Prävention von Gewalt und Amok – Handlungsfelder der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Prävention

In acht Beiträgen informieren Experten im „Bayerischen Ärzteblatt“ über verschiedene Aspekte der Prävention aus gesundheitspolitischer Sicht. Die Beiträge erscheinen vierteljährlich, der erste Beitrag wurde in der Januar/Februar-Ausgabe 2017 des „Bayerischen Ärzteblattes“ veröffentlicht. In dieser Ausgabe schreibt Professor Dr. Franz Joseph Freisleder über die „Prävention von Gewalt und Amok – Handlungsfelder der Kinder- und Jugendpsychiatrie“.
Die Redaktion

Prävention und Früherkennung von Krankheiten galten lange Zeit als eine Domäne der somatischen Medizin. Vorbeugemaßnahmen gegen die Entstehung und Chronifizierung von seelischen Störungen spielen jedoch auch schon immer in der Psychiatrie eine wichtige Rolle. Neben Fortschritten im Bereich der unterschiedlichen Behandlungsformen von psychischen Erkrankungen haben aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu deren genetischen, biologischen und psychosozialen Ursachen auch ihrer Prävention eine neue Dynamik verliehen. Klosterkötters und Maiers 2017 herausgegebenes „Handbuch Präventive Psychiatrie“ [1] gibt hierzu einen umfassenden Überblick. Auch in der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben Prävention und Früherkennung heute eine herausragende Bedeutung. Denn es ist bekannt, dass gerade das frühe Auftreten bzw. das Übersehen bestimmter Verhaltensauffälligkeiten und Störungsmuster, etwa einer Depression, einer Essstörung oder einer Sozialverhaltensstörung, erhebliche Entwicklungsrisiken in sich bergen können – nicht selten mit erheblichen Auswirkungen auf das soziale Umfeld eines Jugendlichen. Im Fokus des öffentlichen Interesses steht in diesem Zusammenhang auch die Problematik der Prävention von schweren Gewalttaten bis hin zu Amokläufen, die von jungen Tätern verübt werden. Derartige spektakuläre Vorkommnisse finden in den Medien große Resonanz und führen zu kritischen Spekulationen darüber, ob sich solche dramatischen Ereignisse hätten verhindern lassen.

Vom Opfer zum Täter

Im kriminologischen Kontext kennen Kinder- und Jugendpsychiater ihre Patienten in erster Linie als Opfer von Verwahrlosung, Misshandlung oder Gewaltverbrechen. Gerade für den Jugendpsychi­ater ist es beunruhigend, wenn er einem seiner Patienten, den er zunächst als Opfer zum Beispiel eines sexuellen Missbrauchs oder einer familiären Deprivation diagnostiziert und behandelt hat, einige Jahre später nach Verübung einer oder mehrerer Straftaten als Sachverständiger bei der Schuldfähigkeitsbegutachtung als Straftäter wieder begegnet. Solche deprimierenden Karrieren vom Opfer zum Täter sind natürlich nicht zwangsläufig, aber keineswegs eine Seltenheit im Spektrum der Kinder- und Jugenddelinquenz [2]. Andererseits wäre es jedoch ein Trugschluss, der Mehrzahl jugendlicher Gewalttäter grundsätzlich eine frühere Opferrolle oder eine psychische Erkrankung zu unterstellen. Zunächst ist festzustellen, dass delinquent-­aggressives Verhalten eines Jugendlichen, sei es in Form eines repetitiven Handlungsmusters oder in Gestalt einer einmaligen schweren Gewalthandlung, primär eine wie auch immer motivierte Straftat und keineswegs per se Symptom einer psychischen Störung ist. Deshalb fällt gewalttätiges Verhalten nicht prinzipiell in die Kompetenz der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei nachträglicher Betrachtung der Vorgeschichte eines jungen Aggressionstäters, zum Beispiel im Rahmen einer forensischen Begutachtung, stellt sich aber gelegentlich heraus, dass ein Betroffener während seiner Tat an einer bisher nicht bekannten psychischen Störung gelitten hat, irgendwann vor seiner Tat bereits Kontakt mit der Psychiatrie hatte oder sich schon einmal in einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung befunden hat. Daraus resultiert die Frage, ob und inwieweit auch die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die ja meistens erst nach anderen Institutionen wie Schule, Jugendamt oder Polizei mit aggressiven und potenziell gefährlichen Jugendlichen konfrontiert wird, mit ihren diagnostisch-therapeutischen Angeboten ebenso Präventionsarbeit zur Verhütung von schweren Gewaltdelikten leisten kann.

Diverse kinder- und jugendpsychiatrische Studien kamen zu dem Ergebnis, dass eine vor allem aggressiv getönte dissozial-delinquente Symp­tomatik umso persistenter und ihre Prognose umso ungünstiger ist, je frühzeitiger sie auftritt. Schon 1974 hat Robins in einer großen katamnestischen Untersuchung gezeigt, dass die Hälfte der bereits im Kindesalter als antisozial diagnostizierten Patienten – heute bezeichnen wir sie als Early Starters – später vor ein Strafgericht kommt und dass bei allen von ihnen ein erhöhtes Sucht- und psychiatrisches Erkrankungsrisiko besteht. Auf die Wichtigkeit einer Früherkennung und Frühintervention bei manchmal schon im Vorschulalter beginnenden Sozialverhaltensstörungen zur Verringerung eines späteren Gefährdungspotenzials, deuten auch die Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudie [3] oder die Untersuchungen von Farrington [4] hin. Derzeit stehen einige erprobte psychotherapeutische Verfahren und Präventionsprogramme zur Verfügung, die im stationären klinischen Setting bzw. im ambulanten Rahmen, oft unter der Mitwirkung von Eltern und Erziehern, zur frühzeitigen Behandlung von expansivem Problemverhalten und von externalisierenden Störungen von Kindern eingesetzt werden können [5].

Aggressionssymptomatik

Beim Patientengut einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik mit Versorgungspflicht wie dem kbo-Heckscher-Klinikum stellt bei mehr als 50 Prozent aggressiv-impulsives bzw. autoaggressiv-suizidales Verhalten ein Leitsymptom dar. Im Hinblick auf ein Gewaltrisiko erweist sich hier oft die richtige ätiologische Einordnung einer Aggressionssymptomatik in ein umschriebenes Krankheitsbild als besondere diagnostische Schwierigkeit. Denn fremd- und autoaggressive Verhaltensweisen treten nicht nur bei expansiven Sozialverhaltensstörungen, sondern zum Beispiel auch in komorbider Gestalt bei ADHS, Impulskontroll- und Persönlichkeitsentwicklungsstörungen, bei Borderline- und autistischen Syndromen, schizophrenen Psychosen und vor allem bei alkohol- und drogenassoziierten Störungsbildern auf. Es ist einleuchtend, dass vor diesem Hintergrund auch zur Verhinderung von (erneuten) Aggressionshandlungen rechtzeitig gezielte störungsspezifische Behandlungsformen und nicht selten geeignete Jugendhilfemaßnahmen unter Einbeziehung der verantwortlichen erwachsenen Bezugspersonen initiiert werden müssen. Erfahrungsgemäß ist dies oft nicht leicht realisierbar und stößt nicht nur ausnahmsweise bei den Patienten sowie deren Eltern auf zu geringe Compliance.

Bei der Planung des weiteren therapeutischen und sekundärpräventiven Umgangs mit gewaltbereiten Jugendlichen hat sich die Unterscheidung von zwei Prägnanztypen als hilfreich erwiesen [6]: Der zahlenmäßig im Vordergrund stehende dissozial-unterkontrollierte Aggressionstäter wächst häufig unter defizitären erzieherischen Bedingungen auf und hat sein, oft in Gruppen auftretendes Deliktverhalten, schon im Grundschulalter begonnen. Er verfügt eher über eine niedrige Intelligenz und manchmal über diskrete hirnorganische Auffälligkeiten. Nicht selten bietet er außerdem anamnestische Hinweise auf ADHS und Teilleistungsstörungen wie zum Beispiel Legasthenie oder Sprachentwicklungsstörungen. Vielfach findet sich bei ihm ein schädlicher Gebrauch vor allem von Alkohol. Dieser Personenkreis besitzt ein hohes Risiko für die Etablierung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter. Die frühzeitige Erkennung entsprechend gefährdeter Kinder, die Behandlung einer eventuell bestehenden psychischen Störung und die konsequente Einleitung von pädagogischen Hilfen können hier am ehesten präventiv die Entwicklung einer dissozialen Karriere aufhalten.

Die zweite, rarere und schwieriger zu erkennende Variante ist der überkontrollierte Aggressionstätertyp. Dieser kommt vor allem bei Jugendlichen mit solchen aggressiven Handlungen in Frage, die sich für die Umgebung meist überraschend ereignen und zunächst oft unerklärlich sind. Hier handelt es sich auf den ersten Blick um eher unscheinbare, jedoch gehemmt-sensible und narzisstisch leicht kränkbare Jugendliche, die im Alltag bevorzugt zurückgezogen und einzelgängerisch leben und phasenweise sogar als ängstlich und depressiv imponieren können. Vor allem aber scheinen bestimmte Jugendliche dieses Typus ein großes Problem damit zu haben, in adäquater Weise mit ihren aggressiven Impulsen umzugehen. Im Gleichaltrigenkreis wird solchen Außenseiterpersonen manchmal die Rolle des „Sündenbocks“ zugeschrieben. Erlebt ein derartig aggressiv-gehemmter bzw. überkontrollierter Heranwachsender, eventuell in einer affektiv aufgeschaukelten Situation, eine plötzliche Kränkung oder Provokation, kann er zu einem heftigen, für Außenstehende unerwarteten aggressiven Durchbruch – im Extremfall auch zu einer Tötungshandlung – in der Lage sein. In derartigen Fällen lassen sich nicht nur ausnahmsweise lang anhaltende, ungelöste emotionale Konflikte des Täters feststellen, in die oft auch sein Opfer, möglicherweise als Projektionsobjekt, verwickelt war. Auf aggressiv-gehemmte und überkontrollierte Täter wird die Umgebung oft erst nach einer massiven Gewalttat aufmerksam, die sich „wie aus heiterem Himmel“ ereignet hat. Gelegentlich wird bei der anschließenden psychiatrischen Begutachtung eine bisher nicht erkannte psychische Störung, zum Beispiel eine Persönlichkeitsentwicklungsstörung oder seltener einmal eine blande schizophrene Psychose diagnostiziert. Bei der postdeliktischen Analyse solcher Fälle lassen sich bisweilen bestimmte soziale Konstellationen eruieren, in denen sich der spätere Täter selbst aus seiner eigenen Sicht schon längerfristig als benachteiligtes und ausgegrenztes Opfer erlebt hat, dessen aufgestaute Wut und Rachegefühle sich abrupt bzw. mehr oder weniger geplant eines Tages entladen.

Amoklauf

Als Extrembeispiele für exzessive Gewalttaten gelten sogenannte Amokläufe, bei denen Jugendliche überwiegend alleine in ihrer (ehemaligen) Schule (School Shooting) bzw. im öffentlichen Raum Lehrer, Mitschüler oder ihnen unbekannte Menschen völlig überraschend, in der Regel mit Schusswaffen, töten, bevor sie sich meist suizidieren oder ihren eigenen Tod (Erschießung durch Polizei) durchaus billigend in Kauf nehmen. Nach einem weltweit stark beachteten Amoklauf durch zwei Jugendliche an der Columbine High School in Littleton, USA, 1999 kam es in den vergangenen beiden Jahrzehnten auch in Deutschland zu mehreren von jungen Menschen verübten Amokereignissen mit vielen Toten (unter anderem Bad Reichenhall 1999, Freising 2002, Erfurt 2002, Winnenden 2007, München 2016). Keiner der hier in Frage kommenden Täter konnte nach seiner Amoktat zu den Hintergründen Stellung beziehen bzw. psychiatrisch untersucht werden, da alle bei dem Ereignis ums Leben gekommen waren. Bei Amoktätern gab es retrospektiv wiederholt Hinweise dafür, dass sie sich im Vorfeld ihrer Tat, zumindest nach ihrem subjektiven Empfinden, in einer gelegentlich jahrelangen schwierigen Lebenssituation mit zwischenmenschlichen Spannungen und Kränkungserlebnissen, etwa Mobbing bzw. Bullying in der Schule, befunden haben sollen. Sie haben manchmal in ihrer Umgebung diffuse, mehr oder weniger konkrete Gewaltandrohungen gemacht. Einige der Täter waren in der Vergangenheit wegen diverser Problemlagen bereits in psychiatrisch-psychotherapeutischer Behandlung gewesen. Diese Erfahrungen könnten einen Ansatz für präventive Maßnahmen bieten. Primär muss es daher um den Aufbau von mehr Sensibilität und Wachsamkeit, vor allem im Schulalltag, gehen. Lehrer und Mitschüler sind deshalb gleichermaßen dazu aufgefordert, kein Klassenklima entstehen zu lassen, in dem andere ausgegrenzt und drangsaliert werden. Schüler in Krisensituationen oder mit Hinweisen für eine gewaltspezifische Entwicklung sollten identifiziert werden, damit für sie ein Unterstützungsangebot und, eventuell mit Expertenhilfe, eine Bedrohungseinschätzung erfolgen kann. Erste positive Erfahrungen gibt es etwa mit dem aus den USA stammenden Krisenpräventionsverfahren NETWASS (NETworks against School Shootings). Bei diesem für Schulen entwickelten Verfahren arbeiten schulinterne Mitarbeiter mit Eltern und außerschulischen Experten (zum Beispiel Kinder- und Jugendpsychiatern) zusammen, um bei potenziellen Gewalttätern ein Eskalationsrisiko rechtzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können [7].

Bemerkenswert ist ebenso das wiederkehrende Phänomen, dass vor allem an den Tagen nach stattgefundenen Amokläufen, die natürlich auch die Medien beherrschten, der Kinder- und Jugendpsychiatrie eine größere Zahl von „amokverdächtigen“ Jugendlichen vorgestellt werden. Am Heckscher-Klinikum waren es nach den Ereignissen in Erfurt, Winnenden und München jeweils um die 20 Fälle. Diese Jugendlichen hatten selbst mehr oder weniger ernsthaft anderen gegenüber angebliche Amokabsichten angedeutet, sie wurden aus diesem Grund ambulant psychiatrisch untersucht und zum Teil auch vorübergehend stationär behandelt. Vor allem im Nachhall von Amoktaten begegnet man auch regelmäßig sogenannten „Trittbrettfahrern“, die, vom aktuellen Vorfall zur Imitation angeregt, oft unreflektiert durch entsprechende verbale oder schriftliche Äußerungen auf sich aufmerksam machen wollen. Für den Kinder- und Jugendpsychiater ist es im Übrigen keine Rarität, dass in verschiedener Weise problematische, oft unreife und labile Jugendliche in emotionaler Erregung aus Imponiergehabe auch martialische Drohungen ausstoßen, ohne wirklich Gewalttaten in die Realität umsetzen zu wollen. Ähnlich wie suizidale Drohungen müssen Gewaltankündigungen oder die eigene Mitteilung von aggressiven Phantasien aber immer sehr ernst genommen, vom Behandler achtsam hinterfragt und in einen situativen Kontext eingeordnet werden. Besondere Vorsicht ist geboten, wenn anamnestisch bekannt wird, dass ein Jugendlicher sich aus seinen früheren sozialen Bezügen zurückgezogen, sich offenkundig mit einem früheren Amoktäter identifiziert und darüber hinaus entsprechend konkrete Anschlagsplanungen bekannt gemacht hat. Wenn ein potenzieller Gefährder außerdem großes Interesse für Schusswaffen zeigt und über solche sogar verfügen könnte, ist dies als weiteres Warnsignal zu werten. Riskant ist in diesem Zusammenhang nicht nur ein eventuell unzureichend gesicherter Waffenschrank im elterlichen Haushalt, sondern auch die Möglichkeit für internetaffine Jugendliche, sich verdeckt über das Darknet gefährliche Waffen zu beschaffen.

Das Literaturverzeichnis kann im Internet unter www.bayerisches-ärzteblatt.de (Aktuelles Heft) abgerufen werden.

Autor


Professor Dr. Franz Joseph Freisleder

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapie

Ärztlicher Direktor des kbo-Heckscher-Klinikums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Akademisches Lehrkrankenhaus der Ludwig-Maximilians-Universität München, Deisenhofener Straße 28, 81538 München

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