Am Ende der Balkanroute

Dr. Rüttger Clasen mit seinem Team.

Die junge syrische Familie sitzt im provisorisch eingerichteten medizinischen Zentrum der Erstaufnahmeeinrichtung Freilassing in Oberbayern an der deutsch-österreichischen Grenze. Die vierjährige Lynn hat total verklebte Augen und weint. Die jungen Eltern, Rayla (23) und Husam (27) aus Aleppo waren acht Tage mit ihren beiden Kindern auf der Flucht. Nun sind sie glücklich, in Freilassing angekommen zu sein. „I‘m happy, we are in Germany“, strahlt der junge Vater und lächelt dabei seinen dreijährigen Sohn Mohamed an. Doch sie wollen weiter nach Paderborn, wo bereits seit einigen Jahren Verwandte leben. So überglücklich und aufgeschlossen sehen nicht alle aus. Viele Flüchtlinge scheinen gezeichnet von der Flucht. Die Kinder leiden am meisten unter den Strapazen. Es sind viele Kinder – mindestens ein Drittel der Flüchtlinge. „Vermutlich Conjunctivitis simplex acuta“, diagnostiziert Dr. Rüttger Clasen bei der kleinen Lynn. Er und sein Team aus Ärztinnen und Ärzten, Krankenschwestern, Medizinischen Fachangestellten und Helfern des Bayerischen Roten Kreuzes (BRK) und anderen Hilfsorganisationen leisten hier pragmatisch humanitäre Hilfe. Augentropfen und ein Stofftier – schon ist diese Erstversorgung erst einmal erfolgt.


Augentropfen verabreichen im provisorischen Behandlungszentrum.

BRK-Kreisverband Berchtesgaden

„Die Einrichtung ist in einem sehr großen zweigeschossigen, komplett ausgeräumten, ehemaligen Mode- und Schuhlagergebäude am Stadtrand von Freilassing untergebracht“, erklären Florian Halter, der Organisator der Flüchtlingshilfe im BRK-Kreisverband Berchtesgaden und sein BRK-Logistik-Chef Christian Bethke. Im oberen Stockwerk sind fast überall in durchgehenden Reihen rund 500 Feldbetten aufgestellt. Dort befindet sich auch das medizinische Zentrum, das bald feste Behandlungsräume mit Sanitäranlagen im gleichen Stockwerk beziehen wird. Vor Ort sind die Bundespolizei, ein privater Wachdienst, Bundeswehr, Caritas und verschiedene Hilfsorganisationen, wobei das BRK die Leitung übernommen hat. In der Aufnahmeeinrichtung herrscht eine strenge, von der Bundespolizei vorgegebene Ordnung. Die Bundeswehr sorgt für die Verpflegung und ist in den Sanitätsstationen mit dabei.

Saalachbrücke

Stündlich kommen etwa 50 Flüchtlinge über die deutsch-österreichische Grenze über die inzwischen durch die Medien bekannte Saalachbrücke, die Salzburg mit Freilassing verbindet. Von dort werden sie anschließend in die BRK-Einrichtung gebracht. Dazu kommen noch weitere Flüchtlinge, die von der Bundespolizei anderenorts aufgegriffen werden. Die medizinische Aufgabe hier in Freilassing lautet: Kurzscreening und Akutversorgung. Für eine erste kurze medizinische Untersuchung der Flüchtlinge haben die Helfer nur wenige Minuten pro Person zur Verfügung. Geachtet wird auf ansteckende Krankheiten, Hautausschläge, Verletzungen, Schmerzen und letztlich auf den Gesamteindruck. Im Wechsel sind tagsüber ehrenamtliche Sanitäter von unterschiedlichen Hilfsorganisationen, Arzthelferinnen oder Krankenschwestern, ebenfalls ehrenamtlich, sowie Sanitätssoldaten und bis 23 Uhr ein Arzt im Einsatz. Nachts sind Sanitäter von Hilfsorganisationen und Sanitätssoldaten vor Ort.


Nur wenige Minuten Zeit bleiben den Helfern für ein erstes Kurzscreening.

Weiterreise

„In unseren behelfsmäßigen ‚Behandlungsräumen‘ wird eigentlich ohne Pause durchgehend behandelt, wie in einer sehr gut gehenden Arztpraxis“, vergleicht Clasen die Situation. Er koordiniert die ärztliche Hilfe vor Ort. 30 bis 40 Ärztinnen und Ärzte leisten hier auf Honorarbasis ihren Dienst. Abgerechnet wird mit dem Landratsamt, das ebenso für den Tagesbedarf an Medikamenten aufkommt. „Keiner bekommt hier Medikamente von uns mit auf den Weiterweg“, erklärt der Internist. „Wir versorgen unsere Patientinnen und Patienten hier und jetzt, bevor sie weitergehen auf ihre Reise ins Bundesgebiet oder in andere Länder“. Täglich fahren zwei Sonderzüge mit Flüchtlingen von Freilassing Richtung Norden ab. Clasen schätzt, dass zwischen 1.000 und 1.500 Personen pro Tag untersucht werden. Es sind einmal mehr, einmal weniger. Clasen, Jahrgang 1948, macht das seit September.


Vor der Weiterreise können sich die Flüchtlinge auf Feldbetten erst mal ausruhen.

Schwere Krankheitsverläufe

Während er durch das Gebäude läuft, wird ein zweieinhalbjähriger Bub mit 41,5 Grad Fieber von seiner Mutter ins „Medizinzentrum“ gebracht. „Fieber senken und abwarten; falls eine stationäre Aufnahme notwendig ist, arbeiten wir sehr gut mit den umliegenden Krankenhäusern in Freilassing und Traunstein zusammen“, ergänzt er. Schwierig ist manchmal die Tatsache, dass die Flüchtlinge hier nur ein paar Stunden verbringen und dann wieder verschwunden sind. Gesehen haben Clasen und sein Team so einiges. Oft kommen Patienten mit schweren Krankheitsverläufen zu ihnen. Patienten mit einem entgleisten Diabetes, Dialysepflichtige, Querschnittsgelähmte, Tumorpatienten oder Patienten mit Blasenkatheter waren auch darunter. Meist handelt es sich jedoch um Erkältungen, Infekte, Wunden oder kleinere Verletzungen, die es zu behandeln gilt. „Kinder und auch Erwachsene tragen oft keine Socken, stecken barfuß in unpassenden Schuhen und haben wundgelaufene Füße“, ergänzt eine Krankenschwester, die normalerweise bei einem privaten Pflegedienst arbeitet.

Fingerabdrücke

Ungefähr die Hälfte der angekommenen Flüchtlinge stammt aus Syrien. Die anderen kommen aus Afghanistan, Irak, Iran und vereinzelt aus Somalia. Nie seien Flüchtlinge aus den Balkanstaaten darunter gewesen. Gleich nach der Ankunft müssen alle Flüchtlinge ihre Fingerabdrücke abgeben, bei Ausweisen und Papieren herrscht meist Fehlanzeige. „Es ist Spekulation, ob manche ihren Ausweis weggeworfen haben, oder ob, wie auch zu hören ist, ihnen die Papiere bereits in einem anderen Land oder von Schleppern abgenommen worden sind“, sagt ein Bundespolizist, der seinen Namen aber lieber nicht nennen will. „Sie erhalten alle eine Nummer, aber sie werden nicht als Nummern behandelt“, ergänzt er.


Dr. Rüttger Clasen mit seinem Team.

Tag und Nacht werden eins in dem mit hellem Neonlicht ausgeleuchteten Gebäude. Die Begegnungen mit den Flüchtlingen bewegen die Helfer sichtlich. Sie alle bestätigen, dass sie das nicht einfach so wegstecken. Das beschäftigt sie innerlich. Die Frage, die alle umtreibt ist: „Wie geht das weiter?“ Für Clasen ist es eine Selbstverständlichkeit, dass er sich als Arzt hier einbringt. „Wir Ärzte sind doch Multiplikatoren in unserer Gesellschaft. Der Arzt hat doch einen wichtigen Stellenwert und ist die Stimme der Patienten“, sagt er noch beim Verabschieden, bevor er wieder in das Gebäude am Ende der Balkanroute in Freilassing an der Saalachbrücke verschwindet.

 

 

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