Rettet die Medizin!

Rettet die Medizin!

Die aus der Industrieproduktion übernommene Fixierung auf Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Margenerhöhung hat zu zahlreichen Fehlentwicklungen geführt und die Medizin ihrer eigentlichen Inhalte beraubt. Darunter leiden Patienten, Ärzteschaft, Pflege und Gesellschaft gleichermaßen. Doch wir Ärzte können das ändern.

Effizienz ohne Sinninhalte ist sinnlos

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich der Charakter der Medizin und die Rolle des Arztes in allen Industrieländern fundamental verändert: Waren Ärzte bisher nur ihrem Gewissen und ihren Patienten verpflichtete interdisziplinäre Denker und Entscheider, so verloren sie im Laufe der vergangenen Jahrzehnte schrittweise ihre Entscheidungsbefugnisse darüber, wie sie ihren Beruf ausüben. Der Grund liegt in einer unkritisch vollzogenen Ökonomisierung der Medizin. Sie mündete in einem dem Gesundheitswesen ohne zentrale Beteiligung der Ärzteschaft übergestülpten Managementsystem, das sich an der Industrieproduktion, nicht an der Realität in den Krankenhäusern und Arztpraxen orientiert. Als Folge sind Ärzte heute zu einem großen Teil zu weisungsgebundenen, hochspezialisierten Fließbandarbeiterinnen und -arbeitern innerhalb eines hochkomplexen industrieähnlichen Apparates geworden, in dem ökonomische Argumente oft schwerer wiegen als medizinische. Dieser Kontrollverlust und die Industrialisierung ihrer Tätigkeit gibt immer mehr Ärzten das Gefühl, des Sinnes ihrer Arbeit beraubt zu sein.

Treiber dieser Entwicklung sind neue gesundheitspolitische und wirtschaftliche Weichenstellungen und Strukturen, die Ausrichtung am Wettbewerb und an Gewinnoptimierungszielen sowie der technologische und medizinische Fortschritt. Angesichts begrenzter Budgets bei gleichzeitig ständig steigenden Kosten einer sich immer schneller weiterentwickelnden und verfeinernden technologischen Medizin und ihren kostenintensiven Geräten wurde der Ruf seitens der Kassen und der Politik nach einem professionellen Management der Medizin immer lauter. Da wir Ärzte die Reichweite dieser Aufgabe verkannt und uns in der Folge in diesem Bereich auch kaum eingebracht haben, wurde und wird das Management zumindest von Krankenhäusern und Privatkliniken primär Führungskräften aus der Industrie übertragen, die sich entsprechend an der Organisation und den Rationalierungs- und Effizienzsteigerungsmodellen der Industrie orientieren.


Der Arzt als zentraler Vermittler: Die Aufgabe des Arztes als Dreh- und Angelpunkt der Medizin besteht einerseits in seiner Funktion als Orientierung gebender Vermittler zwischen Patient und Gesundheitssystem, andererseits darin, gemeinsam mit anderen eine positive Veränderung des Medizin- und Gesundheitsbetriebes anzustreben (vom Patientenarzt auch zum Systemarzt zu werden).

 Ärzte brauchen neben medizinischen Kenntnissen auch Führungswissen

Angesichts dieses weltweiten Defizits sind erste Krankenhäuser selbst aktiv geworden, um Abhilfe zu schaffen. So bietet die Cleveland Clinic maßgeschneiderte und praxisnahe Physician-Leadership-Development-Programme an, um künftige Ärzte für Führungsaufgaben in Management und Organisation zu qualifizieren. Sicher, jedes Krankenhaus hat seine spezifischen Bedürfnisse und Notwendigkeiten, daher gibt es auch keine Patentrezepte für die Qualifikation von Ärzten für Führungsaufgaben, die sich auf alle Krankenhäuser anwenden lassen. Aber es gibt grundsätzliche Marschrouten und zentrale Bausteine für das Anstoßen von Veränderungsprozessen zunächst in Krankenhäusern und Privatkliniken, die sich dann in Form konzentrischer Kreise nach und nach auf das gesamte Gesundheitswesen ausbreiten. In meinem Buch Rettet die Medizin! Wie Ärzte das Ruder wieder selbst in die Hand nehmen können habe ich versucht, diese leicht verständlich und auf die ärztliche Alltagspraxis bezogen zusammenzufassen. Ziel dabei ist, Ärzte zu einer aktiven, führenden Teilhabe an den Veränderungsprozessen innerhalb der Medizin zu befähigen.

Der perfekte Sturm

Der aus der Meteorologie stammende Begriff bezeichnet ein Zusammenwirken von wenigen hochwirksamen Kräften, die Katastrophen auslösen. Dies lässt sich auch auf das Gesundheitssystem übertragen. Während der vergangenen vier Jahrzehnte hat hier ein perfekter Sturm in Form der einseitigen Ökonomisierung und Industrialisierung der Medizin gewütet und ungewollt eine kontinuierliche Negativspirale in der Medizin und in der Folge im gesamten Gesundheitssystem ausgelöst. Die Ironie dabei besteht darin, dass die Rationalisierungs- und Effizienzsteigerungsparadigmen in ihrer rigiden Form, die alle weichen, zahlenmäßig nicht unmittelbar erfassbaren Faktoren negiert, in der Industrie selbst längst überwunden und erheblich differenziert und erweitert wurden. Daraus sollten wir lernen. Doch ausgerechnet in der Medizin, wo weiche Faktoren wie Empathie, Atmosphäre, Zuwendung oder Vertrauen eine ganz entscheidende Rolle spielen, sollen die veralteten Prinzipien mit Gewalt durchgesetzt werden. Das führt zu erheblichen Widerständen und Reibungsverlusten und bewirkt das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war: Statt eines ständig steigenden Effizienzgewinns entsteht ein massiver Effizienzverlust.

Doch es gibt keinen Grund zur Resignation. Denn das, was sich in der Medizin abspielt, ist kein Naturereignis und keineswegs ein für alle Mal festgeschrieben. Wir Ärzte können und müssen es ändern.

Tipping Point und die Medizinwunderfrage als Veränderungstreiber

Unter Tipping Point versteht man einen Umkipp- oder Wendepunkt – den Moment, in dem eine vorher lineare, eindeutige Entwicklung durch eine Reihe von Rückkopplungen entweder stark beschleunigt wird oder abbricht und in eine andere Richtung führt. Im Gesundheitswesen steuern wir fraglos auf solch einen Tipping Point zu, und es liegt an uns Ärzten, dafür zu sorgen, dass sich die Richtung ändert und sich die Medizin wieder ihrem Sinn- und Wesenskern zuwendet: der Verhinderung, Heilung und Linderung von Leiden.

Sie kennen vielleicht den amerikanischen Neuropsychologen Steve de Shazer, der die Idee der Wunderfrage für Probleme entwickelt hat, in denen noch kein Lösungsansatz sichtbar ist. Für uns Ärzte könnte die Wunderfrage lauten: „Wie würde mein Leben aussehen, wenn ich durch ein Wunder plötzlich zu dem Arzt werden würde, der ich ursprünglich einmal werden wollte?“ Durch die Beantwortung dieser Frage sehen Sie den Unterschied zwischen Wunsch und Realität. Arbeiten Sie diesen Unterschied deutlich heraus, und Sie haben eine erste Antwort auf die Frage, was Sie gemeinsam mit anderen tun können, um Ihre Realität Ihrem Wunsch anzunähern. Eine Gesprächsbasis bilden auch der Eid des Hippokrates und die Genfer Deklaration des Weltärztebundes. Letztere fordert von uns Ärzten, die ethisch begründete Überlieferung der Medizin zu verteidigen und weiterzutragen, also eine zentrale und proaktive Führungsrolle in der Medizin einzunehmen und ihren Sinnkern zu vertreten. Das bedeutet nicht, dass wir uns ökonomischen Rahmenbedingungen und Grenzen verweigern und sie negieren können, wohl aber, dass wir selbst darüber bestimmen müssen, wie wir das Vorhandene zum größtmöglichen Wohl der Patienten einsetzen.

Nicht nur Patientenarzt sein, sondern zugleich auch Systemarzt werden

Die Versuche, der Medizin fachfremd und praxisfern Veränderungen von außen zu verordnen, sind meinen Beobachtungen nach weitgehend gescheitert. Nur wir Ärzte verfügen über die erforderliche Fachkompetenz und Praxiserfahrung, um über eine sinnvolle Ressourcenverteilung und über zentrale Weichenstellungen zu entscheiden, denn nur wir können die komplexen Folgewirkungen für unsere Patienten und ihre Behandlung abschätzen. Entscheidend dabei ist, dass wir unsere Patientenfixierung aufgeben und uns zum Wohle unserer Patienten auch dem kränkelnden System zuwenden. Der Weg führt von einer Klärung unserer Ziele und dem Erwerb eines Führungsgrundwissens über die Entwicklung praxisnaher Veränderungskonzepte. Wenn uns das gelungen ist, sollten wir im Schulterschluss unsere Stimme erheben, um eine möglichst breite gesellschaftliche Unterstützungsbasis für die Umsetzung unserer Pläne zu gewinnen.

Zunächst könnte über eine anonymisierte, etwa von den Ärztekammern und anderen Interessensvertretern (zum Beispiel Fachgesellschaften) unterstützte interaktive Webumfrage ein vielschichtiges, ehrliches Stimmungsbild innerhalb der Ärzteschaft eingefangen werden. Ist der Kontakt hergestellt, werden die Ergebnisse mit allen Teilnehmern geteilt, um sie dann in einem zweiten Schritt zu motivieren, aus ihrer Passivität herauszukommen und zu einem Teil der Lösung zu werden. Hier könnten wir eine bewährte Beteiligungssoftware einsetzen, um in einem mehrstufigen Verfahren konkrete Verbesserungsmöglichkeiten aus der „Weisheit der Vielen“ zu generieren. In ähnlich komplexen Projekten haben diese einfachen und modernen Formen der Partizipation zu erstaunlichen Ergebnissen geführt.

Dann ließe sich eine Kommunikationsplattform zum Erfahrungs- und Ideenaustausch und zur konkreten Planung von Veränderungsprojekten für Ärzte einsetzen, die schrittweise auf andere Gruppen, vor allem Pflege, Management und Verwaltung, ausgeweitet werden sollte. Auf diese Weise ließe sich eine umfassende, sich von innen nach außen hin ausbreitende Welle erzeugen, die schließlich auch die Gesellschaft erfasst. Anregungen gibt etwa die auf dem National Health Service (NHS) Change Day 2013 von jungen, angehenden Ärzten, Führungskräften und Moderatoren des englischen NHS zur Verbesserung des bestehenden Gesundheitssystems ins Leben gerufene Graswurzelinitiative, die in kürzester Zeit eine gewaltige Schubkraft entwickelt hat. Sie belegt die Richtigkeit der Aussage von Seth Godin in seinem Buch Tribes: „Eine Gruppe benötigt nur zwei Dinge, um eine Bewegung zu bilden: ein gemeinsames Anliegen und einen Kommunikationsweg.“


Professor Dr. med. habil. Peter P. Pramstaller

 

 

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