Notfallreform und Gesundheitskompetenz gemeinsam denken

Dr. Gerald Quitterer

Seit Jahren stellen wir in Deutschland ein ungesteuertes Aufsuchen von Notaufnahmen und Bereitschaftsdienstpraxen fest. Dies steht im Zusammenhang mit einer im europäischen Vergleich hohen Inanspruchnahme des Gesundheitssystems mit 9,6 Arzt-Patienten-Kontakten pro Jahr.

Die Reform der Notfallversorgung ist deshalb eine zentrale ­gesundheitspolitische Notwendigkeit und zugleich Herausforderung.

Der nun vorliegende Gesetzentwurf zeigt jedoch eines sehr deutlich: Gut gemeint ist noch lange nicht gut gemacht. Anstatt die Versorgung zu entlasten, droht der Entwurf an den Realitäten vorbeizugehen. Vor allem die bayerischen Erfahrungen mit einer starken ambulanten Versorgung, gut organisierten Bereitschaftsdiensten und dem hohen Engagement der niedergelassenen Ärzte­schaft machen deutlich, dass Effizienz nicht durch mehr Angebotsvielfalt entsteht, sondern durch klare Strukturen und gezielte Steuerung.

Ungebremster Zugang zu integrierten Notfallzentren

In den aktuellen Reformplänen bleibt eines der zentralen Probleme unangetastet: Der ungebremste Zugang zu den integrierten Notfallzentren. Auch künftig kann sich jede Patientin und jeder Patient selbst als „dringenden Fall“ einschätzen und ohne vorgelagerte Abklärung ein Notfallzentrum aufsuchen. Das bedeutet, dass sich an überlaufenen Notaufnahmen nichts ändert. Das bindet ärztliche Ressourcen für echte Notfälle. Gerade baye-rische Kliniken berichten seit Jahren, dass ein relevanter Teil der Patientinnen und Patienten in Notfallaufnahmen ambulant behandelbar wären. Eine wirksame Steuerung muss bereits vor der Inanspruchnahme von Integrierten Notfallzentren durch eine strukturierte medizinische Ersteinschätzung ansetzen, die festlegt, wann und in welcher Versorgungsebene der Patient adäquat behandelt werden kann.

Bayern hat durch regionale Initiativen im Rettungsdienst und in der ambulanten Versorgung bereits wichtige Impulse für eine bessere Patientensteuerung gesetzt.

So wurde mit dem Onlineportal www.DocOnLine-Bayern.de der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns ein digitaler Weg geschaffen, der die Akut- und Notfallversorgung in Bayern entlastet und die Patientinnen und Patienten noch vor Aufsuchen einer Bereitschaftspraxis, der Notaufnahme oder einem Anruf bei der 116 117, in die richtige Versorgungsebene leitet und eine telemedizinische Behandlung bietet. Im Rahmen von „DocOnLine“ durchläuft der Versicherte digital eine strukturierte medizinische Ersteinschätzung, die klärt, ob eine Video-Terminvermittlung beim Arzt, die Vorstellung in einer Bereitschaftpraxis oder einer Notaufnahme erforderlich ist.

Im Rahmen des Programms in.SAN Bayern wird in einem ­Modell die strukturierte medizinische Ersteinschätzung (SmED) direkt auf dem Rettungswagen eingesetzt, mit dem Ziel, vor Ort den medizinischen Bedarf realistisch einzuschätzen und Patientinnen und Patienten ohne Notfallindikation gezielt in ambulante Kooperationspraxen weiterzuleiten. Dies entlastet Notaufnahmen spürbar, vermeidet unnötige Transporte und führt Patientinnen und Patienten bedarfsgerecht der erforderlichen Versorgung zu.

Eine bundesweite Harmonisierung, wie sie wissenschaftlich empfohlen wird, wäre im Interesse einer echten Entlastung – doch im Gesetzentwurf bleibt diese strukturelle Weichenstellung weitgehend aus.

Wenn eine Reform ihrem eigenen Anspruch gerecht werden soll, muss sie diejenigen einbeziehen, die die Versorgung tragen, und sich an den Versorgungsrealitäten orientieren, nicht an der Idee der theoretischen Verfügbarkeit medizinischer Leistungen. Dies spiegelt sich auch in dem im Gesetzentwurf formulierten 24/7 aufsuchenden Fahrdienst wider, der die Frage aufwirft, woher die dafür notwendigen ­Ärztinnen und Ärzte kommen sollen. Wer Dienst macht, kann nicht gleichzeitig in seiner Praxis arbeiten.

Gesundheitskompetenz fördern

Mit Blick auf die Zukunft kann eine nachhaltige Entlastung des Gesundheitswesens jedoch nur dadurch erreicht werden, dass das ­Anspruchsdenken der Bevölkerung wie auch die Gesundheitskompetenz auf eine neue Ebene gehoben werden. Aufgabe von Politik und Krankenkassen ist es deshalb, den Menschen deutlich zu machen, dass die Prämisse „jeder zu jeder Zeit überall von ­jedem alles“ nicht weiter aufrecht erhalten werden kann und zudem mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit gefordert wird. Dies geschieht einerseits durch Veränderung des Verhaltens, andererseits durch Verhältnisänderung. Letztere soll durch Steuerung präventives Handeln fördern. 

Aus meiner Sicht lohnt es sich deshalb, die nun diskutierten EU-Pläne für eine Abgabe auf stark verarbeitete, zucker-, fett- oder salzhaltige Lebensmittel sowie auf süße alkoholhaltige Misch­getränke im Kontext der Verhältnisprävention zu betrachten. Wenn wir Gesundheitskompetenz ernsthaft denken, dann gehört dazu nicht nur die individuelle Fähigkeit, informiert zu entscheiden, sondern auch eine Umgebung, die gesundheitsförderliche Entscheidungen erleichtert. Fiskalische Maßnahmen können – richtig ausgestaltet und wissenschaftlich hinterlegt – ein Baustein solcher Rahmenbedingungen sein.

Vor diesem Hintergrund kann ich nicht nachvollziehen, dass hier pauschal vor „Bevormundung“ oder „Bürokratie“ ­gewarnt wird. Sich des Bürokratieabbaus zu ­bedienen, statt eine sinnvolle Maßnahme in der ­Prävention zu unterstützen greift zu kurz und führt uns nicht weiter. Wir werden die großen Herausforderungen in der Bevölkerungsgesundheit nicht ­bewältigen, wenn wir strukturverändernde Maßnahmen von vornherein ausschließen. Vielmehr geht es darum, Chancen und Risiken differenziert zu prüfen, soziale Auswirkungen zu berücksichtigen und Lösungen zu ­entwickeln, die tatsächlich wirksam sind.

In England zeigt sich, dass die Abgabe auf zuckerhaltige Getränke offenbar Wirkung zeigt: die Ergebnisse ­einer aktuelle Studie in „PLOS Medicine“ deuten darauf hin, dass die britische Softdrinksteuer positive Auswirkungen auf die Gesundheit in Form einer geringeren ­Adipositasrate bei Mädchen im Alter von zehn bis elf ­Jahren hatte.

Ich möchte mich deshalb ausdrücklich dafür einsetzen, dass wir in Bayern und darüber hinaus offen und evidenzbasiert über geeignete Instrumente sprechen – auch über Abgaben, wenn sie Teil eines umfassenden, verhältnispräventiven Ansatzes sein können. Diese ­Forderung unterstützen auch mehrfach Anträge auf Bayerischen und Deutschen Ärztetagen. Nur so werden wir Fortschritte erzielen, die bei den Menschen spürbar ankommen und langfristig Gesundheit fördern.

In diesem Zusammenhang ist mir immer noch unverständlich, warum das mittlerweile konsentierte Ziel der Stärkung der Gesundheitskompetenz nicht dadurch gefördert wird, dass wir Gesundheits- und Klimaziele konsequent in die Lehrpläne der Schulen aufnehmen und deren ­Umsetzung im Unterricht vorantreiben. Schule ist der Ort, an dem Bildung mit den größten Stellenwert einnimmt, was letztlich auch für Gesundheitsbildung gilt.

Die Bayerische Landesärztekammer fordert daher: eine Notfallreform, die diesen Namen verdient und in diesem Zusammenhang auch eine wirksame Verhältnisänderung, wenn es um die Stärkung und Umsetzung von Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung geht. Der in Bayern vom Bayerischen Staatsministerium für ­Gesundheit, Pflege und Prävention aufgestellte Masterplan Prävention macht dann Sinn, wenn er auf allen Ebenen unterstützt wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche Ihnen und ­Ihren Familien ein glückliches Weihnachtsfest und ein friedvolles und gesundes neues Jahr 2026.

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