Die aktuelle S2e-Leitlinie zum Hallux valgus

Hallux valgus

Die Bezeichnung Hallux valgus wurde von Karl Hueter im Jahre 1870 eingeführt. Er beschrieb dabei die Achsabweichung der Großzehe im Großzehengrundgelenk. Das aktuelle Verständnis zum Hallux valgus beinhaltet sowohl subluxierte als auch nicht subluxierte Fehlstellungen mit Achsabweichung der Großzehe nach fibular – valgus – und des ersten Metatarsaleknochens nach tibial – varus (Abbildungen 1, 2, 3).

Der Hallux valgus stellt die häufigste Pathologie des Vorfußes dar. Die Prävalenz im Erwachsenenalter wird mit bis zu 23 Prozent angegeben. Das bilaterale Auftreten eines Hallux valgus wird mit bis zu 84 Prozent der Patienten angegeben. Das zeitliche Auftreten des Hallux valgus ist in der Literatur unterschiedlich dargestellt. Einige Autoren berichten in Langzeit-beobachtungen, dass die Hallux-valgus-Deformität in der Regel zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr beginnt. Abzugrenzen hiervon ist der juvenile Hallux valgus, der sich meist um das zehnte Lebensjahr entwickelt. Der Schweregrad des erworbenen Hallux valgus zeigt jedoch in den vorliegenden Studien keine Korrelation zum Zeitpunkt des ersten Auftretens. Die geschlechterspezifische Verteilung zeigt mit 15:1 ein mehrheitliches Auftreten bei Patientinnen.

In der medizinischen Literatur und auch in den Online-Medien sind unterschiedliche therapeutische Maßnahmen beschrieben, hierbei bestehen sowohl hinsichtlich der konservativen als auch der operativen Möglichkeiten teilweise differente Herangehensweisen.

Methodisches Vorgehen bei der Erstellung der Leitlinie

Ziel der Leitlinie ist die Optimierung der medizinischen Versorgung durch Vermittlung von aktuellem Wissen, evidenz- und konsensbasierter Diagnostik und Therapieempfehlungen, um die Morbidität zu senken und eine Erhöhung der Lebensqualität zu erreichen. Die Stufenklassifikation nach dem AWMF-Regelwerk ist in der Tabelle 1 dargestellt.

Die Leitlinie zum Thema „Hallux valgus“ (Registernummer 033-018) wurde im Juli 2009 unter Federführung der Leitlinienkommission der Deutschen Assoziation für Fuß- und Sprunggelenk (D.A.F.) als S1-Leitlinie erstellt. Die Weiterentwicklung zur S2e-Leitlinie erfolgte um ein hohes Evidenzniveau für die Handlungsempfehlungen zu erreichen. Die Bezeichnung S2e steht dabei für eine evidenzbasierte Leitlinienformulierung. Die systematische Recherche, Auswahl und Bewertung wissenschaftlicher Belege (Evidenz) zu den relevanten klinischen Fragestellungen ist hierfür erforderlich. Die Literaturrecherche beinhaltet sowohl bereits vorhandene Leitlinien zu dem Thema als auch die Suche in den bekannten wissenschaftlichen Publikationsverzeichnissen. Die Ergebnisse der systematischen Recherche wurden hinsichtlich ihrer Evidenz bewertet und in einer Evidenztabelle zusammengefasst. Die einzelnen bewerteten Literaturstellen finden sich im Literaturreport der Leitlinie (www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/033-018.html). Die festgestellte Aussagestärke der jeweiligen Literatur (Evidenzgrad) diente zur Beantwortung der klinisch relevanten Fragestellungen. Bei Fragestellungen ohne Vorliegen einer ausreichenden Studienlage, basieren die Empfehlungen auf der Expertenmeinung der Leitlinien-Kommission der D.A.F. Die Empfehlungen betreffen die Prävention, die ambulante und auch die stationäre Diagnostik, Therapie und Nachbehandlung.

Ätiologie

Die familiäre Disposition ist beim erworbenen Hallux valgus der einflussreichste ätiologische Faktor. Redressierende äußere Faktoren, wie zum Beispiel enges Schuhwerk, können ebenfalls zu einem Hallux valgus bzw. beim Vorliegen einer Prädisposition zu einer frühen und schweren Fehlstellung führen. Fragen zur Progression der Fehlstellung können orientierend anhand der Familienanamnese und des bestehenden Schuhwerks beantwortet werden.

In der Anamnese liegen bei den Patienten häufig Schuhprobleme mit teilweise symptomatischen Druckstellen vor. In Abhängigkeit vom Schweregrad können Ulzerationen stattgefunden haben. Weitere Orientierungskriterien sind vorhandene Belastungsschmerzen, Ruheschmerzen oder Funktionseinschränkungen. Allgemeine Anamnesekriterien, die einen Einfluss auf therapeutische Entscheidungen haben, sind unter anderem: Diabetes mellitus, Gefäßerkrankungen, Fußpilzerkrankungen, neurogene Erkrankungen oder Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises. Die postoperative mögliche Belastungsanpassung ist ebenfalls Teil der Anamneseerhebung und fließt in die Therapieentscheidung mit ein.

Die Empfehlung zu therapeutischen Maßnahmen besteht, wenn eine Fehlstellung auch von einer Beschwerdesymptomatik begleitet wird.

Diagnostik

Diagnostisch stellt die Inspektion des Fußes und der gesamten unteren Extremität einen wesentlichen Bestandteil der Untersuchung dar. Die trophischen Hautveränderungen, welche in der Regel medial am Metatarsale-I-Kopf liegen, geben einen ersten Eindruck von Druckproblemen. Fehlstellungen der benachbarten Zehenstrahlen können durch die verdrängende Wirkung des Hallux valgus entstehen (Abbildungen 1a, 2a, 3a). Überlastungsprobleme oder sich eingestellte Fehlstellungen (Krallenzehen oder Hammerzehen) der Nachbarstrahlen sind zu erfassen und gegebenenfalls therapeutisch zu adressieren. Bestehende Hilfsmittel (Einlagen, Schuhzurichtungen, orthopädisches Maßschuhwerk) sollten hinsichtlich ihrer therapeutischen Wertigkeit beurteilt werden.

Die apparative Diagnostik des Hallux valgus beinhaltet das native Röntgen des Fußes (Abbildungen 1b, 2b, 3b) im Stand (unter Belastung). Hierbei sollten mindestens der Vor- und Mittelfuß dargestellt werden. Wünschenswert wäre die radiologische Erfassung des gesamten Fußes.

Die Belastungsaufnahme ermöglicht die Bestimmung der spezifischen Winkel, die die therapeutische Entscheidung beeinflussen. Der Intermetatarsale-Winkel I/II (IM-I/II-Winkel) stellt den Eröffnungswinkel zwischen dem Metatarsale-I-Knochen und Metatarsale-II-Knochen dar. Der Hallux-valgus-Winkel (HV-Winkel) wird zwischen dem Grundglied DI und dem Metatarsale-I-Knochen gebildet. Die Einteilung des Hallux valgus in Schweregrade basiert auf diesen ermittelten Winkelwerten. In Abbildung 4 wird die von der Leitlinienkommission der D.A.F. empfohlene Einteilung dargestellt.

Additive Röntgenaufnahmen können je nach klinischem Befund in Form von Schrägprojektion oder tangentialen Sesambeinaufnahmen durchgeführt werden. Ergänzend können Ganzbeinaufnahmen oder die spezifische Rückfußaufnahme nach Saltzman durchgeführt werden. Die Pedografie und auch die Podografie sind weitere nützliche apparative Maßnahmen, die die dynamische und die statische Belastungssituation des Fußes dokumentieren.

Empfehlung: Zur radiologischen Diagnostik und präoperativen Planung des Hallux valgus sollte das native Röntgen (a-p und lateral) des Fußes im Stand (unter Belastung) durchgeführt werden.

Therapie

Die Therapieziele sind die Schmerzreduktion, die Korrektur der Fehlstellung und der Funktionsgewinn für den Patienten.

Die konservativen therapeutischen Maßnahmen beinhalten die Beratung über Anpassung der Belastung und der Schuhversorgung. Bei der empfohlenen Schuhversorgung sind unter anderem folgende Kriterien zu beachten: weiches Oberleder, ausreichend große Zehenbox und gegebenenfalls additive Einlagenversorgung und Schuhzurichtungen. Bei der Einlagenversorgung wird in der Regel eine retrokapitale Abstützung der Metatarsalknochen eingearbeitet. Die Ballenrolle ist bei Vorliegen einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung des Großzehengrundgelenks oder Metatarsalgien als Schuhzurichtung zu empfehlen. Orthesen zur Redression des Hallux valgus sind beim Vorliegen eines Hallux valgus zur Schmerzreduktion möglich. Sie zeigen jedoch keine signifikante Verbesserung der Hallux-valgus-Fehlstellung.

Krankengymnastische Übungstherapien und auch manuelle therapeutische Maßnahmen können sowohl als isolierte konservative Maßnahme als auch additiv nach operativen Maßnahmen durchgeführt werden.

Die Literaturübersicht zeigt, dass beim Vorliegen eines symptomatischen Hallux valgus die operative Therapie der isolierten Einlagenversorgung bzw. abwartenden Therapie ohne Einlagenversorgung hinsichtlich der Schmerzreduktion überlegen ist.

Die S2e-Leitlinie Hallux valgus empfiehlt aufgrund der vorliegenden Literatur beim Vorliegen eines symptomatischen Hallux valgus die operative Therapie.

Die Indikationskriterien zur Therapieentscheidung sollten sich am Vorliegen eines Leidensdrucks des Patienten orientieren. Der Leidensdruck oder die Einschränkung der Lebensqualität können sich unter anderem durch Schmerzen, Schuhprobleme, rezidivierende Ulzerationen über der Pseudoexostose oder Funktionseinschränkungen im Bereich des Vorfußes darstellen. Die operative Therapie beinhaltet die Adressierung der knöchernen Fehlstellung und der periartikulären Weichteilstrukturen.

Grundsätzlich können die operativen Maßnahmen in gelenkerhaltende oder gelenkresezierende Operationen unterteilt werden. Als gelenkerhaltende Operationen gelten die isolierte Pseudoexostosenabtragung und die Korrektur-osteotomie jeweils mit zusätzlichem Weichteil-eingriff. Korrekturosteotomien können isoliert oder in Kombination am Metatarsale-I-Knochen, am Grundglied DI oder am Os cuneiforme mediale durchgeführt werden. Die gelenkresezierenden Operationsmethoden beinhalten die Resektionsarthroplastik nach Keller-Brandes, die Arthrodese des Großzehengrundgelenks oder die Arthrodese des Tarso-Metatarsale 1-Gelenks (TMT-I-Gelenk).

Ziel ist sowohl die Korrektur des IM-I/II-Winkels als auch Korrektur des HV-Winkels. Bei der operativen Therapie ist auch die Korrektur des distalen metatarsalen Gelenkflächenwinkels (DMAA) zu beachten. Abbildung 4 stellt die einzelnen Schweregrade des Hallux valgus mit den jeweils empfohlenen Korrekturtechniken dar, die auch kombiniert werden können. Die schematische Darstellung des Hallux valgus in Abbildung 5 stellt die typischen Lokalisationen der Korrekturosteotomien dar.

Die Indikation zu gelenkresezierenden Eingriffen im Sinne einer Arthrodese oder Resektionsarthroplastik nach Keller-Brandes sollte in Abhängigkeit von einer vorliegenden Arthrose und/oder biologischen Faktoren gestellt werden. Im Falle einer Resektionsarthroplastik sollte präoperativ eine ausführliche Aufklärung des Patienten über mögliche Folgeprobleme wie Kraftabschwächung im Großzehengrundgelenk, Transfermetatarsalgie und/oder Rezidiventstehung erfolgen.

Die postoperative Nachbehandlung orientiert sich am durchgeführten operativen Verfahren. In Abhängigkeit von der intraoperativ erreichten Stabilität kann eine Voll- oder Teilbelastung postoperativ erfolgen. Diese kann sowohl im Verbandsschuh als auch mit Orthese bzw. Gipsschuh erfolgen.

Postoperativ redressierende Verbände sind grundsätzlich empfohlen. Die Thromboseprophylaxe sollte sich an den bestehenden AWMF-Leitlinien zur Prophylaxe der venösen Thromboembolie (VTE), Registernummer: 003/001 orientieren. Additive postoperative Maßnahmen, die zur Abschwellung dienen, sind grundsätzlich zu empfehlen und orientieren sich am klinischen Befund. Die postoperative Beübung des Großzehengrundgelenks wird bei gelenkerhaltenden Therapiemaßnahmen als ein wichtiger Bestandteil bewertet.

Zusammenfassung

Der Hallux valgus ist unbehandelt meist als progrediente Deformität anzusehen, die jedoch nicht zwangsläufig zu Schmerzen und starkem Leidensdruck führt. Zur Prävention dient primär fußgerechtes Schuhwerk, um mögliche Druckstellen zu vermeiden und auch eine forcierte Progredienz der Pathologie nicht zu unterstützen. Sekundär können Fußgymnastik, Orthesenversorgung und auch Einlagenversorgung stattfinden. Die tertiäre Prävention ist die konsequente postoperative Nachbehandlung, welche sich an der operativen Therapie orientiert.

Die Orientierungskriterien zur Therapieeinleitung beim Hallux valgus sind der Leidensdruck des Patienten, Alter und eine eventuell vorliegende Arthrose im Großzehengrundgelenk. In der ambulanten ersten Stufe stehen Beratung und Physiotherapie im Vordergrund, gegebenenfalls additiv analgetische oder antiphlogistische Therapiemaßnahmen. Orthesen bzw. manuelle Therapie und auch orthopädietechnische Maßnahmen sind im Verhältnis zur bestehenden Pathologie anzuwenden.

In der Stufe 2 der ambulanten bzw. stationären Maßnahmen ist beim symptomatischen Hallux valgus die operative Therapie indiziert. Die therapeutischen Maßnahmen sollten sich am Schweregrad der Pathologie und den postoperativen Mobilisationsmöglichkeiten des Patienten orientieren.

Die einzelnen Literaturstellen finden sich im Literaturreport der Leitlinie mit zusätzlicher Bewertung des Evidenzlevels (www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/033-018.html).

Der Autor erklärt, dass er keine finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten hat, deren Interessen vom Manuskript positiv oder negativ betroffen sein könnten.

Privatdozent Dr. Hazibullah Waizy

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