„Navigare necesse est, ...“

Corona-Pandemie und "Economic Shutdown"

Corona-Pandemie und „Economic Shutdown“ – wie in einem fernen Spiegel

Mit der Diskussion um das geeignete seuchenstrategische Vorgehen und die Inkaufnahme immenser wirtschaftlicher Kollateralschäden erinnert die aktuelle Pandemie an die globale Eskalation der Cholera, die im 19. Jahrhundert ebenfalls eine „gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite“ darstellte. Als erste weltweite Seuche erfasste die indische Brechruhr die moderne Industriegesellschaft und stellte Handel und wirtschaftliche Vernetzung in Frage. Die damals durch die Cholera-Pandemie ausgelöste wirtschaftliche Debatte ist eine Blaupause für die aktuelle Diskussion um den wirtschaftlichen „Lockdown“. 

Auf den Punkt gebracht hat die von gefährlichen Menschheitsplagen seit alters wiederholt ausgelöste Kontroverse bereits der antike Schriftsteller Plutarch in der bekannten Sentenz, die er dem römischen Feldherrn Gnaeus Pompeius Magnus in den Mund legte: „Navigare necesse est, vivere non est necesse.“ Frei übersetzt als wirtschaftliches Statement: „Verkehr und Handel sind lebensnotwendig, Überleben nicht.“ Diesen Satz machte sich auch der Münchner Hygieniker Max von Pettenkofer (1818–1901) zu eigen, als es galt, auf die von der Cholera verursachte komplexe Krise zu reagieren.

 


Abb. 1: Max von Pettenkofer in seinen besten Jahren. Undatierte Fotografie von Franz Hanfstaengl.

„Contact tracing“ und Choleraflucht

Ausgehend von Indien griff die Cholera im 19. Jahrhundert in mehreren Pandemiewellen auf das weit entfernte Europa und die USA über. Inkognito reiste die Infektionskrankheit auf den üblichen Seuchen-Highways und erfasste 1836 erstmals auch Bayern und München. Mit einer Letalität von fast 50 Prozent sorgte die reale Seuche für eine vorauseilende Angstepidemie. Medizinisch war nichts unter Kontrolle; vergebens suchten Ärzte und Laien nach einem Wundermittel. Bis zur Entdeckung des Choleraerregers durch Robert Koch (1843–1910) im Jahre 1883 tappten die Ärzte auch über den Auslöser der hochansteckenden Seuche ziemlich im Dunkeln.

Die anfängliche Strategie, die Infektionskette aller Cholerafälle systematisch zu verfolgen und zu unterbrechen, scheiterte schnell an der Eskalation der Seuche. Bei dem Versuch, ihre Haut zu retten, suchten viele Städter ihr Heil in der Flucht aufs Land. Zu einer der größten Massenfluchten kam es während der Cholera 1865 in Beirut. Dreiviertel der Bevölkerung, geschätzte 45.000 Menschen, flüchteten in das als sicher eingeschätzte Gebirge. Mit verheerenden Folgen für Stadt und Zivilisation, die verlassenen Behausungen wurden im großen Stil geplündert.

Abschottung als natürlicher Abwehrreflex

Wie zu Zeiten der Pest die Städte ihre Tore verriegelten, versuchten die modernen Flächenstaaten nun, die Cholera an ihren Grenzen abzufangen. Mit militärisch gesicherten Grenzsperren und unter Androhung drakonischer Strafen wollte man die Einschleppung der Seuche verhindern. Dabei überstiegen die Kosten solcher militärischer Schutzschirme die finanziellen Möglichkeiten der meisten Länder. Und wie die COVID-19-Pandemie heute, so prallte auch die Cholera nicht an den Verteidigungslinien einzelner Länder ab. Stattdessen führten Grenzschließung und Unterbindung von Verkehr und Warenströmen zum Stillstand der Wirtschaft und zum ökonomischen Kollaps ganzer Regionen. Ohne die Seuche zu verharmlosen, schien manchen die von der Obrigkeit verordnete Prävention mit ihren hohen wirtschaftlichen Folgekosten schlimmer als die Cholera selbst.
 
Auch nachdem der lange unsichtbare Feind endlich entdeckt und die Medizin den Wettlauf mit den Mikroben aufgenommen hatte, hielt die Debatte darüber an, ob man Verkehr und Wirtschaft blockieren solle. Als Österreich während des Choleraausbruchs in Hamburg 1892 die Handelsbeziehungen zum Deutschen Reich einschränkte, klagten Handel und Industrie beidseits der Grenzen über die wirtschaftliche Abwärtsspirale. Die österreichische Zuckerindustrie protestierte heftig gegen die Einfuhrbeschränkung von Zuckerrüben und Gemüse. Und rasche Staatshilfen in ähnlichen Größenordnungen wie heute waren damals nicht zu erhalten.


Abb. 2: Voller Marienplatz, wie bei der Corona-Demo am 9. Mai 2020: Nachdem die Cholera in München am 30. September 1854 amtlich für erloschen erklärt wurde, wurde bereits drei Tage später auf dem Marienplatz ein Dankgottesdienst abgehalten. Doch kamen noch bis in das Frühjahr 1855 Erkrankungs- und Todesfälle vor. Als prominentestes Opfer erlag die Königinmutter Therese Ende Oktober 1854 der Seuche.

Alternatives Meinungslager

So herrschte unter Experten denn auch keineswegs Einigkeit über die Frage, wie einer entfesselten Infektionskrankheit am besten Einhalt zu gebieten sei. Ein liberales Meinungslager, als deren wichtigster Vertreter Max von Pettenkofer hervortrat, hielt einen ökonomischen Shutdown beim Ausbruch einer Seuche für ziemlich unvernünftig. Um Seuchen und auch endemische Infektionskrankheiten einzudämmen, setzte ­Pettenkofer bekanntlich auf Hygiene und warb für eine solide Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung. Um teure Wirtschaftskrisen als Folge der Seuchenabwehr zu vermeiden, ­plädierte er gleichzeitig eindringlich für den freien Verkehr und eine liberale Industriegesellschaft mit offenen Grenzen, auch in gefährlichen Zeiten. In seinen Schriften zur Cholera erhob Pettenkofer 1865 Handel und Verkehr in den Rang der „bedeutendsten“ Einrichtungen der Menschheit, die es mit aller Kraft und – wie er sich ausdrückte – allem Mute zu schützen gelte, auch wenn die Cholera als „Feind“ an der „Grenze eines Landes“ erscheine und Reiseverkehr und Warenaustausch in den Augen vieler zu einer riskanten, ja „lebensgefährlichen Sache“ mache. „Der freie Verkehr auf der Erde“, so Pettenkofer, sei „ein so großes allgemeines Gut, dass man ihm mit viel mehr Recht Menschenleben opfern kann, als manchen anderen menschlichen Zwecken“ oder gewaltsamen Konflikten, die „zur Verheerung ganzer Länder führten“. Handel und Verkehr, so Pettenkofer, seien die Quelle des Wohlstands und sichern die ökonomische Basis unserer modernen Zivilisation, und als solche gebühre ihnen absolut Vorrang.

Mit einem Appell an den Gemeinsinn beschwor Pettenkofer den Einzelnen, nie sein eigenes vergängliches Leben „als das höchste Gut“ anzusehen und ungeachtet der Gefahren für sein individuelles Leben das allgemeine Wohl zu fördern. „Nie“, so schob Pettenkofer nach, dürfe „der Verlust von Menschenleben als das größte Übel betrachtet werden. Es gibt ein Ziel, das größer ist als wir selbst.“


Abb. 3: Verzicht: Massenveranstaltungen wie Volksfeste wurden abgesagt, zum Beispiel die Augsburger Michaelidult 1854 oder auch das Oktoberfest 1854 und 1873.

Der Feind an der Grenze

Pettenkofers Worte erinnern an die Alternativen, vor denen wir auch derzeit in der Begegnung mit dem Coronavirus stehen. Bedarf es eines Schockzustands der Wirtschaft, um das Virus einzufangen oder besteht eine Möglichkeit, für sein Überleben – und das schließt die verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft mit ein – nicht so hoch zu bezahlen? Auch heute vergleichen Politiker in Feldherrnpose die Corona-Pandemie gerne mit einem Feind, der an der Grenze eines Landes auftaucht und den Verkehr zu einer lebensgefährlichen Sache macht. Stelle man allen Verkehr ein und rühre sich keiner mehr vom Fleck, so resümierte Pettenkofer schon vor 150 Jahren, schenke uns der Feind wohl das Leben, der dafür zu zahlende Tribut aber werde wirtschaftlich unvorstellbar und unerschwinglich. Füge man sich nicht, so verlieren manche von der Seuche Befallene ihr Leben, aber der „Feind vermag das Land nicht zu schädigen und in Knechtschaft zu bringen“.

Die Formulierungen des schon von seinen Zeitgenossen als „Wohltäter der Menschheit“ gefeierten Max von Pettenkofer klingen provokativ. Manchen mag ein solch starkes Manifest für den ungehinderten Waren- und Personenverkehr in riskanten Zeiten gar als zynisch erscheinen. Aber auch in unserer an Wohlstandsgewinn gewöhnten Gesellschaft werden die Stimmen vernehmbarer, die sich fragen, ob es in Pandemiezeiten wirklich die schlauere Lösung ist, ganze Volkswirtschaften aufs Spiel zu setzen?

Autor
Professor Dr. Wolfgang G. Locher, M. A.

Arzt und Medizinhistoriker,
Institut für Ethik, Geschichte
und Theorie der Medizin,
Ludwig-Maximilians-Universität München

 

 

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