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Weiterbildung im Team: Praxisinhaber Dr. Christoph Grassl, Weiterzubildende Dr. Banafscheh Rachinger-Adam und Andreas Seitz sowie Weiterbilder Dr. Wolfgang Ritter (v. li.).

Volle Praxen, keine Zeit für Hausbesuche, Bereitschaftsdienste und keine Praxisnachfolger in Sicht: Auch in Bayerns Städten und noch mehr auf dem Land herrscht insbesondere Allgemeinärztemangel. Zwar werden die Förderprogramme für Landärzte ausgeweitet, aber für (Jung-)Ärztinnen und Ärzte ist Geld anscheinend nicht alles. Da sind kreative Ideen gefragt. Eine Alternative könnte der sogenannte Quereinstieg in die Allgemeinmedizin sein. Konkret bedeutet dies, dass Fachärztinnen und -ärzte einen Wechsel in die Allgemeinmedizin starten. Die von den Fachverbänden für Allgemeinmedizin zunächst mitentwickelten Überlegungen wurden inzwischen von den Weiterbildungsgremien und dem Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) im Sinne eines zeitlich befristeten Projektes fortentwickelt und den Landesärztekammern zur Umsetzung empfohlen (siehe Infobox).

Weiterbildung im Team: Praxisinhaber Dr. Christoph Grassl, Weiterzubildende Dr. Banafscheh Rachinger-Adam und Andreas Seitz sowie Weiterbilder Dr. Wolfgang Ritter (v. li.).

Hausärztliches Setting

Auch in Bayern gibt es bereits eine ganze Reihe von sogenannten Quereinsteigern in die Allgemeinmedizin, wie etwa Andreas Seitz und Dr. Banafscheh Rachinger-Adam, die in der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis Dr. Christoph Grassl im Münchner Stadtteil Sendling gerade ihre 24-monatige Pflicht-Weiterbildungszeit absolvieren. Seitz (45) ist Facharzt für Chirurgie, seit einem Jahr in der hausärztlichen Weiterbildung, und „froh, nach 15 Jahren raus aus der Klinik“ zu sein. Der Anästhesistin Rachinger-Adam (46), die erst seit vier Monaten auf dem Weg zur Allgemeinärztin ist, geht es vor allem um den direkten Patientenkontakt, den sie auch in der Klinik am meisten schätze. Beide fühlen sich bei ihrem Umstieg pudelwohl und empfinden ihre „Work-Life-Balance“ heute als ausgewogen, auch wenn sie die internistischen Erkrankungen der Patienten inhaltlich fordern. Dabei sei eine gute zweijährige Einarbeitung in dem für sie neuen Setting einer hausärztlichen Praxis unumgänglich. „Gerade auch das Erlernen der computergestützten Praxisabläufe, die Bewältigung der Formulare – von der Facharzt-Überweisung bis zu Krankenhauseinweisung – oder die Verordnung von Heil- und Hilfsmitteln ist schon komplex“, so Rachinger-Adam. „Anfangs hatte ich mehrere Wochen eine ‚Toujour-Betreuung‘, saß quasi nur neben meinem Weiterbilder und blickte ihm über die Schulter“, gibt Seitz zu. Sukzessive sei er dann in die eigenständige Patientenversorgung einbezogen worden. Immer habe er jedoch seinen Weiterbilder oder einen anderen Facharzt „in der Nähe“, den er konsultieren könne. Doch auch von den anderen Quereinsteigern in der Praxis könne er eine Menge lernen, wie etwa von Rachinger-Adam in Sachen Schmerztherapie. „Umgekehrt profitiere ich von meinem chirurgischen Kollegen, wenn es etwa um das Aufschneiden eines Abszesses geht“, antwortet Rachinger-Adam prompt. Beide haben zwar einen festen Weiterbildungs-Ansprechpartner, doch greifen sie auch auf andere Weiterbildungsbefugte bzw. Fachärzte in der Praxis zurück.


In der Praxis von Dr. Christoph Grassl arbeitet ein interdisziplinäres Team.

Hier schaltet sich Praxisinhaber Grassl (69) ein und erklärt, dass es durchaus Spezialisierungen unter seinen Weiterbildungsbefugten gibt, etwa für das Lehren der Sonografie oder das Vermitteln von Praxismanagement. Seine Erwartungen, so Chirurg Seitz, hätten sich bisher voll erfüllt. Auch die gewisse Scheu vor den großen internistischen Krankheitsbildern, wie KHK, COPD oder Diabetes, sei geschwunden. „Das Miteinander ist hier völlig anders als in der Klinik“, meint Seitz. „Der Dialog mit den Patienten über längere Zeiträume hinaus macht den Unterschied“, ergänzt die Anästhesistin. „Unsere Praxis ist auch ein sozialer Anlaufpunkt für unsere Patienten. Hier erfahren sie nicht nur medizinisch-fachliche Kompetenz, sondern auch Hilfe und Unterstützung in sozialen Fragen“, so Grassl, „was uns die Patienten als Dank zurückgeben“. Daher freut sich Seitz bereits auf die Zeit nach seiner Weiterbildung, denn nach der Facharztprüfung will er in die Hausarzt-Praxis eines Freundes in München einsteigen. Dann wird auch sein momentaner finanzieller Engpass zu Ende gehen, denn trotz der Förderung von 3.500 Euro monatlich und einem ordentlichen Plus, das Grassl noch drauflegt, verdient er wesentlich weniger als in der Klinik. Der Vater von drei Kindern bereut dennoch seine Entscheidung nicht: „Ich vermisse weder das Krankenhaus noch den OP und schon gar nicht die Not- und Nachtdienste“, sagt er ganz überzeugt und legt nach: „Ich habe das alles gegen eine relativ flache Hierarchie, eine gute Atmosphäre und eine abwechslungsreiche Arbeit am Patienten eingetauscht“. Die körperliche und psychische Belastung sei hier in der Praxis – selbst im Bereitschafsdienst – nicht so geballt wie vormals im Krankenhaus. Dass er hier landete, betrachtet er als „glücklichen Zufall“. Grassl schätzt hingegen gerade die Belastbarkeit seiner Quereinsteiger auch in „Krisen- und Spitzenzeiten in der Praxis“. Dabei gibt Rachinger-Adam zu, „schon noch ein wenig Bammel“ vor ihrem ersten Bereitschaftsdienst zu haben, der in wenigen Wochen stattfinden soll. Dabei bereiteten ihr weniger die Erkrankungen der Patienten als vielmehr die Situation, als Frau nachts alleine unterwegs zu sein, ein wenig Sorgen. Was sie als Hausärztin später machen wird, hat sie noch nicht entschieden. „Die Multidisziplinarität ist für mich das Spannende an der Allgemeinmedizin, die Tatsache, dass man für einen Patienten auch mal länger Zeit hat oder ihn bei Hausbesuchen in seinem Umfeld kennenlernt, das Schöne“. Für Grassl ist der Quereinstieg durchaus ein politisch richtiger Weg, wobei er betont, dass „alle Weiterzubildenden sehr motiviert an die Sache herangehen“, egal ob als erste Facharztweiterbildung oder im Quereinstieg. Für ihn ist es wichtig, dass die angehenden Allgemeinärzte „Familien- und Ganzheitsmedizin“ erlernen und wegkommen von der „Teilemedizin“. „Die richtige Indikation stellen heißt für mich, meinem Patienten die für ihn adäquate Medizin zukommen zu lassen“, ergänzt Seitz und Rachinger-Adam legt nach: „Es geht doch um eine Nutzen-Risikoabwägung für den Patienten“.

Geforderte Untersuchungszahlen

Ganz anders sieht die Weiterbildungssituation in der Allgemeinarztpraxis von Dr. Andreas Durstewitz (51) in Pullach im Münchner Süden aus, bei dem die Anästhesistin Dr. Ruth Mathes (39) die alleinige Weiterzubildende ist. Auch Mathes sagt ganz offen, dass durch die „stetig wachsende Dienstbelastung und Fremdbestimmung im Krankenhaus die Vereinbarkeit mit dem Privatleben zunehmend schwieriger wurde. Die Aussicht, mich als Allgemeinärztin später mal niederzulassen, patientennah zu arbeiten und mein eigener Chef sein zu können, haben mich zu diesem Schritt bewogen.“ Ihr sei vor allem die Einarbeitung in die hausärztliche Praxis sowie die kontinuierliche Betreuung und die Möglichkeit der Rücksprache mit ihrem Weiterbilder „sehr wichtig, da es nicht nur um Medizinisches geht, sondern auch um Themen, mit denen man im Krankenhaus so gut wie nicht in Berührung kam: Abrechnung, Praxisführung, Disease-Management-Programme oder Hausarztverträge“. „Für die Praxis ist der Quereinsteiger mit einer abgeschlossenen Facharztausbildung ein fachlicher und kollegialer Gewinn. Die zusätzlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich gut in das allgemeinmedizinische Leistungsspektrum integrieren und verhelfen dem Weiterbildungsassistenten schnell, sich kompetent und selbstbewusst in den Praxisalltag einzubringen“, sagt Durstewitz, dessen Hausarztpraxis auch akademische Lehrpraxis ist. Der Erst-Weiterzubildende benötige wesentlich umfangreichere Weiterbildung, um die Unterschiede zwischen einem ‚Organproblem‘ oder dem Patienten in seiner Gesamtheit zu begreifen. Auch die Routine, mit Patienten umzugehen, falle dem erfahreneren Arzt leichter. Das Quereinsteigen könne allerdings auch ein Hemmnis mit sich bringen, da sich der „schon Facharzt“ eventuell schwieriger auf eine erneute Weiterbildung einlasse. Von ihrem Weiterbilder Durstewitz fühlt sich Mathes ausreichend gecoacht, „allerdings kann dieser neben dem laufenden Praxisbetrieb nur eine bestimmte Anzahl an Aspekten abdecken. Mit dem Ziel einer Praxisgründung wünschte ich mir mehr Coaching der unternehmerischen Aspekte seitens der Kassenärztlichen Vereinigung“. Durstewitz dazu: „Allerdings stößt man im Praxisalltag schnell an die Grenzen zwischen dem was man fachlich kann und dem was man abrechnen darf“. Mathes‘ Erwartungen haben sich dennoch erfüllt, denn sie habe die Freude am Arztberuf wiedergefunden und außerdem hätten sich für die Zukunft neue Perspektiven aufgetan. Niederlassen möchte sie sich künftig „eher in einer Gemeinschafts-praxis als in einer Einzelpraxis, denn die auch weiterhin zunehmenden bürokratischen Aufwände alleine zu schultern, schreckt mich momentan ab“. Ein wenig Wasser muss Mathes schließlich noch in den Wein kippen: „Die Divergenz zwischen den von der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) und der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns geforderten Untersuchungszahlen und deren Dokumentation, um solche Leistungen später abrechnen zu können, wie zum Beispiel Abdomen-Sonografie“, sieht sie als große Herausforderung. „Wichtig für die Auswahl der Praxen wäre es, Nebenbestimmungen (www.blaek.de, „Meine-BLÄK“-Portal - Anm. d. Red.) der Weiterbildungsbefugnis im Vorfeld zu kennen, idealerweise von der BLÄK“, so ihre Anregung. „Gerade die apparativen Untersuchungen, wie Doppler, Ultraschall, Langzeit-EKGs stellen inhaltlich hohe Anforderungen dar. Um die Anzahl zusammenzubekommen, mache ich meine Weiterbildung in Praxen, die dies in höherer Anzahl durchführen oder ich hospitiere.“ Wünschenswert wäre auch, dass zu den zwei Jahren Weiterbildung in der hausärztlichen Praxis bis zu sechs Monate Weiterbildung in Praxen anderer Fachrichtungen wie Pädiatrie, Orthopädie oder Dermatologie angerechnet werden könnten. Dadurch könnte man individuellen Interessen oder Lücken gerecht werden“, so Mathes.

1:1 Weiterbildung – Weiterzubildende Dr. Ruth Mathes mit Praxisinhaber Dr. Andreas Durstewitz (v. li.).

„Die fachlichen Voraussetzungen, um als Hausarzt tätig zu werden, sind durchaus – bei motivierten Weiterbildern und Weiterzubildenden – in 24 Monaten vermittelbar“ ergänzt Durstewitz und fügt noch hinzu: „Leider verbringen wir Hausärzte ja mehr Zeit mit administrativen und verwaltungsspezifischen Aufgaben als in der rein kurativen Medizin. Das Erlernen dieses Know-hows benötigt sicher zusätzliche Zeiten“. Probleme mit den Patienten ergäben sich nicht, da die Patienten die Zuwendung von der angehenden Hausärztin mit gutem Feedback honorierten. Der Allgemeinarzt sieht im Quereinstieg „einen Baustein, um die zukünftige Patientenversorgung weiterhin regional und individualisiert durch Hausärzte sicherzustellen“. Dass sich allerdings gut und aufwendig weitergebildete Fachärzte erst sehr spät allgemeinmedizinisch orientierten, koste nicht nur Lebenszeit sondern auch kostspielige Bildungs-Ressourcen. Hier müsse die Politik die Attraktivität des Berufsbildes eines Hausarztes in jeder Hinsicht – auch der finanziellen – fördern, damit junge Kolleginnen und Kollegen die Chance der hausärztlichen Tätigkeit in eigener Praxis erkennen und nicht falsch gesteuert in berufliche Sackgassen oder berufsfremde Bereiche geraten. „Der Quereinsteiger sollte sich bewusst sein, dass die ganzheitliche und lebensbegleitende Tätigkeit mit seinen Patienten mehr ist als die Summe vieler hoch spezialisierter medizinischer Fachrichtungen. Es ist eine Mensch-zu-Mensch-Interaktion, die nachhaltig sein soll und bei der sich die psychosozialen Fähigkeiten eines Arztes als Schlüsselfähigkeit erweisen müssen“, so Durstewitz und fügt noch hinzu: „Nicht alles was man kann ist auch kassenärztlich sinnvoll. Das erlaubte Leistungsspektrum bleibt dann hinter dem fachlichen Können zurück. Das führt auch mal zur Frustration, wenn man als Quereinsteiger aus der Klinik nicht alle seine Fähigkeiten in den Praxisalltag einfließen lassen und abrechnen kann“. Auch typische Tätigkeiten, wie Hausbesuche oder kassenärztlicher Bereitschaftsdienst, seien als notwendiger Weiterbildungsinhalt „nicht gut vermittelbar“. Es bleibe die Frage offen, warum ein hochqualifizierter Arzt seine Arbeitszeit mit „Herumfahren und Warten“ verbringen müsse.

Ob der Quereinstieg ein Erfolgsmodell ist, wird die Zukunft zeigen. Die Zeichen stehen gut.

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