch wenn dem Selbstverständnis von Ärzten ein in der wissenschaftlichen Forschung verwurzeltes Verständnis von Gesundheit und den Ursachen von Krankheit zugrunde liegt, müssen die strukturellen bio-psycho-sozialen Gegebenheiten, einschließlich den klima- und umweltbedingten Einflussfaktoren auf Krankheit und Gesundheit sowie Aspekte der gesundheitlichen Chancen­gerechtigkeit (engl. health equity), ein integraler Bestandteil der ärztlichen Ausbildung und Profession sowie ihrer professionellen Entscheidungen und Handlungen sein.

Konkrete Umsetzungsmöglichkeiten eines integrativen Berufsethos in der ärztlichen Praxis [19]

•    Durch Klima- und Umweltveränderungen (mit)bedingte Erkrankungen vorbeugen, erkennen und therapieren
•    Medikamentenpläne bei Hitzewellen anpassen
•    Ressourcenorientierte, klima-, umwelt- und gesundheitssensible Beratung von Patienten
•    Wissensvermittlung in Aus-, Fort- und Weiterbildung der Medizinberufe zu bio-psycho-sozialen und weiteren strukturellen Determinanten von Gesundheit
•    Wissensvermittlung in Aus-, Fort- und Weiterbildung der Medizinberufe zu den Klima- und Umweltkrisen, ihren Auswirkungen auf die menschliche und planetare Gesundheit und die notwendigen präventiven und adaptiven Maßnahmen
•    Förderung präventiver und gesundheitsförderlicher Ansätze auch mit dem Ziel, in der Akutversorgung Emissionen und Ressourcen einzusparen
•    Wissensvermittlung in Aus-, Fort- und Weiterbildung über Interventionen mit  Co-Benefits, die doppelt positive Effekte sowohl für den individuellen Gesundheitszustand als auch für die planetare Gesundheit haben (zum Beispiel Fahrrad statt Auto fahren, pflanzenbetonte Ernährungsmuster, etc.)
•    Kritisches Diskutieren möglicher Konflikte zwischen individueller Gesundheit(sversorgung) und dem Einhalten ökologischer Belastungsgrenzen (oder zwischen dem Wohlergehen derzeit lebender und zukünftiger Generationen) im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie in relevanten Gremien wie zum Beispiel der Bundesärztekammer

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-aerzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autorinnen
Professorin Dr. Verina Wild 1
Katharina Wabnitz MD, MSc 1,2

1     Institut für Ethik und Geschichte der Gesundheit in der Gesellschaft, Medizinische Fakultät Universität Augsburg
2     Centre for Planetary Health Policy (CPHP), Cuvrystr. 1, 10997 Berlin

Korrespondenz: verina.wild@med.uni-augsburg.de

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