Terra Nostra. Medizinische Versorgung von Flüchtlingen

Die Akutpraxis für Asylbewerber auf dem Gelände der „Bayernkaserne“ an der Münchner Heidemannstraße.

Der Anstieg der Asylbewerberzahlen in Deutschland hat erneut eine Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen ausgelöst. Die Diskussion wird von Begriffen wie überfüllte Massenunterkünfte und eingeschränkte Versorgung geprägt. Hat sich die Lage der Menschen, die nach einer Flucht vor Krieg, Terror oder Verfolgung Schutz bei uns suchen nach dem „Flüchtlingsgipfel“ der Länder-Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin Mitte Dezember 2014 verbessert? Ist die nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) auf Schmerzen und akute Erkrankungen begrenzte Gesundheitsversorgung ausreichend oder mit zu großen bürokratischen Hürden verbunden? Welchen Beitrag leisten die Ärztinnen und Ärzte?

Bayernkaserne

Ortstermin bei den „Refudocs“ auf dem Gelände der Bayernkaserne im Münchner Norden Ende Januar. Dort ist eine Akutpraxis, bestehend aus drei Containern und einem kleinen, umgebauten Nebengebäude, geführt von freiwilligen Ärztinnen und Ärzten und nichtärzlichen Helferinnen und Helfern am Laufen. Finanziert wird die Praxis vom Referat Gesundheit der Stadt München und von der Regierung von Oberbayern sowie aus Spendengeldern des Vereins „Refudocs“. „In der Folge zunehmender Flucht und Vertreibung in weiten Teilen der Welt hat in den vergangenen Jahren ein immenser Zustrom von hilfesuchenden Menschen in Richtung Europa eingesetzt. Gerade Deutschland und insbesondere Bayern, als südlichstes Bundesland, ist stark betroffen“, sagt Roland Endlicher, Leiter der Aufnahmeeinrichtung (AE) für Asylbewerber von der Regierung von Oberbayern.

Neben der Bayernkaserne stehen noch Zirndorf in Mittelfranken für den Norden und seit Kurzem auch Deggendorf für Niederbayern zur Verfügung. Es sei geplant, dass mittelfristig jeder Regierungsbezirk eine AE betreibe, was nötig sei, denn der Herbst 2014, so Endlicher, „war einfach too much“. Die Bayernkaserne bleibe aber die größte AE in Bayern, ganz einfach, „weil viele Flüchtlinge auf der Salzburger-Autobahn, der Inntal-Autobahn oder im Zug vom Zoll bzw. der Polizei aufgegriffen und nach München gebracht werden“, so Endlicher. Auch Schlepper und Schleuser brächten Flüchtlinge direkt zum Kasernentor. In der Spitzenzeit, so der Beamte, waren es über 4.000 – verteilt auf mehrere Dependancen in und um München. Derzeit sei die Lage mit rund 2.000 Flüchtlingen ruhiger, was man auch auf dem 42 Hektar großen Kasernengelände spürt. Bunte Graffitis schmücken so manche graue Wand und ein kleines Gehege mit Ziegen, Schafen, Alpakas und Hühnern ist gerade für die Kinder eine Attraktion. Die Tiere wurden vom Caterer der Bayernkaserne angeschafft, der sich auch um den Unterhalt der Tiere kümmert.

Refudocs

Zu dieser entspannten Situation trägt wesentlich auch die Arbeit der „Refudocs“ bei. „Die Menschen kommen nach schwierigen und zum Teil traumatischen Erfahrungen bei uns an und müssen medizinisch versorgt werden“, sagt Dr. Mathias Wendeborn, einer der Hauptinitiatoren der Akutpraxis, der selbst eine Kinderarztpraxis im Stadtteil Nymphenburg betreibt. Bei uns in Deutschland sind nach § 4 AsylbLG der Staat bzw. in Delegation die Städte und Kommunen für diese Aufgabe zuständig. „In den vergangenen Monaten hat sich gezeigt, dass es in manchen Regionen strukturelle und organisatorische Schwierigkeiten und Defizite gibt, sodass keine adäquate medizinische Versorgung gewährleistet werden konnte. Genau hier setzt die Tätigkeit unseres Vereins an“, ergänzt Internist Dr. Siegfried Rakette, der sich ebenfalls bei den „Refudocs“ stark engagiert. Mitmachen kann jeder Arzt oder nichtärztliche Helfer, wie derzeit ca. 70 Ärztinnen und Ärzte, die/der eine entsprechende Qualifikation besitzt. Der Verein führt eine Mitglieder- bzw. Helferliste mit Qualifikation und Verfügbarkeit der Freiwilligen und erstellt nach medizinischem Bedarf der Arbeitskräfte wöchentlich einen Dienstplan. Bezahlt werden die Ärzte und die beiden Medizinischen Fachangestellten (MFA) nach einem festen Stundensatz und über Spenden wird so manches Extra bezahlt. Die Praxisausstattung der „Refudocs“ wurde zu einem Großteil von der Regierung von Oberbayern finanziert und durch einige gespendete Gegenstände ergänzt. Medikamente werden über die Landeshauptstadt München abgerechnet. Die Kosten trägt auch hier im Ergebnis der Freistaat Bayern, da die Regierung von Oberbayern der Landeshauptstadt München die Kosten erstattet.


Dr. Mathias Wendeborn, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Gründer von „Refudocs“ und Roland Endlicher, Leiter der Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber München, Regierung von Oberbayern, Sachgebiet 14 – Flüchtlingsbetreuung (v. li.).


Gerade der niederschwellige Zugang für die Flüchtlinge, das Unbürokratische, ist für Wendeborn und Rakette wichtig. Daher verzichten die „Refudocs“ hier auch auf Rezepte oder die üblichen Berechtigungsscheine vom Sozialamt, sondern registrieren ihre Patienten, die in der Bayernkaserne untergebracht sind, zunächst auf eigens entworfenen Dokumentationsbögen und zusätzlich in einem medizinischen EDV-Dokomentationssystem, so daß bei Nachfrage z. B. nach Verlegung in eine andere Unterkunft,  der Weiterbehandelnde auf unsere Befunde zurückgreifen kann. Danach sind alle medizinisch indizierten Leistungen für die Patienten kostenfrei; Medikamente inbegriffen. Die Versorgungsqualität unterscheidet sich hier grundsätzlich nicht von der in einer Vertragsarztpraxis, sagen Wendeborn und Rakette überzeugt und auch ein bisschen stolz. Sie behandeln „nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot“ des Sozialgesetzbuchs V (SGB V), eben „ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich“. Zum Leistungsumfang des § 4 AsylbLG zählen unter anderem auch die „Kindervorsorgeuntersuchungen“ gemäß § 26 SGB V und Impfungen.

Dennoch stellt die „Flüchtlingsmedizin“ ganz andere Anforderungen an die Ärzte. Bei Sprachproblemen helfen Dolmetscher, wie Susanne Delza, die Arabisch und Kurdisch ins Deutsche übersetzt, doch vor allem soziokulturelle Unterschiede seien zu berücksichtigen. Viele Menschen stellten sich beispielsweise mit Scabies in der Praxis vor. Die Therapie der Wahl ist sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen die Anwendung einer Salbe, die die Krätzemilben abtötet. Während der Behandlung sollten alle Gegenstände, mit denen andere Personen in Kontakt kommen, regelmäßig desinfiziert werden, um eine Übertragung zu verhindern. „Besonders ist auf häufige Reinigung von Bett- und Unterwäsche zu achten, was aber problematisch ist, denn die Flüchtlinge besitzen gar nicht genügend Wechselwäsche“, erklärt Wendeborn. Zudem würden Bettlaken oft als Abtrennung der Räume verwendet und nicht als Matratzenauflage, um ein bisschen Privatsphäre in den Gemeinschaftsschlafsälen herzustellen.

Aber nicht nur das Arzt-Patientengespräch sei manchmal schwierig, gerade zwischen den verschiedenen Stellen und Behörden gebe es Kommunikationsdefizite. So erhielten weder die Patienten noch die sie später behandelnden Ärzte eine Dokumentation über die verpflichtende Gesundheitsuntersuchung nach § 62 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG), die in der Regel die Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes durchführen. Im AsylVfG heißt es in Satz 2 lediglich: „Das Ergebnis der Untersuchung ist der für die Unterbringung zuständigen Behörde mitzuteilen“. Nur leider erfahren die „Refudocs“ davon nichts.

Keine Tropenmedizin

Schon wartet der vier Monate alte Mohamed aus Somalia auf seine Behandlung. Wendeborn untersucht seinen kleinen Patienten in einem der zu Behandlungsräumen eingerichteten Containern und stellt schnell fest: „Keine Pneumonie, der Kleine hat eine Bronchitis“, was Dolmetscherin Delza der besorgten Mutter übersetzt. Ein Hustensaft wird für Heilung sorgen. Wendeborn bestätigt der stolzen Mutter, dass der kleine Mohamed kerngesund und kräftig ist und sich gut entwickelt. Erleichterung breitet sich auf dem Gesicht der Mutter aus und das Kinderlachen erhellt den ganzen Container.


Dr. Mathias Wendeborn untersucht den vier Monate alten Mohamed.


Nebenan stellt sich gerade Nuurcige I., ebenfalls aus Somalia, bei Dr. Michael Huber vor. Huber ist eigentlich Tropenmediziner und kommt an zwei Nachmittagen im Monat in die Praxis an der Heidemannstraße 50. „Tropenmedizin mache ich hier nicht, da die Flüchtlinge keine typischen Tropenkrankheiten, wie Lassa- oder Dengue-Fieber oder Malaria aufweisen. Viele sind wohl schon monatelang durch Europa unterwegs“, sagt Huber. Nuurcige wird begleitet von einem Freund und Landsmann, der ganz gut Englisch spricht und dolmetscht. Nuurcige, dessen Aufnahmeausweis den
1. Januar 1995 als Geburtsdatum angibt – da er wie viele ohne Dokumente ankam, wurde das Datum einfach festgelegt –, klagt über chronische Kopfschmerzen und Verstopfung. Nach ein paar Fragen und einer kurzen körperlichen Untersuchung kann Huber etwas Ernstes ausschließen. Er diagnostiziert Verdauungsprobleme und empfiehlt ballaststoffreichere Kost, Obst und viel Flüssigkeit. Sauerkraut wäre gut, doch mit dem Wort „cabbage“ wissen die beiden Somali wirklich nichts anzufangen. Bereitwillig zeigen sie dem Doktor aber ihre Verletzungen, ihre „gun shots“, fast wie „Beweise“, und berichten ihm von ihren Gründen für ihre Flucht.

Schuss- und Stichverletzungen, schlecht verheilte Wunden und Knochenbrüche kämen gar nicht so selten vor, meint auch Wendeborn, der, ebenso wie seine Kinderarzt-Kollegin Dr. Barbara Scherer, gerade eine Behandlungspause einlegt. Dazu kämen natürlich die ganz üblichen Erkrankungen, wie Erkältungs- oder Magen-Darm-Infekte, Entzündungen usw. Aber auch Schwangere oder chronisch kranke Patienten, wie Diabetiker oder Patienten mit Koronarer Herzkrankheit, seien an der Tagesordnung. Auffallend sei, dass rund 30 Prozent der unbegleiteten Jugendlichen an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) litten, was eine AE-interne Erhebung ergeben habe. Zahlreiche Frauen seien vergewaltigt worden und litten an den Folgen. Wie in jeder Vertragsarztpraxis auch, werde dann an einen Facharzt überwiesen bzw. eine Fachärztin, denn die allermeisten dieser Frauen möchten ausschließlich von einer Gynäkologin behandelt werden. Auch eine Therapie durch einen Psychotherapeuten sei möglich – wenn auch kompliziert.


Tillystraße

Etwas anders stellt sich die Situation in der AE Tillystraße 40, einer Notunterkunft der Stadt Nürnberg dar, die vom Roten Kreuz im Auftrag der Stadt betrieben wird. Im ehemaligen „Quelle“-Verwaltungsgebäude im Nürnberger Gewerbegebiet leben derzeit über 300 Flüchtlinge (zeitweise 400), die hier maximal sechs Wochen auf ihren „Transfer“ warten. Das ist der Arbeitsplatz von Dr. (Univ. Fasa) Mohamadmehdi Tadayon. Der sympathische Facharzt für Allgemeinmedizin ist Iraner und seit 2013 in Deutschland. Nach einem Deutschkurs und verschiedenen Hospitationen, unter anderem im Klinikum Nürnberg, ist er seit Dezember 2014 Angestellter des Gesundheitsamtes der Stadt, genau wie Hanife Güney, die Medizinische Fachangestellte (MFA). Seit dem 28. Januar wurden die vormals auf 20 Stunden befristeten Stellen – sowohl für den Arzt als auch die MFA – auf Vollzeitstellen aufgestockt, was die Situation enorm verbessert hat. Auf professionelle Dolmetscher greift Tadayon zum Beispiel im Fall von Aufklärungsgesprächen bei Hepatitis zurück. Meist muss er jedoch ohne Dolmetscher auskommen. Daher heißt es bei Anamnese, Diagnosemitteilung und Therapieerklärung, die Sprachbarrieren zu überwinden, was sehr zeitintensiv ist. Da hilft beispielsweise die selbst gebastelte Uhr, um die Einnahme-zeiten von Medikamenten zu erklären.


Der Allgemeinarzt Dr. (Univ. Fasa) Mohamadmehdi Tadayon und die Medizinische Fachangestellte Hanife Güney setzen auch ungewöhnliche Hilfsmittel, wie eine selbstgebastelte Uhr, ein.


„80 Prozent unserer Patientinnen und Patienten stammen aus Albanien und dem Kosovo, doch haben wir hier auch Patienten aus Afrika oder Asien, darunter auch unbegleitete Jugendliche“, sagt Tadayon. Der Arzt, der auch die infektiologische Erstuntersuchung nach § 62 AsylVfG vornimmt, wirkt besorgt, wenn er von den Erkrankungen seiner Patienten berichtet: „Wir hatten hier bereits Patienten mit offener TBC, Hepatitis C und HIV“. Impfungen stellen ein besonderes Problem dar, da Tadayon keine Impfstoffe zur Verfügung stehen und die Flüchtlinge auch keinen Impfpass mit sich führen. „Wir können eine TBC-Impfnarbe sehen – aber alle anderen Impfungen eben nicht“, erklärt Tadayon. Laut Gesundheitsamt ist künftig geplant, zu impfen - Erwachsene durch Tadayon, Kinder im Rahmen einer „Impfsprechstunde“ niedergelassener Pädiater in der Tillystrasse. Hauptsächlich haben es er und sein Team mit Erkältungskrankheiten oder dermatologischen Erkrankungen, wie Pilzinfektionen, Krätze oder Läusebefall, zu tun.


Die „Krankenstation“ für besondere Notfälle in der Aufnahmeeinrichtung Tillystraße.


Einen Krankenschein benötigen die Patienten nicht, denn das Vorlegen der „Begleitkarte“ reicht für eine Behandlung. Benötigen die Patienten einen Facharzt oder müssen ins Klinikum Nürnberg überwiesen werden, brauchen sie einen Behandlungsschein des Sozialamtes der Stadt, bei dessen Beantragung ihnen die Sozialpädagoginnen helfen. Auf dem Formular „Sprechstundenkonsil“ in der Praxis, werden stichwortartig Diagnoseerhebung und Therapieempfehlung festgehalten und zusätzlich geben die Helferinnen diese Basisdaten in eine Excel-Tabelle ein, die sie selbst verwalten und pflegen. Doch die Weiterbehandelnden – am Wochenende, in einer anderen Einrichtung oder in einem Krankenhaus – und die Patienten selbst bekamen von all dem nichts mit. Die Ärzte fingen praktisch immer wieder bei null an. Sobald der Patient dann die AE Tillystraße verließ, musste er in der nächsten Unterkunft erneut einen Arzt aufsuchen und sich um sein Medikament kümmern. Mittlerweile hat man sich zum Thema „Verfügbarkeit patientenbezogener Informationen am Wochenende“ abgesprochen. „Die weiterbehandelnden Ärzte (Niedergelassene bzw. Klinik) erhalten fachliche Informationen auf einem extra ‚Übermittlungsschein‘ (nicht dem ‚Sprechstundenkonsilschein‘) und einem kurzen Anschreiben. Und es gibt eine ziemlich ausführliche Dokumentation und ‚Gesamtkrankenakte‘“, so Dr. Katja Günther, Leiterin Medizinische Dienste und stellvertretende Leiterin des Gesundheitsamts.

Die blinde junge Frau aus dem Kosovo, die heute die Praxis aufsucht, klagt über Erkältungssymptome. Eine kurze Untersuchung – Fiebermessen, den Rachen ansehen und Lunge abhören – bestätigt den Diagnoseverdacht: akute Erkältung. Da die Kosovarin weder Brailleschrift lesen kann noch über einen Blindenstock verfügt, ist sie ganz auf die Hilfe ihrer Mutter angewiesen, die sie begleitet. Eine 16-jährige Mitbewohnerin der AE übersetzt ins Englische so gut es eben geht. Tadayon und Güney meistern die Situation sehr professionell, gelassen und ruhig. Die Patientin erhält aus dem Arzneimittelschrank, den die Stadt auf Empfehlung von Tadayon und den weiteren freiwillig tätigen Ärzten bestückt, ein geeignetes Medikament. Benötigt ein Patient ein besonderes Medikament, das die Akutpraxis nicht vorhält, so bestellt der Arzt die Arznei in einer Dosis für etwa einen Monat über das Gesundheitsamt Nürnberg, das mit Apotheken vor Ort zusammenarbeitet. Der Arzt behandelt auf diese Weise zwischen 20 und 30 Patientinnen und Patienten täglich. Ein Nebenraum, in dem sie einige Betten aufgestellt haben, dient als "Krankenstation“. „Die Basisversorgung ist abgedeckt bis auf dienstfreie Zeiten“ bestätigt Dr. Gerhard Gradl, Facharzt für Allgemeinmedizin aus Nürnberg. Neben seiner Einzelpraxis im Norden der Frankenmetropole hat Gradl einen Freiwilligendienst für die AE in der Tillysstraße organisiert, der sich vor allem am Wochenende um die Patienten kümmert. Oft seien die Patienten hier Roma, die in ihren Heimatländern unter Armut und teils massiver Diskriminierung litten, aber nicht als Verfolgte anerkannt würden. Begonnen hatte Gradls Flüchtlings-Engagement im Sommer 2014, als er einen niedergelassenen Kollegen spontan unterstützte, der in der AE-Zirndorf Sprechstunden abhielt. „In beiden Einrichtungen in der Regie der Regierung von Mittelfranken, der AE-Zirndorf und AE-,Möbel Höffner‘ in Fürth, finden derzeit werktäglich Sprechstunden statt“ sagt Ruth Kronau-Neef, Pressesprecherin der Regierung von Mittelfranken, auf Anfrage. Während die medizinische Versorgung der Asylbewerber in der AE-Zirndorf momentan über Krankenscheine erfolgt, wird die medizinische Versorgung in allen Notunterkünften seit Errichtung über die Beauftragung von Ärzten sichergestellt. Da sich dieses System als praktikabel erwiesen habe, sei es nun auch im Konzept des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration zur kurativen Versorgung der Asylbewerber in den Erstaufnahmeeinrichtungen enthalten. Einer medizinischen Versorgung auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) entspreche das nicht, meint Gradl, der auf viele Erfahrungen aus humanitären Einsätzen in Afrika und Asien über „Humedica“ zurückblicken kann. Zudem sei es auch schwierig, die medizinische Behandlung für einen chronisch Kranken „auf Facharztniveau hochzufahren“, wenn dieser dann nach ein paar Tagen in einer anderen AE verschwinde oder abgeschoben werde.


Untersuchung der blinden Patientin aus dem Kosovo. Im Hintergrund eine junge Übersetzerin.


Im Herbst 2014 hatte Gradl mit Unterstützung des Ärztlichen Kreisverbandes einen Aufruf gestartet, um freiwillige Ärztinnen und Ärzte für die Versorgung von Flüchtlingen zu finden. 35 Kolleginnen und Kollegen engagieren sich seither ehrenamtlich für die medizinische Versorgung der Flüchtlinge in der AE-Tillystraße an den Sams- und Sonntagen, jeweils für zwei Stunden. Für diesen Wochenenddienst hat Gradl mit der Stadt eine mündliche Vereinbarung getroffen und koordiniert auch den „Dienstplan“. Weitere Freiwillige haben sich bei der Regierung von Mittelfranken gemeldet. Wie es für die AE-Zirndorf aussieht, weiß Gradl nicht genau. Möglicherweise kümmerten sich dort Honorarärzte auch an den Wochenenden um die Flüchtlinge. Denn anders als für die Versicherten der GKV, sei der ärztliche Bereitschaftsdienst nicht verpflichtet, eine AE anzufahren. „Die Rettungsleitstellen erhalten zwar die Meldungen, aber es gibt keine Verpflichtung für den Arzt, da kein Sicherstellungsauftrag besteht“. Weil sich Gradl mit der momentanen Situation nicht zufrieden gibt, ist er in Beratungen mit den zuständigen Behörden und Institutionen, wie Regierung, Stadt oder Kassenärztlicher Vereinigung (KV) eingestiegen: „Wir müssen unbedingt eine Lösung finden, denn der Doktor, der hierherkommt, hat keinen Abrechnungsschein, die GKV-Rezepte sind nicht gültig und zudem steht er in seinem Einsatzgebiet während dieser Zeit nicht zur Verfügung. Wer haftet für sein Fehlen, wer veranlasst die personelle Aufstockung?“. „Rechtssicherheit ist gegeben – Haftungsfragen sind geklärt“, sagt Günther. Für Gradl gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: „Entweder die Behörden schließen mit der KV einen Sicherstellungsauftrag für die AE ab oder wir gründen einen Verein, der sich gegenüber dem Kostenträger verpflichtet, eine Bereitschaft für die sprechstundenfreie Zeit zu übernehmen“. Gradl wünscht sich eine Art „Karte“. In anderen Bundesländern gebe es bereits Überlegungen, eine Gesundheitskarte für Asylbewerber einzuführen.  


Betreiben absolute Basismedizin – Dr. (Univ. Fasa) Mohamadmehdi Tadayon und Dr. Gerhard Gradl (v. li.).


Sprechstundenfreie Zeiten

Die zehnjährige Indira aus Mazedonien stellt sich, in Begleitung ihrer Mutter und einer Bekannten, die gebrochen Deutsch spricht, in der Sprechstunde vor. Husten ist das Problem. Die Mutter gibt an, dass Indira herzkrank sei. Genaueres über die Art der Vorerkrankung oder ihre Medikation ist nicht herauszubekommen. Ein paar Gummibären vom Doktor lösen die Scheu des Mädchens, wenigstens das. „Immer wieder“, so Gradl, „zeigen sich die Grenzen der Akutpraxis und ein gewisses Organisationsversagen der Behörden. Eigentlich sollte ich hier gar nicht sitzen. Man verlässt sich auf uns Freiwillige, was kein Dauerzustand sein kann“. Derzeit engagieren sich die Ärzte komplett auf freiwilliger Basis, weil das zumindest haftungsrechtlich unproblematisch sei. Honorarärzte benötigten hingegen eine Berufshaftpflichtversicherung, sofern sie nicht niedergelassen sind. Im Gespräch mit der Stadt geht es derzeit deshalb auch um eine kleine Aufwandsentschädigung für die freiwilligen Ärzte. Doch Gradls Anliegen ist nicht das Honorar, will er doch grundsätzlich Haftungs-,  Abrechnungs- und Versorgungsfragen geklärt wissen. Mit Blick auf die auch in Zukunft zu erwartenden Flüchtlingsströme nach Bayern schüttelt der Arzt den Kopf und ist überzeugt, dass „unser Staat hier dringend etwas mehr unternehmen muss“. Er selbst ist von seinem Engagement – genau wie seine Kollegen – fest überzeugt. „Früher“, sagt er freundlich, „habe ich Auslandseinsätze in ferne Länder unternommen – heute fahre ich in die Tillystraße“. Ihm selbst gebe diese ehrenamtliche Arbeit enorm viel zurück. Die Arbeit mit den Flüchtlingen verändere seinen Blick auf so manches Problem und vor allem auf unsere Gesellschaft und unser Gesundheitswesen – nicht aber auf seine Patientinnen und Patienten. Deren Bedürfnisse nimmt er immer ernst, egal ob sie aus Nürnberg oder etwa aus Priština stammen.

Spendenkonto der „Refudocs“:
Kreissparkasse München
IBAN: DE 17 7025 0150 0027 8797 74
BIC: BYLADEM1KMS

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