Der „interessante Fall“ aus der Gutachterstelle. Folge 7: Fortbestehende Schulterschmerzen nach zerebralem Krampfanfall

Schulterschmerzen

Die Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen bei der Bayerischen Landesärztekammer (BLÄK) möchte anhand ausgewählter, anonymisierter Fallbeispiele Kolleginnen und Kollegen für bestimmte klinische Themen sensibilisieren und somit in ihrer täglichen Arbeit unterstützen.

Anhand des aktuellen Falles soll dafür sensibilisiert werden, wie wichtig es ist, nicht unreflektiert an einer einmal getroffenen Diagnose festzuhalten. Der behandelnde Arzt sollte immer offen sein, eine Diagnose kritisch zu hinterfragen, wenn diese das aktuelle Beschwerdebild des Patienten nicht ausreichend erklären kann. Unter Umständen muss er auch zur weiteren Abklärung, wenn die Beschwerden „einem anderen Fachgebiet zuzuordnen sind“, einen Kollegen eines anderen Fachgebietes zurate ziehen.

Medizinischer Sachverhalt

Ein 50-jähriger Patient wurde mit der Verdachtsdiagnose „zerebraler Krampfanfall“ in einer Klinik, Abteilung für Innere Medizin, stationär aufgenommen, nachdem ihn die Angehörigen krampfend und nicht ansprechbar aufgefunden hatten. Im Anschluss an den Krampfanfall bestanden Schmerzen sowie Bewegungseinschränkungen in beiden Oberarmen/Schultern.

Im Krankenhaus wurde neben verschiedenen diagnostischen Untersuchungen zur Abklärung des Krampfanfalls auch jeweils ein Röntgenbild beider Schultern in zwei Ebenen in der chirurgischen Abteilung angefertigt. Diese wurden als regelrecht bezüglich der anatomischen Stellung und ohne Hinweis auf Frakturen befundet.

Während des stationären Aufenthaltes zeigte sich beim Patienten nur eine zögerliche klinische Besserung. Er wurde dann mit einer antikonvulsiven Therapie und krankengymnastischen Maßnahmen in die weitere hausärztliche Behandlung entlassen.

Nach Durchführung einer MRT-Untersuchung beider Schultern über ein halbes Jahr nach dem Krampfanfall, wurde schließlich die Diagnose einer „verhakten hinteren Schulterluxation links und rechts mit Hill-Sachs-Läsion und Kapselruptur“ gestellt.

Vorwurf

Der Patient wandte sich mit seinem Fall an die Gutachterstelle für Arzthaftungsfragen. Er bat um Überprüfung der stationären Behandlung und führte aus, dass der behandelnde Arzt – aus seiner Sicht fehlerhaft – die Luxation beider Schultergelenke auf den Röntgenaufnahmen nicht erkannt hätte. Seiner Ansicht nach hätte die Diagnose bei fortwährenden Schmerzen und Bewegungseinschränkung durch einen Facharzt der Radiologie, Orthopädie oder Unfallchirurgie überprüft werden müssen. So sei er mit einer falschen bzw. fehlenden Diagnose entlassen worden.

Als Gesundheitsschaden gibt der Patient bis heute bestehende beidseitige Schulterluxationen, welche mit hochgradigen Bewegungseinschränkungen und Schmerzen einhergehen, an. Auch sei durch den langen Zeitraum zwischen Luxation und Diagnosestellung die Möglichkeit einer geschlossenen Reposition nicht mehr gegeben gewesen.

Gutachten

Nachdem sich die beschuldigte Klinik (Antragsgegner) und die zuständige Haftpflichtversicherung mit der Durchführung des freiwilligen Gutachterverfahrens einverstanden erklärt hatten, holte die Gutachterstelle ein externes Sachverständigengutachten ein. Dies ist eine übliche Vorgehensweise der Gutachterstelle. An die gemachten Feststellungen des externen Gutachters ist die Gutachterstelle allerdings nicht gebunden. Sie dienen der Vorbereitung der Entscheidung der Gutachterstelle.

Der Gutachter machte in seinem Gutachten folgende Feststellungen: Der Patient hat sich bei dem Krampfanfall ohne äußere Ursache eine dorsale Schulterluxation beiderseits mit Impressionsfrakturen des Humeruskopfes durch den Pfannenrand mit Verhakung zugezogen.

Dies ist eine schwere, komplikationsträchtige, aber seltene Verletzung, welche im Rahmen von Krampfanfällen oder Starkstromunfällen auftreten kann.

Typische klinische Zeichen einer ­posterioren Schulterluxation sind: Hintere Prominenz des Humeruskopfes, Abflachung des ventralen Schulterreliefs mit Hervortreten des Processus coracoideus, federnde Innenrotationsstellung des Armes, eingeschränkte oder aufgehobene Außenrotation und eingeschränkte Elevation. Ein charakteristisches Zeichen in der Röntgenaufnahme im anterior-posterioren Strahlengang liegt vor, wenn der Humeruskopf und die Schulterpfanne nicht überlagerungsfrei zur Darstellung kommen und sich die beiden Gelenkpartner bei „leerer Pfanne“ überschneiden.

Die Reposition der hinteren verhakten Schulter­luxation sollte zeitnah erfolgen, da eine geschlossene Reposition sonst meist nicht mehr möglich ist, sodass offen reponiert werden muss.

Bei einer übersehenen und nicht behandelten Verletzung kommt es nach Überzeugung des Gutachters im weiteren Verlauf zu einer posttraumatischen Omarthrose, die mit einer hochgradigen Funktionseinschränkung der betroffenen Extremität bis hin zur Versteifung im Schultergelenk einhergehen kann.

Im Krankenhaus wurden am Aufnahmetag zwei Röntgenaufnahmen der Schultern veranlasst. Sie zeigen auf beiden Seiten den typischen Befund einer Schulterluxation mit leerer Pfanne sowie Fehlstellung und Impressionsfrakturen des Humeruskopfes.

Aus einem Arztbericht ergibt sich, dass bei dem Patienten Bewegungseinschränkungen bestanden und eine ausführliche internistische Untersuchung erfolgte. Eine klinische Untersuchung der oberen Extremität bei primären und vor allem fortbestehenden Schmerzen in beiden Oberarmen ist nicht dokumentiert. Dies hätte aber dokumentiert werden müssen.

Entscheidung der Gutachterstelle

Die Entscheidung, ob ein Behandlungsfehler vorliegt trifft bei der bayerischen Gutachterstelle eine Kommission, die sich aus einem Arzt und einem Juristen zusammensetzt.

Zunächst folgte in Übereinstimmung mit dem (externen) Gutachter die Feststellung, dass auf den Röntgenaufnahmen der Schultergelenke vom Aufnahmetag im Klinikum, die Luxationen beider Schultergelenke zu diagnostizieren waren. Die Nichterkennung dieses pathologischen Befundes beider Schultergelenke stellt einen Diagnosefehler des behandelnden Chirurgen des Krankenhauses dar.

Die Kommission stellte sich nun die Frage, ob neben diesem Chirurgen auch den behandelnden Ärzten der Abteilung für Innere Medizin ein Behandlungsfehlervorwurf gemacht werden muss.

In der der Gutachterstelle vorliegenden Dokumentation finden sich keine Einträge über eine klinische Untersuchung der oberen Extremitäten. Die Gutachterstelle ging deswegen davon aus, dass eine solche dokumentationspflichtige Untersuchung auch nicht stattgefunden hat.

Dokumentationsmangel: Ein Dokumentationsmangel ist für sich gesehen kein Behandlungsfehler. Die Unterlassung einer rechtlich gebotenen Dokumentation führt aber in einem Arzthaftungsprozess zu Beweiserleichterungen für den Patienten. Ist eine ärztliche Maßnahme, die dokumentationspflichtig ist, nicht dokumentiert worden, spricht zugunsten des Patienten die Vermutung dafür, dass diese Maßnahme auch nicht stattgefunden hat. Diese Vermutung kann der behandelnde Arzt zum Beispiel durch Zeugen in einem Arzthaftungsprozess widerlegen.

Die Kommission stellte im Hinblick auf den von ihr festgestellten Dokumentationsmangel ein Versäumnis des behandelnden Arztes fest. Er wäre verpflichtet gewesen, nach den Ursachen der fortbestehenden Beschwerden zu forschen. Dies nicht zu tun, ist grundsätzlich behandlungsfehlerhaft.

Die angefertigten Röntgenbilder wurden durch einen Chirurgen des Krankenhauses fälschlicherweise als regelrecht bezüglich der anatomischen Stellung und ohne Hinweis auf Frakturen befundet. Die Kommission stellte sich im Folgenden die Frage, ob aufgrund des vorliegenden Befundes der chirurgischen Abteilung die Untersuchung der oberen Extremitäten entbehrlich gewesen ist.

Horizontale Arbeitsteilung: Sie liegt dann vor, wenn mehrere Ärzte verschiedener Gebietsbezeichnungen zusammenarbeiten. Grundsätzlich trifft die Haftung denjenigen Arzt in dessen Fachgebiet die Behandlung fällt. Dabei darf ein Arzt grundsätzlich davon ausgehen, dass sein Kollege aus dem anderen Fachbereich seine Behandlungsaufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt (Vertrauensgrundsatz). Dies gilt solange, bis sich der Verdacht einer Sorgfaltspflichtverletzung aufdrängt.

Offengelassen hat die Kommission, ob der behandelnde Internist hätte erkennen müssen, dass die Befundung des Röntgenbildes fehlerhaft war. Grundsätzlich kann sich ein Internist auf die Befundung eines Kollegen einer anderen Fachrichtung verlassen. Er ist nicht verpflichtet diese auf Fehler zu überprüfen. Die Kommission war aber der Ansicht, dass bei den persistierenden Beschwerden in beiden Oberarmen/Schultern ab einem gewissen Zeitpunkt der radiologische Normalbefund hätte sehr wohl kritisch hinterfragt werden müssen. Von einem Facharzt für Innere Medizin muss verlangt werden, dass er um die Tatsache weiß, dass es bei Krampfanfällen zu Begleitverletzungen wie unter anderem Zungenbiss, Schulterluxationen, Hüftgelenksluxationen und Frakturen kommen kann. Vor diesem Hintergrund hätte bei den persistierenden Schmerzen der oberen Extremitäten die Untersuchung des Patienten durchgeführt werden bzw. die konkreten Beschwerden zum Anlass genommen werden müssen, trotz des (fehlerhaften) Normalbefundes (nochmals) weitere Kollegen, wie zum Beispiel Konsiliarärzte für Radiologie und/oder Unfallchirurgie/Orthopädie, hinzuzuziehen.

Dass dies unterlassen worden ist, sah die Kommission als Behandlungsfehler der behandelnden Internisten an.

Erst mehr als ein halbes Jahr später wurde die dorsale Schulterluxation in beiden Schultergelenken zutreffend diagnostiziert. Zu diesem Zeitpunkt war die Reposition der dorsal in Luxationsstellung verhakten Humerusköpfe nicht mehr möglich.

Als Schaden, der durch die Behandlungsfehler des Chirurgen und des Internisten verursacht wurde, sah die Kommission unter anderem die daraus resultierende dauerhafte Fehlstellung mit schwerer Funktionseinbuße beider Arme zur Folge an.

Autoren

Professor Dr. Ekkehard Pratschke,
Alban Braun,
Dr. Susanne Jung-Munkwitz

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